Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter


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von ei­ner tro­ckenen Bor­ke be­deck­ten Lip­pen der Kran­ken blie­ben fest ge­schlos­sen, wie über ei­nem schwe­ren Ge­heim­nis.

      »Ist denn die Krä­mern gut zu Dir?«

      Wie­sing ent­zog Aga­the ihre Hand und wand­te den Kopf nach der Mau­er.

      Bei­de Mäd­chen schwie­gen.

      Drau­ßen schlürf­te ein Schritt, die Tür wur­de auf­ge­klinkt, die Krä­mern dräng­te sich has­tig her­ein, mit ihr das hin­ken­de Kind mit dem schmut­zi­gen Säug­ling.

      »Ne aber, das gnä­di­ge Lämm­chen ha­ben sich her­be­müht! Ne aber, Lui­se, so ’ne Ehre! Al­lens habe ich nu be­sorgt, en’ Sarg für das En­gel­chen, und der Herr Pas­tor will dazu be­ten – es liegt schon auf ’n Lei­chen­hau­se. – Hier, al­les is uf­ge­schrie­ben – kein Pfen­nig zu viel. Mor­gen soll Dein Klee­nes in die Erde kom­men. Ach – so ’n Elend. Ne, ich sage jo.«

      Sie schneuz­te sich in die blaue Schür­ze.

      Ein lei­ses Wim­mern drang von dem Stroh­sack her.

      »Soll ich Dir einen schö­nen Kranz brin­gen für Dein Kind­chen?« flüs­ter­te Aga­the sich zu dem kran­ken Mäd­chen nie­der­beu­gend.

      Wie­sing öff­ne­te die ge­schlos­se­nen Li­der. »Ach, Frö­len!«

      »Ja, mor­gen brin­ge ich ihn. Ver­lass Dich dar­auf.«

      Sie gab der Al­ten Geld zu Sup­pe und Wein.

      Auf dem Rück­we­ge hol­te sie Blu­men. Heim­lich in ih­rer Stu­be flocht sie den Kranz. Sie hat­te ein schwe­res, ge­mar­ter­tes Ge­wis­sen.

      Am Nach­mit­tag des fol­gen­den Ta­ges, als sie eben ge­hen woll­te, kam Be­such. Sie wur­de bis um fünf Uhr auf­ge­hal­ten und muss­te eine Men­ge Vor­wän­de su­chen, um nur fort­zu­kom­men.

      Ei­lig schritt sie durch die von ei­nem har­ten schar­fen Ost­wind durch­bla­se­nen Stra­ßen. Wie früh es schon dun­kel wur­de.

      Als sie an der Knei­pe im Erd­ge­schoss des Hau­ses vor­über woll­te, er­schie­nen ein paar Män­ner­köp­fe in der Tür. »Fräu­lein, kom­men Sie rein!« schrie man ihr zu.

      Atem­los lief sie die Trep­pen hin­auf. Oben nahm sie den Kranz aus der Ta­sche und leg­te ihn vor Wie­sing aufs Bett. Die Kran­ke sag­te nichts, lei­se tas­te­ten ihre Fin­ger über die bun­ten Blu­men. In den star­ren blas­sen Au­gen sam­mel­te sich ein feuch­ter Glanz, lang­sam lie­fen zwei Trop­fen über die grau­en Wan­gen.

      Die Krä­mern kam, so­bald sie Aga­the hör­te. Und gleich nach­her pol­ter­te auch das hin­ken­de Kind her­ein. Mit ei­nem al­ten, nei­di­schen La­chen stell­te es sich vor Aga­the hin und sag­te:

      »En sche­nen Gruß von die Her­ren un­ten, und das Frei­lein soll­te mal run­ter kom­men und Gän­se­bra­ten es­sen.«

      Aga­the ver­stand das Mäd­chen zu­erst gar nicht. Die Krä­mern muss­te das Aner­bie­ten er­klä­ren. »Ne Frei­lein, sag’ ich’s nich! Jede gute Tat bringt doch gleich ih­ren Lohn! Da­für, dass Sie die Lui­se be­su­chen, schenkt der lie­be Gott Ih­nen nu ooch gleich den Gän­se­bra­ten!«

      Aga­the stand er­starrt vor die­ser nai­ven Ge­mein­heit. Hier hat­te Wie­sing ge­lebt – die­se vier Jah­re hin­durch –.

      Wie soll­te sie un­ten an der schau­er­li­chen Tür vor­über­ge­lan­gen? Ihr Va­ter hat­te doch recht, ihr die Ar­men­be­su­che aus ei­ge­ne Hand zu ver­bie­ten. Furcht und Hoff­nungs­lo­sig­keit senk­te sich wie ein Ne­bel über ihr Den­ken.

      »Soll ich nicht an Dei­ne Mut­ter schrei­ben, dass sie Dich nach Haus holt?« frag­te sie un­schlüs­sig.

      Wie­sing schüt­tel­te ganz we­nig den Kopf. Sie be­gann zu hus­ten, ver­such­te ver­ge­bens, sich auf­zu­rich­ten, um Luft zu be­kom­men. Aga­the fass­te sie und hielt sie – so hat­te auch sie selbst ein­mal ge­röchelt und ge­run­gen … Was war al­les für sie ge­sche­hen!

      »Wie­sing – ich will Dir einen Dok­tor schi­cken …«

      O – der ent­setz­li­che Ge­ruch in der Kam­mer! Und die Eis­käl­te … Wie schmut­zig das Bett war.

      »Kein Dok­tor!« stam­mel­te die Kran­ke, und ihre Hän­de schlu­gen fie­be­risch un­ru­hig durch die Luft.

      Aga­the woll­te doch ih­ren Haus­arzt bit­ten, nach dem Mäd­chen zu se­hen.

      Die Krä­mern ver­such­te dienst­eif­rig, sie hin­un­ter­zu­be­glei­ten, aber Aga­the wies sie steif und hoch­mü­tig ab.

      Auf der Trep­pe fiel ihr der Mann mit dem Gän­se­bra­ten wie­der ein.

      Er stand war­tend an der Glas­tür und lach­te laut, als er sie sah. Aga­the wur­de schwin­de­lig vor Schre­cken.

      »Nicht so ei­lig!« brüll­te er und fass­te nach ih­rem Arm. Sie riss sich los und stürz­te auf die Stra­ße. Ein dröh­nen­des Ge­läch­ter scholl ihr nach. Sie lief mehr, als sie ging – nur fort – fort aus die­ser Ge­gend.

      Mit be­täu­ben­den Kopf­schmer­zen kam sie nach Haus.

      Meh­re­re Tage lang konn­te sie sich nicht ent­schlie­ßen, Wie­sing wie­der zu be­su­chen. Sie war krank und elend. Sie konn­te ihr ja auch nicht hel­fen. Mit ei­ner schau­er­li­chen Klar­heit zeig­te ihr die Gän­se­bra­ten-Ge­schich­te plötz­lich die Bil­der aus dem Le­ben der schmut­zi­gen Tie­fe, in die das un­glück­li­che Mäd­chen ge­stürzt war.

      Sie wag­te nicht mehr, ih­rem Haus­arzt Mit­tei­lung zu ma­chen – als habe sie nur al­lein Kennt­nis von der grau­si­gen Welt dort er­hal­ten und dür­fe nie­mand – nie­mand da­von sa­gen.

      Aber es ließ ihr kei­ne Ruhe. Sie muss­te das Mäd­chen aus der Um­ge­bung ret­ten – sie muss­te we­nigs­tens da­für sor­gen, dass sie zu es­sen be­kam. Ging sie des Mor­gens früh, so sa­ßen wohl auch kei­ne Män­ner in der Knei­pe, von de­nen sie be­läs­tigt wer­den konn­te.

      Dies­mal trat ihr aus der Tür, die der Woh­nung der Krä­mern ge­gen­über­lag, eine Frau ent­ge­gen. Sie sah sau­ber aus, wie eine or­dent­li­che Ar­bei­ter­frau, des­halb blieb Aga­the höf­lich ste­hen, als sie sie an­re­de­te.

      »Fräu­lein – wol­len Sie denn wie­der zu der da?« frag­te sie.

      »Ja. Ken­nen Sie Lui­se? Sie scheint mir sehr krank.«

      »Ges­tern ha­ben sie sie fort­ge­schafft.«

      »Fort –? Wo­hin?« frag­te Aga­the.

      »Na – ins Lei­chen­haus.«

      Aga­the schwieg be­stürzt.

      »Mein Mann sagt, das Fräu­lein weiß ge­wiss nicht, was das für eine war?«

      Aga­the seufz­te.

      »Ach, lie­be Frau, sie hat doch so viel Kum­mer ge­habt.«

      »Das will ich ja nich ge­sagt ha­ben – nu wenn die Krä­mern so ’n Mä­del in die Hän­de kriegt …«

      »Mei­nen Sie, dass die Krä­mern nicht gut zu ihr war?«

      »Die –? Das alte Vieh? Fräu­lein … die löf­fel­te Ih­nen die Sup­pe hier drau­ßen – na – und den Wein, den soff sie gleich un­ten in der De­stil­le. Ne – da­von hat das Mäd­chen nich’n Drop­pen ge­schluckt. Ja – wenn die rei­chen Leu­te man wüss­ten, wem sie ihr


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