Gabriele Reuter – Gesammelte Werke. Gabriele Reuter

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Gabriele Reuter – Gesammelte Werke - Gabriele Reuter


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er­fah­ren könn­te!

      VIII.

      Wäre Mama da­mals nicht so em­pört ge­we­sen und hät­te Wie­sing nicht so scho­nungs­los fort­ge­jagt – und sie selbst hat­te sich ja auch voll Ab­scheu von ihr ab­ge­wandt, – hät­te man sich um sie ge­küm­mert in ih­rer schwe­ren Stun­de und da­für ge­sorgt, dass das Kind zu or­dent­li­chen Leu­ten ge­tan wäre, und viel­leicht den Lohn des Mäd­chens er­höht, da­mit sie ein gu­tes Kost­geld für das Würm­chen zah­len konn­te – wäre sie dann in die Hän­de die­ser Krä­mern ge­fal­len und hät­te ihr jun­ges Le­ben so ge­en­det, mit dem stump­fen Blick auf die graue, schmut­zi­ge, zer­kratz­te, von hun­dert Na­men und wi­der­li­chen Bil­dern be­deck­te Wand?

      Aber das wäre un­mo­ra­lisch ge­we­sen, und dar­um durf­te es eben nicht ge­sche­hen.

      Frei­lich – furcht­bar leicht­sin­nig muss­te ein Mäd­chen schon sein, um sich so weit zu ver­ges­sen.

      Und wenn Lutz ge­wollt hät­te …?

      O mein Gott, warum wur­de das Un­recht, die fürch­ter­li­che Schan­de plötz­lich ein gu­tes Recht, nach­dem der Pas­tor ein paar Wor­te ge­spro­chen? Das war ein schau­er­li­ches Ge­heim­nis.

      Aga­the hat­te nun das Elend ge­se­hen – das töt­li­che Elend. Und die Po­li­zei hat­te auch da­bei zu tun ge­habt? Wer moch­te wis­sen, was für ab­scheu­li­che Din­ge sich da noch ver­bar­gen.

      Und das al­les hat­te die­ses klei­ne Mäd­chen, das mit ihr zu­sam­men am glei­chen Tage fröh­lich ins Le­ben hin­aus­ge­tre­ten war, in den paar Jah­ren, in de­nen sie sie aus den Au­gen ver­lo­ren, ge­se­hen, er­fah­ren, durch­lit­ten.

      Und sie und ihre Mut­ter wa­ren schul­dig. Ja – ja – ja – sie wa­ren schul­dig.

      Aber Mama wür­de das nie­mals ver­stan­den ha­ben. Aga­the ging zu ihr und sag­te ihr von Lui­sens Tode und von dem Lei­den, das sie um sie trug – und Mama blieb ganz ru­hig und kühl. »Ja – die­se Frau­en­zim­mer – sie tau­gen alle nichts – sie sind zu un­se­rer Qual er­schaf­fen«, war ihre Ant­wort.

      Wie kam es nur? Ihre Mut­ter war doch sonst eine gut­mü­ti­ge Frau? Wa­rum war sie in die­ser einen Be­zie­hung so ganz blind?

      Ein har­tes Ur­teil fiel ihr ein, das Mar­tin Gref­fin­ger ein­mal über die Frau­en der Bour­geoi­sie ge­fällt hat­te – über ihre ver­knö­cher­te Eng­her­zig­keit. Aber der war doch So­zi­al­de­mo­krat oder ir­gend so et­was Ähn­li­ches. Er durf­te nicht Recht be­hal­ten! Er durf­te nicht!

      Aga­the hat­te wahr­haf­tig kei­ne Ur­sa­che, be­stän­dig so ver­stimmt zu sein und ihr Los zu be­kla­gen. Das heißt: äu­ßer­lich merk­te man ihr ja die Ver­stim­mung noch nicht an – so viel Selbst­be­herr­schung hat­te sie denn, Gott sei Dank, doch noch. Sie hat­te es ja auch so gut im Ver­gleich mit dem ar­men Ge­schöpf. Und nun sah sie, wo­hin es führ­te, wenn man den Lie­bes-Ge­dan­ken Raum gab und sich nicht da­ge­gen wehr­te. Frei­lich, kein Mann wür­de es wa­gen, sie, Aga­the Heid­ling, Toch­ter des Re­gie­rungs­rats Heid­ling, in Ver­su­chung zu füh­ren – ach, lie­ber Him­mel, ge­gen sie wa­ren die Her­ren ja alle die vor­nehms­te An­stän­dig­keit – es war schon bei­na­he lang­wei­lig.

      Ja – aber – zeig­te das nicht er­schre­cken­de sitt­li­che Ver­derbt­heit, dass sie oft wahr­haf­tig bei­na­he wünsch­te … So weit war sie schon ge­kom­men. Wer weiß, wie schnell es da wei­ter ging – hin­ab – hin­ab … ohne Halt – ohne Wie­der­kehr!

      Kein ge­fal­le­nes Mäd­chen rich­tet sich wie­der auf, sag­te Papa ein­mal, und un­er­bitt­lich sah er da­bei aus, wie der En­gel mit dem feu­ri­gen Schwert an der Pa­ra­die­ses­pfor­te.

      Wahr­schein­lich hät­te al­les nichts ge­nutzt, was für das klei­ne Haus­mäd­chen ge­sche­hen konn­te – also nur schnell und or­dent­lich in den Schlamm hin­un­ter.

      Und Eu­ge­nie? Und der Com­mis in der Stu­be mit den Zi­gar­ren­pro­ben? Es war gräss­lich, dass Aga­the im­mer noch dar­an den­ken muss­te.

      Alle ihre Träu­me und Fan­tasi­en wa­ren von dem Gift der Sün­de be­fleckt. Wie schlecht, wie durch und durch ver­dor­ben war sie!

      Hohe Zeit, dass ein Ab­schnitt ge­macht wur­de! Al­les Be­ten und Jam­mern zu Gott dem Herrn um Hil­fe hat­te nichts ge­fruch­tet. Wer konn­te wis­sen, ob es einen Gott gab? Je­den­falls hat­te er sich Aga­the nicht geof­fen­bart und sie im Stich ge­las­sen.

      Sie muss­te sich nur ein­mal recht klar ma­chen, dass ihre Ju­gend vor­bei und es ein­fach schmach­voll war, sich nun noch – in rei­fe­ren Jah­ren – so dum­men Ide­en hin­zu­ge­ben. Nur ein- für al­le­mal kei­ne Hoff­nun­gen. Das Haar ging ihr auch schon aus, und wenn sie lach­te, so hat­te sie kein nied­li­ches Grüb­chen mehr, son­dern eine rich­ti­ge Fal­te.

      Wie vie­le Mäd­chen hei­ra­ten nicht. Das Le­ben bot ja auch sonst noch so viel Schö­nes! Und Pf­lich­ten hat­te sie ge­nug – die brauch­te sie wirk­lich nicht au­ßer dem Hau­se zu su­chen. Hat­te sie denn ihr Ge­lüb­de, ein­zig und al­lein für ihre El­tern zu le­ben, so ganz ver­ges­sen? Sie muss­te viel lie­bens­wür­di­ger und hei­te­rer sein!

      *

      Wenn Papa nach Ber­lin ver­setzt wür­de … Das wäre doch mal wie­der ein neu­er An­fang! Sie woll­te sich nur nicht zu sehr freu­en, sonst kam es schließ­lich nicht dazu.

      Und es kam auch nicht dazu. Ir­gend ein Mi­nis­ter hat­te Dif­fe­ren­zen mit ei­nem an­de­ren Mi­nis­ter, oder er ver­trat ein Ge­setz, das im Reichs­tag nicht an­ge­nom­men wur­de – kurz, er muss­te sein Por­te­feuil­le nie­der­le­gen, und Papa wur­de nicht vor­tra­gen­der Rat in Ber­lin, son­dern be­kam sei­nen Ab­schied. Wie das zu­sam­men­hing, hör­te Aga­the na­tür­lich nicht. Sie hät­te es doch nicht ver­stan­den, und es wäre dem Re­gie­rungs­rat über­haupt nicht ein­ge­fal­len, ein jun­ges Mäd­chen in Be­rufs­an­ge­le­gen­hei­ten ein­zu­wei­hen.

      Man muss­te sich nun mit der Pen­si­on ein­rich­ten. Und Papa zahl­te au­ßer­dem viel an die Le­bens­ver­si­che­rung. Man entließ also das zwei­te Mäd­chen und nahm eine klei­ne­re Woh­nung, von der man ein Zim­mer an On­kel Gu­stav ver­mie­te­te.

      On­kel Gu­stav hat­te nicht viel Glück mit dem Ju­gend­born ge­habt. Au­ßer Aga­thes Freun­din­nen, de­nen er es schenk­te, hat­te nie­mand nach dem Toi­let­ten­was­ser ge­fragt. Und so war die Mensch­heit nicht schö­ner und On­kel Gu­stav nicht rei­cher ge­wor­den. Er be­schäf­tig­te sich zwar im­mer noch in Ge­dan­ken da­mit, ir­gend eine rei­zen­de jun­ge Er­bin zu hei­ra­ten, um sei­ne Er­fin­dung mit ih­rem Ver­mö­gen zu pous­sie­ren. Aber in­zwi­schen hat­te er sich bei sei­ner Schwä­ge­rin in Pen­si­on ge­ge­ben, denn sein Ma­gen konn­te das Gast­hof­ses­sen nicht mehr ver­tra­gen. Aga­the rech­ne­te nach, dass das be­schei­de­ne Kost­geld des gu­ten al­ten On­kels Be­dürf­nis­se bei wei­tem nicht deck­te. Aber Mama glaub­te je­des Mal, wenn er am ers­ten des Mo­nats sei­ne zwei Gold­stücke ab­lie­fer­te, sie habe einen un­ver­sieg­ba­ren Schatz in Hän­den.

      Die arme Mama hat­te durch die Ver­än­de­run­gen, die durch Pa­pas Ab­schied not­wen­dig wur­den, jede Fas­sung ver­lo­ren. Sie brach bei dem ge­rings­ten An­lass in Trä­nen aus und wur­de von der Furcht ge­pei­nigt, sie müss­ten am Ende alle mit­ein­an­der ver­hun­gern. Kam in­des­sen


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