H. G. Wells – Gesammelte Werke. Herbert George Wells

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H. G. Wells – Gesammelte Werke - Herbert George Wells


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ver­krümm­te Ge­stalt ver­sperr­te mir den Weg. Ich brach­te es nicht über mich, wei­ter­zu­ge­hen. Ich kehr­te wie­der zur St. John’s Wood­stra­ße zu­rück und rann­te wie be­ses­sen vor die­ser un­er­träg­li­chen Stil­le ge­gen Kil­burn. Ich ver­steck­te mich vor der Nacht und der Stil­le, spät erst nach Mit­ter­nacht, in ei­ner Kut­scher­her­ber­ge in der Har­row Road. Aber noch ehe der Mor­gen grau­te, kehr­te mein Mut zu­rück, und wäh­rend die Ster­ne noch am Him­mel stan­den, wand­te ich mich wie­der Re­gent’s Park zu. In dem Stra­ßen­ge­wirr ver­lor ich den rech­ten Weg; bald aber sah ich weit un­ten, am Ende ei­ner lan­gen Stra­ßen­zei­le, im Halb­licht der frü­hen Däm­me­rung die run­den Li­ni­en von Prim­ro­se Hill. Auf sei­ner Spit­ze stand, sich hoch ge­gen die erb­las­sen­den Ster­ne auf­tür­mend, ein drit­ter Mars­mann, auf­recht und re­gungs­los wie die an­de­ren.

      Ein wahn­wit­zi­ger Ent­schluss hat­te sich mei­ner be­mäch­tigt. Ich woll­te al­lem ein Ende ma­chen und ster­ben. Und ich woll­te mir selbst die Mühe spa­ren, mich selbst zu tö­ten. Gleich­mü­tig ging ich auf den Ti­ta­nen zu; als ich aber nä­her kam und es im­mer hel­ler wur­de, da sah ich, dass ein Schwarm schwar­zer Vö­gel flat­ternd sei­ne Hau­be um­kreis­te. Bei die­sem An­blick stand mein Herz fast still und ich be­gann, die Stra­ße hin­ab­zu­lau­fen.

      Ich ar­bei­te­te mich durch das rote Ge­wächs durch, das St. Ed­mun­d’s Ter­race dicht um­spon­nen hat­te. Brust­hoch wa­te­te ich durch einen Gieß­bach, der von den Was­ser­wer­ken zur Al­bert Road hin­rausch­te. Noch vor Son­nen­auf­gang er­reich­te ich den Gras­p­latz. Auf dem Kamm des Hü­gels wa­ren große Erd­hau­fen auf­ge­wor­fen, die aus ihm eine mäch­ti­ge Schan­ze mach­ten; es war das letz­te und größ­te Kriegs­la­ger, das die Mars­leu­te auf­ge­schla­gen hat­ten. Hin­ter die­sen Erd­hau­fen stieg ein dün­ner Rauch zum Him­mel auf. In wei­ter Fer­ne sah ich einen gie­ri­gen Hund lau­fen und ver­schwin­den. Der Ge­dan­ke, der mir durch den Kopf zuck­te, wur­de Wirk­lich­keit, wur­de glaub­haft. Ich emp­fand kei­ne Angst, nur ein wil­des, zit­tern­des Ju­bel­ge­fühl, als ich den Hü­gel auf­wärts auf das re­gungs­lo­se Un­ge­tüm zu­stürm­te. Aus sei­ner Hau­be hin­gen dün­ne, brau­ne Lap­pen her­ab, an de­nen die hung­ri­gen Vö­gel pick­ten und zerr­ten.

      Im nächs­ten Au­gen­blick hat­te ich die Erd­schan­ze er­klet­tert und stand auf dem Kamm des Hü­gels, das In­ne­re des La­gers tief un­ter mir. Es war ein mäch­ti­ger Raum, da und dort stan­den rie­si­ge Ma­schi­nen, un­ge­heu­re La­ger von Werk­zeu­gen und selt­sa­me Schutz­vor­rich­tun­gen. Und über­all zer­streut, ei­ni­ge in den um­ge­stürz­ten Kriegs­ma­schi­nen, ei­ni­ge in den jetzt ru­hi­gen He­be­ma­schi­nen, und ein Dut­zend steif und still, in ei­ner Rei­he hin­ge­streckt, la­gen die Mars­leu­te — tot — er­würgt von den fäul­nis- und krank­heits­er­re­gen­den Bak­te­ri­en, ge­gen die ihre kör­per­li­che Be­schaf­fen­heit wi­der­stands­los war; er­würgt, wie das rote Ge­wächs er­würgt wor­den war; er­würgt, nach­dem alle An­schlä­ge der Men­schen fehl­ge­schla­gen hat­ten, von den nied­rigs­ten We­sen, die Gott in sei­ner Weis­heit ins Le­ben ge­ru­fen hat.

      Und so war ge­kom­men, was ich und vie­le an­de­re Leu­te hät­ten vor­her­se­hen kön­nen, hät­ten nicht Schre­cken und Un­glück un­se­ren Ver­stand ver­blen­det. Die­se Krank­heits­kei­me ha­ben seit An­be­ginn der Din­ge ih­ren Zoll von der Mensch­heit ge­for­dert — schon von un­se­ren vor­mensch­li­chen Ah­nen, seit­dem Le­ben auf un­se­rem Stern be­stand. Aber durch die Fä­hig­keit der na­tür­li­chen Zucht­wahl un­se­rer Gat­tung ha­ben wir die Wi­der­stands­kraft ge­gen sie ent­wi­ckelt; wir un­ter­lie­gen kei­nem die­ser Kei­me ohne Kampf, und ge­gen vie­le — z.B. jene, wel­che in to­ten Kör­pern Fäul­nis her­vor­ru­fen — sind un­se­re Lei­ber über­haupt ge­feit. Aber auf dem Mars gibt es kei­ne Bat­te­ri­en, und von dem Au­gen­blick an, als jene Ein­dring­lin­ge auf der Erde an­lang­ten, als sie aßen und tran­ken, mach­ten un­se­re mi­kro­sko­pi­schen Ver­bün­de­ten sich ans Werk, sie zu ver­nich­ten. Schon da­mals, als ich sie be­ob­ach­te­te, wa­ren sie un­wi­der­ruf­lich dem Tode ver­fal­len, star­ben und siech­ten sie hin, wäh­rend sie noch hin- und her­gin­gen. Es war un­ver­meid­lich. Durch das Op­fer Mil­lio­nen To­ter hat der Mensch sich sein Erst­ge­burts­recht auf der Erde er­kauft, und trotz al­ler frem­den Ein­dring­lin­ge ist sie sein, sie ist sein, und wä­ren die Mars­leu­te auch zehn­mal so mäch­tig als sie sind. Denn die Men­schen le­ben we­der, noch ster­ben sie ver­geb­lich.

      Ich stand da und starr­te in die Gru­be, und mein Herz emp­fand eine be­se­li­gen­de Er­leich­te­rung, ge­ra­de als die auf­ge­hen­de Son­ne mit ih­ren Strah­len die Welt um mich in Glanz tauch­te. In der Gru­be herrsch­te noch Fins­ter­nis, die rie­si­gen Ma­schi­nen, so groß und wun­der­bar in ih­rer Kraft und Vollen­dung, so un­ir­disch in ih­ren ge­wun­de­nen For­men, rag­ten un­heim­lich und ver­schwom­men und aben­teu­er­lich aus dem Schat­ten in das Licht auf. Ein Ru­del Hun­de hör­te ich tief un­ter mir um die Lei­chen sich bal­gen, die dun­kel in der Tie­fe der Gru­be la­gen. Jen­seits der Gru­be an ih­rem ferns­ten Rand lag, flach und rie­sen­haft und selt­sam, die große Zug­ma­schi­ne, mit der die Mars­leu­te in un­se­ren dich­teren Luft­schich­ten Ver­su­che an­ge­stellt hat­ten, als Ver­fall und Tod ih­nen Ein­halt ge­bo­ten. Der Tod war nicht einen Tag zu früh ge­kom­men. Ein Kräch­zen über mir ließ mich nach oben bli­cken auf die un­ge­heu­re Kriegs­ma­schi­ne, die nun nie­mals wie­der kämp­fen wür­de, auf die zer­fetz­ten ro­ten Fleischlap­pen, die auf die um­ge­stürz­ten Bän­ke auf der Spit­ze von Prim­ro­se Hill nie­der­tropf­ten.

      Ich wand­te mich um und sah den ab­schüs­si­gen Hü­gel hin­ab, wo, von ei­nem Kranz Vö­gel ein­gehüllt, jene an­de­ren bei­den Mars­leu­te stan­den, die ich in der vo­ri­gen Nacht ge­se­hen hat­te, ge­ra­de als der Tod sie er­eil­te. Der eine war ver­en­det, als er eben nach sei­nen Ge­fähr­ten ge­schri­en hat­te; viel­leicht war er der letz­te Tote ge­we­sen, und hat­te sei­ne Stim­me un­auf­hör­lich er­schal­len las­sen, bis die Kraft sei­nes Le­bens er­schöpft war. Die Ma­schi­nen schim­mer­ten nun, harm­lo­se, drei­fü­ßi­ge Tür­me leuch­ten­den Me­talls, im Glanz der auf­stei­gen­den Son­ne.

      Und rings um die Gru­be her­um und wie durch ein Wun­der vor ewi­ger Zer­stö­rung ge­ret­tet, brei­te­te sich die große Mut­ter der Städ­te aus. Jene, wel­che Lon­don nur in die düs­te­ren Schlei­er des Rau­ches gehüllt ge­se­hen ha­ben, ver­mö­gen sich die nack­te Klar­heit und Schön­heit der schwei­gen­den Wild­nis sei­ner Häu­ser kaum vor­zu­stel­len.


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