Das große Reimmichl-Lesebuch. Reimmichl
Читать онлайн книгу.zukünftiger Hoferbe aus. Blieb noch die Möglichkeit, als Geschäftsmann in die Fußstapfen des Vaters zu treten, der es vom Wanderhändler zum Fabriksteilhaber gebracht hatte. Aber dazu fehlte dem Buben das kaufmännische Verständnis. Was tun?
Gerne beschäftigte sich Wastl mit Büchern und Landkarten – Lesen war seine Leidenschaft und Ministrant sein seine Passion.
Es war im Jahr 1880. Da kam eines Tages der Pfarrer des Weges. Wie überall am Lande, war der Pfarrer unbestritten die angesehenste Persönlichkeit im Ort, daher erzählte ihm die Mutter von ihren Sorgen. Da machte der Seelsorger jenen Vorschlag, der das Leben des jungen Sebastian Rieger in neue Bahnen lenkten sollte:
„Lasst ihn doch studieren!“ Die Mutter war gänzlich überrascht und doch irgendwie erwartungsvoll: „Auf Pfarrer studieren?“ Dazu muss man wissen: Im Volksmund nennt man vielfach jeden Geistlichen einen Pfarrer. Und für jemanden, der vom Land zum Studieren in eine Stadt ging, war es damals in Tirol sozusagen eine Selbstverständlichkeit, dass er Geistlicher werden wollte, es sei denn, dass er der Sohn eines Beamten oder eines Arztes war.
„Warum nicht? Aus ihm könnte durchaus ein guter Priester werden und finanziell könnt ihr euch sein Studium wohl leisten.“
Es bedurfte nun keiner allzu langen Überlegungen mehr, und es stand fest: Der Bub geht studieren! Dem Vater gefiel die Vorstellung und auch die Mutter verhehlte nicht ihre Freude. Der Wastl war auch Feuer und Flamme und konnte es kaum erwarten, in die Welt hinauszukommen.
Für Osttiroler war es in jenen Jahren beinahe selbstverständlich, in Brixen zu studieren. Nur ganz wenige Buben wurden nach Bozen, Innsbruck oder Hall geschickt. In Brixen standen zwei Gymnasien zur Auswahl: Bereits seit langer Zeit existierte das Kassianeum, ein geistlich geführtes Internat, dessen Zöglinge das Staatsgymnasium in Brixen besuchten, wo Augustiner-Chorherren aus dem nahen Kloster Neustift unterrichteten. Diese alte Domschule war eine erfolgreiche Ausbildungsstätte und konnte auf eine altehrwürdige Geschichte zurückblicken, die bis ins 10. Jahrhundert zurückreicht.
Die Entscheidung fiel aber dann doch zu Gunsten des Vinzentinums, das erst kürzlich eröffnet worden war und dessen Name auf den Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser zurückgeht. Dieses diözesane Knabenseminar, das Gymnasium und Internat unter einem Dach vereinigte, verdankte seine Errichtung dem Priestermangel jener Zeit.
Bis dorthin hatten die öffentlichen Gymnasien Tirols und Vorarlbergs für den regelmäßigen Nachschub an Priesteramtskandidaten in der Diözese Brixen gesorgt. Doch seit den 1850er-Jahren konnten die neu ausgebildeten Neupriester die Zahl jener, die durch Tod, Krankheit oder Alter ausgeschieden sind, nicht mehr voll ersetzen. 1872 waren von 999 geistlichen Planstellen 92 wegen Priestermangels nicht besetzt (auch Vorarlberg gehörte damals zur Brixner Diözese). Fürstbischof Vinzenz Gasser sah den Hauptgrund für diese Entwicklung in den liberalen Tendenzen, die sich an den Schulen jener Zeit ausbreiteten. 1867 kamen die neuen Schulgesetze dazu: Bis dahin war die Schulaufsicht in den Händen der Kirche gelegen, die natürlich Wert auf eine katholische Formung der Jugend gelegt hatte und dabei auch von den Lehrern unterstützt worden war. Aber der politische Wind hatte sich schon seit einiger Zeit gedreht.
In Wien kam eine liberale Regierung an die Macht, die ein neues Staatsgrundgesetz nach liberalen Grundsätzen erließ. Eines der Ziele war, die Macht des Adels und der Kirche zu brechen, dazu gehörte auch, den Einfluss der Kirche im Schulbereich zurückzudrängen. Deshalb übernahm nun der Staat die Schulaufsicht. Der Kirche blieb nur noch der Religionsunterricht.
Nun war für den Fürstbischof Feuer am Dach, denn er musste damit rechnen, dass der Jugend in Zukunft keine christlichen Wertvorstellungen mehr vermittelt würden, dafür aber liberales, antiklerikales Gedankengut Einzug hält. Als Folge würde der Priesternachwuchs noch weiter zurückgehen. Vinzenz Gasser war in allem ein Mann der Tat. Daher wollte er nicht mehr länger zuwarten und auf eine unsichere Zeitenwende hoffen. Von 1873 bis 1876 ließ er ein Knabenseminar mit Gymnasium errichten, das den Priesternachwuchs fördern und der Diözese gute Seelsorger in ausreichendem Maße bringen sollte. Damit auch Laien christliches Gedankengut in die Welt hinaustrügen, war das Vinzentinum von Anfang an auf ausdrücklichen Wunsch des Fürstbischofs auch für solche geöffnet, die nicht den Priesterberuf ergreifen wollten.
Das Vinzentinum erfüllte über Jahrzente für ganz Tirol und Vorarlberg die ihm gestellte Aufgabe bis nach dem Ersten Weltkrieg. Ab 1926 durfte aber das Vinzentinum auf Befehl der Faschisten keine Schüler mehr aus Nordirol und Vorarlberg aufnehmen. Damit war dieser nördliche Teil der Diözese von der Brixner Ausbildungsstätte abgeschnitten. Aber der Salzburger Fürsterzbischof Sigismund Waitz als für Nordtirol und Vorarlberg zuständiger Oberhirte – ein gebürtiger Brixner und Freund Reimmichls – reagierte sofort, erwarb die ehemalige Landesschützenkaserne in Schwaz und baute sie zum Knabenseminar Paulinum um. Der Betrieb begann dann mit 202 Schülern. Übrigens: Der Name Paulinum geht auf einen Wunsch von Fürsterzbischof Waitz zurück, der für den Völkerapostel Paulus besondere Bewunderung und Verehrung zeigte.
Reimmichl verbrachte insgesamt dreizehn Jahre in Brixen: Acht Jahre am Gymnasium Vinzentinum, anschließend vier Jahre im Priesterseminar und fünf Jahre später noch einmal ein Jahr, als er 1898 die Zeitungsredaktion der „Brixner Chronik“ und des „Tiroler Volksboten“ übernehmen musste. Jugendjahre bleiben oft besonders stark in Erinnerung und man wird unschwer verstehen, dass das alte Städtchen am Eisack in Reimmichls Herzen besonders tiefe Wurzeln schlug – ja ihm zur zweiten Heimat wurde.
Brixen war zu Reimmichls Gymnasialzeit eine Kleinstadt mit rund 5000 Einwohnern (heute 22.000). Vom Dombezirk aus im Zentrum erreichte man den Stadtrand bereits nach wenigen hundert Schritten. Auch andere Tiroler Städte waren damals noch recht bescheiden; Innsbruck zählte 35.000 Einwohner, Bozen 18.000, die heutige Millionenstadt München entsprach mit 270.000 Einwohnern der heutigen Größe von Graz.
Der Brixner Talkessel ist uraltes Siedlungsgebiet. Archäologische Funde im kleinen Weiler Melaun oberhalb der Stadt gaben sogar einem Zeitabschnitt im Alpenraum vor 3300 Jahren den Namen: die Laugen-Melaun-Kultur. Die Stadt Brixen – sie ist die älteste Stadt Tirols – wird erst später greifbar, aber immerhin bereits im 5. Jahrhundert v. Chr.: Vor zwei Jahrzehnten wurden am Domplatz in vier Metern Tiefe Reste einer Hütte aus jener Zeit freigelegt.
In der Tradition der Stadt gilt der 13. September 901 als Gründungsdatum. Damals schenkte König Ludwig das Kind dem Bischof von Säben einen großen Gutshof in Prihsna (Brixen), der dann dem hl. Bischof Albuin die materielle Grundlage dafür bot, den Bischofssitz um das Jahr 990 von Säben/Klausen nach Brixen zu verlegen. Fast 1000 Jahre war Brixen Bischofssitz, ehe es 1964 zur Neuordnung der Diözesangrenzen kam und der Bischof nach Bozen übersiedelte. Die legendäre Überlieferung berichtet, dass der hl. Kassian dieses Bistum noch in spätrömischer Zeit gegründet haben soll; auf jeden Fall ist dann der hl. Ingenuin 579 der erste geschichtlich belegte Bischof auf Säben.
Die Heiligen Ingenuin und Albuin sind heute Diözesanpatrone von Bozen-Brixen (Gedenktag ist der 5. Februar); der hl. Kassian als dritter Patron wird jedes Jahr am zweiten Sonntag nach Ostern mit der weitum bekannten Kassianiprozession geehrt. Diese Prozession war damals, als Reimmichl das Vinzentinum besuchte, einer der jährlichen Höhepunkte im Leben der Stadt und wird auch heute noch mit großem barockem Aufwand begangen. Alle drei Heiligen stehen als überlebensgroße Statuen über dem Eingang zum Brixner Dom.
Der Brixner Dom, durch 1000 Jahre kirchliches Zentrum der Diözese Brixen.
(Foto: Herzog)
Vor 1926 reichte die Diözese Brixen im Süden bis Klausen, im Westen umfasste sie Vorarlberg, im Norden ganz Nordtirol westlich des Zillers, im Osten ging sie bis an die tirolisch/kärntnerische Grenze. Bis zur Entstehung der Grafschaft Tirol im 13. Jahrhundert waren die Fürstbischöfe über 300 Jahre hinweg die einzige nicht nur geistliche, sondern auch politische und kulturelle Kraft im Lande. Auch wenn dann die weltliche Macht von den Tiroler Landesfürsten übernommen wurde, blieb die religiöse und kulturelle Ausstrahlung ungebrochen. Brixen war das geistige Zentrum Alt-Tirols. Die Ausbildung der Weltpriester und die höhere Ausbildung eines nicht geringen Teils der Jugend vollzogen sich seit dem