Das große Reimmichl-Lesebuch. Reimmichl

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Das große Reimmichl-Lesebuch - Reimmichl


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denn sowohl der Bahnhof als auch der mächtige Bau des Vinzentinums lagen damals noch vor der Stadt.

      Schüchtern betrat der Bub aus dem Defereggental das riesengroße Gebäude, das ihm nun für acht Jahre Heimat werden sollte. Wie begeistert war der Wastl damals, als man ihm eröffnete, dass er studieren dürfe. Jetzt aber, in der Bischofsstadt angekommen, fand er sich nicht leicht zurecht. Reimmichl erzählte später, wie es ihm, dem scheuen, unbeholfenen Bübl aus dem hintersten Tal, die erste Zeit erging: Bisher war der heimatliche Kirchturm das größte Weltwunder, hier aber schien ihm alles so riesengroß und unbekannt und oft genug blieb ihm der Mund offen vor Staunen. Immer wieder blieb er stehen, um den noblen Damen und Herren nachzusehen und sich über die Mode zu wundern.

      Im Vinzentinum selbst wollte es dem Wastl anfänglich nicht gefallen. Das Haus war ihm viel zu groß und in den ersten Tagen verirrte er sich mehr als einmal in den zahlreichen Stockwerken und Gängen. Zu Hause hatte man dem Wastl eingeschärft, er müsse immer freundlich und höflich sein: „Bevor man ein Zimmer betritt, nimmt man den Hut ab und klopft an!“ Der Wastl nahm das wörtlich, auch dann, wenn er z. B. das Klassenzimmer, den Speisesaal oder das Studierzimmer betrat. Warum man in der Klasse nicht den Rock ausziehen darf, sah er auch nicht ein. Auch die einheitliche Schulkleidung war nicht nach seinem Geschmack.

      In diesen ersten Tagen drückte es ihm schwer aufs Herz, in der Fremde zu sein. Damals lernte er zum ersten Mal das Heimweh kennen. Als er dann glaubte, es nicht mehr ertragen zu können, beschloss er ins Defereggental zur Mutter heimzukehren. Sie würde ihn schon verstehen. Um nicht aufzufallen, schien ihm Mitternacht der geeignete Fluchtzeitpunkt zu sein. Er schlich auf leisen Sohlen aus dem Schlafsaal und durch die Gänge dem Ausgang zu. Der Wastl hatte aber nicht mit dem großen Haushund gerechnet, der im Hof seinen Platz hatte und sofort anschlug und sich mit gefletschten Zähnen dem jungen Ausreißer näherte. Dem Wastl fiel das Herz in die Hose, er machte kehrt und legte sich wieder unbemerkt ins Bett.

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      Das Knabenseminar Vinzentinum in Brixen (Blick von Süden), benannt nach dem Erbauer Fürstbischof Vinzenz Gasser. Hier verbrachte Reimmichl die Gymnasialjahre.

      (Foto: Schlern 47/1973)

      Der alte Reimmichl erzählte später öfters schmunzelnd, dass er seinen Priesterberuf neben der Vorsehung einem Hund verdanke.

      Nach diesem nächtlichen Fehlschlag stürmten aber immer mehr neue Eindrücke auf den jungen Studenten ein. Die Schule und das Treiben im Internat ließen für trübe Gedanken bald keinen Platz mehr. Von nun an drehte sich das Leben im Vinzentinum um zwei Brennpunkte: Den einen bildete das Heim mit seinen Vorgesetzten, der strikten Zeiteinteilung und dem regelmäßigen Wechsel von Studium und Erholung, den anderen die Schule mit den zahlreichen Unterrichtsfächern und Professoren.

      Das Studieren machte dem Wastl viel Freude. Zwar zeigte sich noch öfters seine anfänglich unbeholfene Art, wenn er etwa nicht nur an den Fingern, sondern auch auf den Wangen und der Nase schwarze Spuren hatte. Das kam daher, dass er den Umgang mit Feder und Tinte bisher nicht gewohnt war. Auch sein Stottern brachte ihm so manchen Spott ein. Sein Mitschüler Georg Harrasser erzählt: „In den ersten Studienjahren litt Wastl an einem Sprachfehler, er stotterte arg. Am ärgsten, wenn er in der Schule geprüft wurde, ohne gut vorbereitet zu sein. Da ließ ihn dann manchmal der Professor in Gnaden laufen oder trug selbst vor, was der Schüler hätte sagen sollen.“ Aber bald erkannten die Mitschüler, dass Wastl vielen an Wissen überlegen war und bei allem Fleiß, den er an den Tag legte, für jeden Spaß zu haben war. Er wurde zu einem beliebten und geschätzten Mitschüler.

      So ein großes Haus wie das Vinzentinum war vorübergehende Heimat von Buben aus allen Teilen des Landes. Und so machte der Wastl bald deutsch-, ladinisch- und italienischsprachige Bekanntschaften. Dazu hörte er noch verschiedene Dialekte wie jenen der Vorarlberger, der ihm überhaupt unverständlich blieb. Es war die reinste babylonische Sprachenverwirrung.

      Auch mit einem Buben aus Steinach am Brenner namens Ferdinand Plattner – er wurde Nante bzw. Nant gerufen – kam der Wastl ins Gespräch. Aus dieser ersten Begegnung entwickelte sich eine dicke Freundschaft, die bald üble Früchte tragen sollte. Und das kam so:

      Während der Studierzeit wollte der Nant dem Wastl das Bauchreden lehren. Darüber lachte die ganze Klasse. Als der Präfekt, der die Aufsicht führte, den Nant als Missetäter ausfindig gemacht hatte, nahm er ihn mit ins Nebenzimmer, aus dem man umgehend ein Sausen durch die Luft und einen Schlag hörte. Wastl sagte dazu: „Jetzt hat’s eins geschlagen.“ Wieder allgemeines Gelächter. Der Präfekt erschien: „Was gibt’s da?“ „Der Wastl hat gesagt, jetzt hat’s eins geschlagen“, verriet ein lieber Mitschüler. „So, so“, bemerkte der Präfekt, „komm nur, Wastl, dann lassen wir’s gleich zwei schlagen.“ Der Wastl wankt dem Gestrengen nach und bald tanzt der Rohrstock zweimal auf seine ausgestreckte Handfläche. Das war die Feuerprobe der edlen Freundschaft und sie wurde infolgedessen noch enger. Der Wastl und der Nant saßen in der letzten Bank links außen. Da die beiden aber als notorische Ruhestörer galten, wurden sie bald getrennt. Diese Maßnahme in Verbindung mit so mancher Strafaktion brachte langsam Einsicht und Besserung.

      Die Freude an harmlosen Streichen und so manchen Schabernack blieb den beiden aber ein Leben lang erhalten. Einer der Streiche des erwachsenen Nant hätte aber beinahe böse geendet. Und das kam so: Nant bzw. Ferdinand Plattner wurde wie Reimmichl ein volksverbundener Priester und beschäftigte sich eingehend mit Heimat- und Volkskunde. Er leitete die Krippenbauschule in Sarns bei Brixen und gilt heute als Vater der Südtiroler Krippe. Als er zu Weihnachten 1944 wie jedes Jahr die Krippe aufbaute, stellte er in den Stall nur Ochs und Esel hinein. Als er gefragt wurde, wo denn die Heilige Familie geblieben sei, antwortete er, dass diese heuer vor den Nationalsozialisten geflohen sei und dass nur Hitler und Mussolini bei der Krippe geblieben wären. Die Folgen dieser Erklärung waren fatal: Er wurde angezeigt und zu fünf Jahren Kerkerstrafe verurteilt, die er allerdings wegen des Kriegsendes nicht mehr antreten musste.

      1899 schrieb Reimmichl im „Tiroler Volksboten“ in Erinnerung an den Freund und die gemeinsame Jugendzeit die Fortsetzungsgeschichte „Der Nant“, die später auch als Buch in zahlreichen Auflagen erschien. Die Leser waren begeistert und warteten ungeduldig auf die Fortsetzungskapitel. Als Reimmichl diese Geschichte dann für mehrere Nummern unterbrach – er hatte die Fortsetzung noch nicht geschrieben –, erhielt er beinahe tagtäglich Anfragen, was denn aus dem Nant geworden sei und wie es weitergehe, und so entschloss er sich, mit der Geschichte ohne Unterbrechung fortzufahren und sie zum Ende zu bringen.

      Der Wastl war kein Musterschüler, aber er zählte zu den guten und lernte viel im Vinzentinum. Reimmichl konnte – da staunen gewiss heutige und ehemalige Lateinschüler – in der Sprache Ciceros und Cäsars nicht nur Aufsätze schreiben, sondern sogar sprechen! Auch anmutige lateinische Verse gingen ihm leicht von der Hand. Und doch, „Deutsche Sprache und Literatur“ war neben Geschichte und Geografie sein Lieblingsfach. Im deutschen Reimen hatte er zu Beginn allerdings seine Schwierigkeiten, da flossen die Zeilen nur zäh aus der Feder. Aber im Laufe der Zeit legte sich der Wastl eine reichhaltige Sammlung an Reimwörterpaaren an und nun flossen die Gedichte wie eine sprudelnde Quelle. Bereits als Gymnasiast versuchte er sich an Novellen und Dramen, die bereits ein gewisses Talent erkennen ließen.

      Seine Aufsätze zeigten von Anfang an Phantasie und Stilsicherheit, sodass sie – wie Mitschüler berichteten – oft als beispielhaft vorgelesen wurden. Dieses Talent wurde sicher auch dadurch gefördert, dass er gern und viel klassische und moderne Literatur las. Dieses viele Lesen, auch bei ungünstigen Lichtverhältnissen, denn es gab noch kein elektrisches Licht, forderte seinen Tribut. Die Sehkraft ließ zu wünschen übrig und der Wastl brauchte Brillen, an die er sich nur langsam gewöhnte.

      Viel Schweiß hat dem Wastl die Rechenkunst und die Mathematik gekostet. Kurz gesagt, er stand mit ihr auf Kriegsfuß, was ihm so manchen Sechser einbrachte – das entsprach damals dem heutigen Fünfer. Sprachen hingegen machten dem jungen Studenten Freude, nicht nur Latein und Griechisch. Er lernte auch Französisch und Italienisch. Italienisch sprach er recht gut, immerhin wurde im südlichen Tirol (Trentino) Italienisch gesprochen. Auch war es ihm von Nutzen, als ihn später mehrere Reisen nach Italien


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