Julius Payer. Die unerforschte Welt der Berge und des Eises. Frank Berger
Читать онлайн книгу.40 Seiten, mit einer Tafel und einer Karte 1:36.000.
SÜDLICHE ORTLER-ALPEN (1867)
Anfang August 1867 reiste Julius Payer von seiner Garnison Jägerndorf über Wien, Venedig, Trient, Cles und Fucine nach Pejo. Sein Standquartier schlug er in der Cannonica des Curaten von Pejo, Guiseppe Baggia, auf. Aus Sulden kam weisungsgemäß Johann Pinggera hinzu, bestückt mit Regenschirm, Steigeisen, Bergstöcken, Axt und Strick. Als örtlichen Bergführer engagierte Payer Antonio Chiesa, einen ehemaligen Kapuziner, mittelgroß, 60 Jahre alt, „zur Mumie vertrocknet“, ein Schwätzer und Zecher, aber auch, wie sich herausstellen sollte, schlau, treu und ausdauernd.
Am 27. August bestiegen Payer und Pinggera mit Chiesa den Corno Vioz (2498 m). Von 8 bis 12 Uhr arbeitete Payer auf dem Gipfel am Messtisch. Weil es nachmittags in Strömen regnete, übernachteten sie in der Malga Saline und kamen am nächsten Morgen völlig durchnässt in Pejo an. Am 30. August bestieg Payer allein mit Pinggera die Cima Garneda (2893 m) und am folgenden Tag noch einmal den Corno Vioz, um die Triangulierung fortzusetzen. Am 31. August bestiegen Payer, Pinggera und Chiesa die Cima Ganani (2887 m) und übernachteten abends in der Malga Vedrignana.
Am Morgen des 1. September („meinem Geburtstage“) brachen sie zur Rotspitze (3324 m) auf. Auf der Spitze arbeitete Payer zwei Stunden am Messtisch. Die Herstellung des trigonometrischen Netzes erforderte die Besteigung einer zweiten Spitze, und so stand die Gruppe um 14.15Uhr auf der Cima Lago Lungo (3125 m). Sie verließen den Gipfel erst um 18 Uhr und übernachteten in der Alphütte von La Mare. Der 2. September diente der Genesung des erkrankten Pinggera, den Payer am 3. September wieder für marschfähig erklärte. Zusammen mit Chiesa gingen sie das Val Vioz hinauf und lagerten unter einem Felsen. Dann bestiegen sie den höchsten Punkt des Monte Vioz (3628 m). Knapp zwei Stunden verweilten sie auf dem Gipfel in extremer Kälte, was nur wenige Messungen zuließ. Belebt durch viel Wein, aber dann auch völlig erschöpft, stiegen sie durch das Val Vioz herab nach Pejo.
Der Monte Saline vom Monte Viòz aus, aquarellierte Zeichnung von Moritz Menzinger nach einer Vorlage von Julius Payer, 1867 (PGM Ergänzungsheft 27, 1869)
Nach einigen Tagen diverser kleinerer Exkursionen brachen Payer, Pinggera und Chiesa am 10. September zum Palon della Mare (3669 m) auf, den sie um 13 Uhr erreichten. Anschließend stiegen sie nach Santa Caterina ab, einem Ort, der sich des Besuchs vieler englischer Alpinisten erfreute. Am 12. September bestiegen sie die Punta Cadini (3482 m) und im Anschluss daran den Pizzo Taviela, die heutige Rocca S. Caterina (3497 m). Von Pejo aus bestiegen Payer, Pinggera und Chiesa am 14. September den Monte Saline (3588 m). Die nächsten Tage waren Rasttage in La Mare, weil es in Strömen regnete.
Am 21. September bestiegen Payer und Pinggera, diesmal ohne Chiesa, den Monte Giumella (3551 m) und auch das prächtige Gletscherhorn der Punta San Matteo (3633 m). Um 11 Uhr verweilten sie für eine Viertelstunde am Gipfel, den sie über eine überstehende Eiswechte verließen. Pinggera, die Gefahr dieses Weges erkennend, rief ihm zu: „Sie sind ja dümmer als die Nacht!“, setzte aber den Weg mit Payer fort. Ein Stück der Wechte mit Pinggera darauf brach ab, doch der eiserfahrene Begleiter konnte sich wieder auf die Schneide hinaufschwingen. Selbst dies reichte nicht aus als Warnung. Wenige Minuten später brach die Wechte noch einmal und Payer und Pinggera stürzten samt abgelöstem Schneeüberhang kopfüber in die Tiefe. In freiem Fall erwartete Payer den tödlichen Aufschlag auf einen Felsen. Doch nach einem letzten Sturz von einem Überhang von 60 Fuß blieb Payer in einer Schneegrube stecken, aus Mund und Nase blutend, aber ansonsten unverletzt. Er fürchtete um das Leben Pinggeras. Dessen Namen rufend, mit einem Augenglas bewehrt – Payer war stark kurzsichtig – suchte er die Gegend ab und entdeckte ihn schließlich ebenso unverletzt bis auf eine durch das Steigeisen verursachte Wunde am linken Oberschenkel. Die gesamte Sturzhöhe schätzte Payer auf etwa 800 Fuß.
Alle Ausrüstung war verloren. Dennoch beschlossen Payer und Pinggera, ohne Axt, Steigeisen und Bergstock noch auf den Monte Tresero (3547 m) zu steigen. Um 14.45 Uhr standen sie in großer Kälte auf der Hauptspitze. Sie stiegen nach Süden auf die Vedretta Gavia ab. Beim weiteren Abstieg verirrten sie sich vollständig, wurden aber in einer Hütte des Val Bormina gastfreundlich ausgenommen. Am 22. September kamen die beiden in das Dorf Pezzo, wobei Pinggera schon stark hinkte und krank an den Augen war. Ihre letzten 2 Franken reichten gerade noch für das Frühstück. Soweit gestärkt gingen sie nach Pejo.
Da eine Lücke in der Karte zu schließen war, musste die Cima Venezia noch einmal erstiegen werden. Es war der 24. September. In La Mare verabschiedete Payer den Führer Antonio Chiesa, der vor Zuneigung weinte. Ohne Bergstöcke, aber mit zwei Maßflaschen Wein, Pinggera beladen wie ein Saumtier, stiegen sie über tiefen Schnee zur Vedretta Marmotta und zum oberen Hochfernerjoch hinauf. Um 13 Uhr standen sie auf der Cima Venezia (3345 m). Nach langen Verzögerungen in tiefem Schnee schritten sie das Martelltal hinab und gerieten in die Nacht und in einen Orkan mit starkem Regen. Um 20 Uhr erreichten sie ihr Ziel, das Bauernbad Salt. Payer litt schon länger unter einer Bindehautentzündung, wogegen die Wirtin ein Mittel wusste. Sie legte ihm auf beide Augen einen in Leinen gewickelten toten Frosch. „Das Mittel war gewiss sehr gut. Hatte nur den Einen Fehler, dass es Nichts half.“, meinte Payer.
Am 25. September verabschiedete sich Payer von Pinggera. Sie kamen überein, im nächsten Jahr im Martell- und Laafertal gemeinsam zu arbeiten. Payer fuhr mit einem Fuhrwerk nach Bozen und von dort aus mit der Bahn über Innsbruck, Wien und Troppau nach Jägerndorf. Er versäumte es nicht, den lebensgefährlichen Sturz journalistisch auszuwerten. Die Volks- und Schützenzeitung vom 30. September druckte Payers eigenen Bericht von dem Absturz ab. Guten Kontakt zur Presse zu halten, darin war Payer zeitlebens ein Meister. Die Aufnahme der südlichen Ortler-Alpen erschien als Ergänzungsheft 27 der „Geographischen Mittheilungen“, Gotha 1869, im Umfang von 30 Seiten mit einer Karte 1:56.000, einer Ansicht im Farbdruck und drei Profilen.
GEBIETE MARTELL, LAAS UND SAENT, 1868
Im Januar 1868 war es soweit. Feldmarschall-Leutnant Baron Kuhn wurde zum k. u. k. Kriegsminister ernannt. Und tatsächlich erinnerte er sich an sein altes Versprechen gegenüber Julius Payer. Der Oberleutnant wurde jetzt dem Militärgeographischen Institut beim Infanterieregiment Nr. 36 zugeteilt. Unter Belassung dieser Verwendung wurde er am 1. Februar 1872 zum Tiroler Jägerregiment Kaiser Franz Joseph versetzt. Kuhn beauftragte Payer im Sommer 1868 mit der Fertigstellung der schon weit fortgeschrittenen kartographischen Arbeiten im Ortler- und Adamellogebiet. Diesmal dienten die Arbeiten Payers nicht seinem persönlichen Vergnügen, sondern einem offiziellen und dienstlichen Zweck, nämlich als Vorarbeiten für die österreichische Generalstabskarte.
Der Kriegsminister stellte ihm 1000 Gulden, einen Theodolit und drei Mann als Gehilfen zur Verfügung. In Bozen durfte Payer am 27. Juni aus dem Kaiserjägerregiment die erfahrenen Bergsteiger Haller, Coronna und Späth als Begleiter auswählen. Letzterer wurde bald wieder als unzuverlässig zurückgeschickt und durch Griesmayer ersetzt. Am 28. Juni kaufte Payer Wein in Meran ein und ging am folgenden Tag über Latsch nach Salt. Als nunmehr in staatlichem Auftrag tätiger Vermesser bekam er eine Wohnung im Haus des Messners Schropp neben der Kirche von Thal im Martelltal zugewiesen. Die Armee seiner Gehilfen vergrößerte sich am 1. Juli noch um den Träger Kobald sowie um den treuen Johann Pinggera. Mit großem Gepäck stieg Payers Mannschaft am 2. Juli zur unteren Marteller Alpe auf.
Kartografische Aufnahme des Martell-Gebietes im Maßstab 1: 50.000 (PGM Ergänzungsheft 29, 1872)
Die Arbeiten begannen am 3. Juli mit Vermessungen auf dem Ebenen Jöchl (2786 m). Den nächsten Tag verbrachten sie bei Regen in der Hütte. Pinggera bekam sechs Tage Urlaub. Es folgte der Aufstieg zur Peder-Ochsenhütte. Am 6. Juli erfolgte ohne den Jäger Späth um 3 Uhr in der Früh der Marsch das Pedertal hinauf über die Schildhütte auf die Äußere Pederspitze (3402 m). Es hatte Schneetreiben eingesetzt, als die Mannschaft zur Peder-Ochsenalpe abstieg, wo sie um 17 Uhr ankam.