Let´s play love: Leon. Hanna Nolden
Читать онлайн книгу.hatte Kerstin, ihre Krankengymnastin, keine guten Nachrichten für sie. Zum einen musste Vany die Prellungen ihrer kompletten rechten Seite beichten und behauptete, sie wäre gestürzt. Zum anderen zeigte ihr Knie kaum Besserung und die zweite Beichte war, dass Vany die Übungen, die Kerstin ihr als Hausaufgabe mitgegeben hatte, hatte schleifen lassen. Trotzdem genoss Vany wenigstens in dieser einen Stunde das Mitleid und die Fürsorge, die Kerstin ihr entgegenbrachte. Sie versprach, von nun an fleißiger zu sein, und erinnerte sich selbst daran, dass sie schließlich vorhatte, irgendwann wieder Fußball zu spielen. Am liebsten wäre es Vany gewesen, die Stunde in diesem ruhigen Raum mit den bunten Gymnastikbällen und Therabändern, der Sprossenwand und dem kitschigen Motivationsspruch an der Wand würde niemals enden. Hier wirkte alles so warm und hell, während sie zuhause nur Kälte und Negativität erwarteten. Ihrer Mutter zumindest hatte der Einkauf nicht geholfen, bessere Laune zu bekommen. Das Schweigen im Auto war mal wieder so unangenehm, dass Vany sogar das Radiogedudel willkommen gewesen wäre. Ihre Mutter allerdings schien Gedudel im Moment nicht ertragen zu können. Vany setzte einen Funken Hoffnung auf ein gemeinsames Abendessen, aber nicht einmal daraus wurde etwas. Tim meinte, er hätte zu viel zu lernen und würde sein Brot in seinem Zimmer essen. Ihr Vater erzählte nach einem knappen, unverbindlichen Gruß, er hätte bereits in der Redaktion gegessen. Und auch ihre Mutter verkündete, keinen Hunger zu haben. Den hatte Vany nun auch nicht mehr und verabschiedete sich ins Bett. Dort saß sie ratlos und wusste erneut nichts mit sich anzufangen. Die Reaktionen ihrer Familienmitglieder überforderten sie restlos. Außerdem hatte sie Magengrummeln wegen dem bevorstehenden Zusammentreffen mit ihrem Team. Zum Schlafen war sie viel zu aufgewühlt. Sie nahm ihr Handy und entdeckte eine Nachricht von Jazz: »Hab heute in der Schule mit Tim gesprochen. Hast du wirklich versucht, dich umzubringen?«
Verdammt, Jazz! Nicht du auch noch! Vany traten die Tränen in die Augen, doch sie wollte nicht aufgeben. Sowohl Jazz als auch Leon hatten positiv auf ihre ehrliche und emotionale Nachricht reagiert, also beschloss Vany, diesen Kurs beizubehalten: »Ist eine lange Geschichte. Erzähl ich dir am Sonntag. Sagen wir einfach, ich hatte einen Kurzschluss. Jetzt bin ich wieder richtig verdrahtet. Nur glaubt mir das hier niemand. Alle behandeln mich wie eine Aussätzige. Ich halt das nicht aus. Ich fühl mich schrecklich einsam.«
Die Antwort kam postwendend und ließ Vanys Tränen überlaufen: »Ich war ´ne scheiß Freundin nach deinem Ausraster. Hab was wieder gut zu machen. Ich bin für dich da. Immer!«
Vanys Sicht verschwamm. Sie konnte ihre Dankbarkeit kaum in Worte fassen. Zum ersten Mal an diesem beschissenen Tag hatte sie das Gefühl, dass alles wieder gut werden konnte. Sie tauschte mit Jazz noch ein paar Emojis aus, bis es ihr besser ging und die Tränen versiegten. Anschließend ließ sie das Erlebte in ihrem Tagebuch Revue passieren und versuchte, ihre Familie zu verstehen. Es gelang ihr nicht, aber Jazz´ Worte halfen ihr, diesen Tag dennoch mit einem angenehmen Gefühl abzuschließen und so stellte sie ihren Wecker für den nächsten Morgen und ging schlafen.
2:Zurück auf dem Platz
Mit dem ersten Ton des Weckers war Vany hellwach. Sofort waren alle Gedanken vom Vortag wieder da. Sie gab sich keine Sekunde lang der Illusion hin, etwas könnte sich geändert haben. Tim würde immer noch sauer sein, ihr Vater nach wie vor distanziert und ihre Mutter sich seltsam verhalten. Außerdem würde sie heute auf ihren enttäuschten Trainer und im Stich gelassene Teamkollegen treffen. Das würde kein Zuckerschlecken werden. Sie beschloss, es gar nicht erst vor sich herzuschieben, stand auf und ging unter die Dusche. Im Haus war kein Ton zu hören. Vany fiel ein, dass sie überhaupt nicht im Kopf hatte, gegen wen sie heute spielten. Geschweige denn, ob es ein Heim- oder ein Auswärtsspiel war. Fußball war so weit weg gewesen in der letzten Zeit. Als hätte das alles in einem früheren Leben stattgefunden. Sie würde ihre Mutter fragen oder im Internet recherchieren müssen. Aber noch hatte sie ja etwas Zeit. Um sich einzustimmen, zog sie sich gleich ihr Trikot an. Sie ging in die Küche und stellte fest, dass noch alles schlief. Also gut. Es war Tag 2 nach ihrem Wiedergutmachungsentschluss. Sie würde sich von den Reaktionen ihrer Familie nicht beeindrucken lassen und zunächst ein anständiges Frühstück auf den Tisch bringen. Als Erstes setzte sie eine Kanne Kaffee auf. Das war eines der wenigen Dinge, die sie tatsächlich gut konnte. Vermutlich um Welten besser als die Leute, die in einer gewissen Kölner Polizeistation dafür zuständig waren. Dann angelte sie ihr Kinderkochbuch aus dem Regal über der Heizung und schlug nach, wie man Pfannkuchen machte. Mit den Krücken und dem Knie als Unsicherheitsfaktor war das Ganze doppelt schwierig, doch das Rührgerät weckte ihre Mutter und die ging ihr gleich zur Hand. Vany war insgeheim erleichtert. Sie hatte nie gerne am Herd gestanden und nachdem ihr der Teig zumindest auf den ersten Blick gelungen war, wäre es eine Schande gewesen, die Pfannkuchen anbrennen zu lassen. Ihr Vater gesellte sich wenig später zu ihnen. Bloß Tim ließ sich nicht blicken. Die Pfannkuchen waren himmlisch und schienen die Laune ihrer Eltern zu heben, wenn sie auch trotzdem nicht sonderlich gesprächig waren. Vany nutzte die Gunst der Stunde und erinnerte ihre Mutter: »Hast du auf dem Schirm, dass ich heute zum Spiel wollte?«
Ihre Mutter runzelte die Stirn. »Ich hätte nicht gedacht, dass du das noch auf dem Schirm hast. Willst du dort wirklich hin? Es könnte hart werden.«
Wow. Mit so viel Feingefühl hatte Vany nach dem gestrigen Tag nicht gerechnet. Sie zuckte die Achseln.
»Im Moment ist sowieso alles hart und härter als der Beton eines Kölner Bahnsteigs kann es kaum werden.«
Ihre Mutter zuckte unter ihren Worten zusammen, als hätte sie sie geschlagen. Das tat Vany fast leid, doch sie nahm die Worte nicht zurück. Mochte ihre Familie sich im Totschweigen üben, sie würde das nicht mehr tun. Von nun an würde sie sich mitteilen und nichts mehr in sich hineinfressen.
»Also gut«, sagte ihre Mutter langsam. »Dann werde ich dich nachher begleiten.«
»Danke schön.«
Obwohl Vany nach außen hin Stärke demonstrierte, war sie verflixt nervös, als sie sich nach dem Frühstück auf den Weg machten. Tim hatte sich den ganzen Morgen nicht blicken lassen. Und das, wo das ganze Haus so köstlich nach Zimt und Pfannkuchen roch! Vany hatte ihre Mutter noch ein bisschen zu dem Spiel ausgefragt und sich dabei so lässig wie möglich gegeben. Zum Glück war es ein Heimspiel. So musste sie ihrem Team wenigstens nicht auf fremdem Terrain begegnen. Der Gast war der VfL Condor. Kein wirklich ernstzunehmender Gegner. Aber vor dem hatte Vany auch keine Angst. Eher vor weiteren unangenehmen Reaktionen. Als sie auf dem Parkplatz aus dem Auto stieg und von weitem die vertrauten Geräusche eines Fußballplatzes hörte, ging ihr ganz schön die Flatter. Sie waren früh dran und das gegnerische Team war noch nicht da. Die Mädels von Trainer Burkhardt jedoch waren schon dabei, sich aufzuwärmen. Erst jetzt wurde Vany bewusst, wie sehr sie das alles vermisst hatte. Hier fühlte sie sich mehr zuhause als irgendwo sonst. Trotzdem kam sie sich gerade wie eine Ausgestoßene vor. Und das hatte sie sich selbst zuzuschreiben. Sie reckte das Kinn und zwang sich, weiterzugehen. Ihr neues Patentrezept lautete: ehrlich sein. Gefühle zeigen. Bei ihrer Familie hatte das zwar bisher nicht funktioniert, dafür bei Jazz und Leon. Vielleicht klappte es ja auch mit dem Team? Jule entdeckte sie als Erste und rief so laut ihren Namen, dass alle anderen innehielten und sich zu ihr umwandten. Vany zwang sich zu einem zaghaften Lächeln. Trainer Burkhardt kam mit ausgestreckten Armen auf sie zu und drückte sie herzlich.
»Vany! Wie schön, dass du da bist! Ich habe fast nicht damit gerechnet, dich noch mal auf dem Platz zu sehen.«
Ehrlich sein. Gefühle zeigen.
Sie erhob die Stimme, damit sie sich nicht wiederholen musste. Woher sie die Kraft dazu nahm, wusste sie nicht. Womöglich reichte es, hier zu sein und den alten Teamgeist zu spüren, der ihr früher so viel bedeutet hatte.
»Hallo Leute! Sorry, dass ich euch hängen gelassen hab. Mir ging es ziemlich beschissen und ich hätte es einfach nicht ertragen, herzukommen.«
Verdammt. Jetzt traten ihr die Tränen in die Augen! Sie senkte den Blick, aber plötzlich waren sie alle da. Die Mädels und der Trainer. Sie schlossen einen Kreis um sie, drückten sie, beteuerten ihr, wie sehr sie an sie glaubten und sie vermissten. Jetzt liefen Vany wirklich die Tränen. Sie wusste nicht, wann sie sich zum letzten Mal so glücklich gefühlt hatte. Und dann gab es einen Cut. So plötzlich und unerwartet, als hätte jemand einen Eimer