Dekonstruktion. Peter Engelmann
Читать онлайн книгу.selbst immer höher verschulden mussten. Diese Entwicklung führte schließlich zu einer bis heute andauernden Legitimationskrise des politischen Systems der westlichen Demokratien. Denn es wurde immer schwerer zu erklären und zu verteidigen, dass einer ungekannten privaten Bereicherung nicht eine ebenso radikale Haftung für den Fall von Fehlspekulationen gegenüberstand. Die Summen, die für die Abdeckung der Spekulationsverluste aufgewendet wurden, fehlten zudem für Sozialleistungen der Staaten. Das brachte die Frage nach gesellschaftlichen Alternativen zu Recht wieder auf die Tagesordnung westlicher Demokratien.
Je länger die Krise dauert und je unfähiger die Politik erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre unheilvollen Wirkungen auf die Realwirtschaft und schließlich auf unsere gesellschaftliche Verfassung ausgeschlossen werden können, desto mehr Menschen stellen sich die Systemfrage. Die Occupybewegung ist ein gutes Beispiel dafür, wie selbst die Mittelklasse durch die Bankenkrise antikapitalistisch politisiert wurde. Denn diese Krise zeigte, dass unsere politischen Institutionen nicht in der Lage sind, für unsere westliche Gesellschaft vertretbare Lösungen zu entwickeln. Die bisherigen Maßnahmen der Politik laufen in Europa z.B. auf eine Vergesellschaftung der Schulden hinaus, während die Profite, die mit diesen Krediten gemacht wurden, durchaus privat waren und zu ungeheurem Reichtum bei Bankern führte.
Auf den ersten Blick scheint heute vor allem Wirtschafts- und Finanzwissen gefragt. Aber das allein wird nicht reichen, weil es längst nicht mehr nur um finanztechnische Fragen geht. Inzwischen wird immer klarer, dass die durch die Finanzindustrie induzierte Krise alle Bereiche der Gesellschaft erfasst hat und dabei ist, die Grundlagen unserer westlichen Demokratien zu zerstören. Die Kritik an der Finanzindustrie und an der Politik, die scheinbar hilflos zuschaut wie ein Partikularinteresse an Profitmaximierung durch Spekulation unsere Gesellschaft zerfrisst, hat inzwischen alle Kreise und Schichten unserer Gesellschaft erreicht.
Nachdem die Finanzindustrie trotz ihrer ungeheuren Hebelwirkung auf die Realwirtschaft und auf unsere sozialen und politischen Strukturen, und trotz vieler kluger Vorschläge bis jetzt politisch nicht regulierbar erscheint, werden verständlicherweise immer mehr Metafragen nach unserem System laut, in dem es aus heutiger Sicht unmöglich erscheint, die Finanzindustrie so zu regulieren, dass ihre Profite nicht mehr nur privat eingestrichen und die Kosten der Fehlspekulationen nicht mehr nur gesellschaftlich getragen werden.
Die Suche nach gesellschaftlichen Alternativen drängt sich angesichts der krisenhaften Entwicklung der westlichen Demokratien heute immer stärker auf. Wenn man die ungeheuren gesellschaftlichen Verwerfungen und Zerstörungen des Faschismus und des Sozialismus nicht vernachlässigen will, darf man aber nicht auf die totalitären politischen Konzepte des 20. Jahrhunderts zurückgreifen. Die Frage nach dem gesellschaftlichen System kann nicht mit der einfachen Wiederbelebung eines Systemkonzepts beantwortet werden, das im 20. Jahrhundert unendliches Leid über die Menschen in seinem Einflussbereich gebracht und sich ökonomisch als nicht erfolgreich erwiesen hat.
Heute wird der Kommunismus nicht nur von der Nachfolgepartei der SED, der Linkspartei, wieder als Lösungsmodell für die gegenwärtige Gesellschaftskrise ins Spiel gebracht, sondern auch von Intellektuellen und Philosophen wie Alain Badiou oder Slavoj Žižek.2 Mit der Rückkehr zu historisch längst verworfenen Vorschlägen wird jedoch die Suche nach wirklich neuen Alternativen behindert oder unmöglich gemacht, weil sie die kritischen Energien in eine historische Sackgasse lenkt. Deshalb soll dieses Buch auch eine warnende Stellungnahme zu der heute unbekümmert wieder aufflammenden Sehnsucht nach einer Rückkehr des Kommunismus sein.
Das vorliegende Buch ist von der Überzeugung getragen, dass die Kritik totalitärer Konzepte, die als Ausweg aus den gesellschaftlichen Krisen der Gegenwart gehandelt werden, die Voraussetzung dafür ist, neue Ansätze zur Krisenbewältigung zu finden, die einerseits entschlossen die Missstände unserer Gesellschaft zu beseitigen suchen, andererseits die historischen Fortschritte der westlichen Demokratien dafür nicht aufgeben wollen. Denn erst mit der Ablehnung, historische Fehlentwicklungen zu revitalisieren, wird der Weg dafür frei, neue gesellschaftliche Konzepte zur Überwindung der der unsere Lebensform bedrohenden wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Krise zu erarbeiten.
Das große Thema Jacques Derridas war die Prägung unserer Kultur durch das, was er Metaphysik nannte. Bisher wurde in der Diskussion seiner Thesen meines Erachtens zu wenig beachtet, dass die Metaphysikkritik Derridas eine wesentlich politische Motivation hatte. Mein Buch will diesen Zusammenhang sichtbar machen, indem es Dekonstruktion nicht nur als philosophisch begründetes Konzept erklärt, sondern immer auch den politischen Sinn und die politischen Konsequenzen dieses Unternehmens ins Licht rückt.
Im besten Fall ergeben sich aus diesen Überlegungen philosophische Argumente und Positionen, die uns helfen, bewusst Politikkonzepte gegen Totalitarismus zu entwickeln, die in der Lage sind, ihre eigene Tendenz zu totalitären Positionen zu kontrollieren und immer wieder zu brechen.
Abschließend möchte ich nicht versäumen allen zu danken, die an der Entstehung dieses Buches hilfreich beteiligt waren und so dessen Fertigstellung ermöglicht haben. Mein erster Dank gilt Jacques Derrida, der nicht nur mein Passagen Projekt, sondern auch meine philosophische Arbeit stets gefördert und unterstützt hat. Wolfdietrich Schmied-Kowarzik hat mich auf die Idee gebracht und ermutigt, dieses Buch zu beginnen. Er, Mihály Vajda und Maria Bussmann haben Abschnitte der Arbeit gelesen und durch wertvolle Kritik und Ideen sowie durch viele Anregungen und Ermutigungen zu diesem Buch beigetragen. Bei Eva Luise Kühn, Dario De Rose und Georg Bauer bedanke ich mich für Lektorat, Korrektorat, Kontrolle der Bibliografie, Vereinheitlichung der Zitierweise und Satz. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Passagen Verlages haben mir immer wieder Arbeit abgenommen, sodass ich mich auf die Fertigstellung dieses Buches konzentrieren konnte. Ohne Johanna Hofleitner, Christina Pieber, Markus Mittmansgruber und die oben Genannten hätte ich nicht die Zeit für dieses Projekt gefunden. Schließlich danke ich besonders Alexandra Reininghaus Engelmann nicht nur für ihre geduldige Begleitung und Unterstützung meines Projektes über Jahrzehnte, sondern auch für ihre kompetente Hilfe beim Schlusslektorat dieses Buches.
Einleitung
Die Arbeit an diesem Buch begann mit einer Zusammenstellung von Texten, in denen ich mich mit der Dekonstruktion und ihren philosophischen und semiotischen Wurzeln sowie von Beginn an mit ihrer Beziehung zur Politik beschäftigt hatte. Zunächst wollte ich nur meine verstreut über einen längeren Zeitraum in verschiedenen Zeitschriften und Büchern erschienenen Aufsätze in einem Buch zusammenstellen, um sie so wieder zugänglich zu machen. Bei der erneuten Lektüre dieser Texte bestätigte sich für mich, dass die unterschiedlichen philosophischen Arbeiten, die ich in diesem Buch zusammenfassen wollte, über den langen Zeitraum ihrer Entstehung hinweg aus einem zentralen Motiv gespeist waren. Um diesen Zusammenhang besser sichtbar zu machen, begann ich damit, die vorhandenen Texte zusammenzuführen, immer mehr umzuschreiben und neue hinzuzufügen, bis schließlich aus dieser Arbeit ein neuer Text, das vorliegende Buch, entstand.1 Ich hoffe, dass durch dieses Buch meine philosophische Interpretation des Gesamtzusammenhanges der Dekonstruktion als neues philosophisches Paradigma, ihre Einbettung in philosophische und semiotische Überlegungen sowie ihre Implikationen im Feld der Politik klarer erkennbar und verständlicher werden als zuvor in meinen verstreuten Aufsätzen.
Ich sehe in diesem Buch Dekonstruktion als zeitgenössische Antwort auf sowohl philosophiegeschichtlich als auch durch die politische Geschichte des 20. Jahrhunderts aufgeworfene Fragen. Das Buch bemüht sich daher, Referenzraum, Ziele und Möglichkeiten der Dekonstruktion zu erklären und auf dieser Basis ihre Bedeutung im Feld der Politik zu erläutern. Insbesondere will es herausfinden, ob und wenn ja, auf welche Weise Dekonstruktion ein Potenzial zur Vermeidung von totalitären politischen Strukturen bereitstellen kann.
Nach der anfänglichen Ablehnung der Dekonstruktion als neue philosophische Denkform in Deutschland, nach dem folgenden Hype, ihrer Ausbreitung in die verschiedenen Felder des Wissens, aber auch der Kunst, der Architektur und Literatur, und schließlich nach der Ermattung der Diskussion, ist es nun an der Zeit, Dekonstruktion nüchtern zu betrachten und ihre Bedeutung für unsere Kultur mit einigem Abstand abwägend zu analysieren und zu bestimmen.
Dekonstruktion ist eine philosophische Strategie,