Dekonstruktion. Peter Engelmann

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Dekonstruktion - Peter  Engelmann


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differenzphilosophische Ansätze aufgetreten. Das Postmodernekonzept war dabei zunächst gesellschaftlich und politisch weitaus wirkmächtiger als das Konzept der Dekonstruktion, das eher im Bereich der Kunst und der Literatur Resonanz fand, weil es geeignet schien, kreative Prozesse so zu beschreiben, dass es der Erfahrung von Künstlern und Schriftstellern entsprach. Das postmoderne Wissen von Jean-François Lyotard, im französischen Original 1979 erschienen, wurde zum Referenzbuch einerseits für künstlerische Avantgarden, andererseits für politische Aktivisten außerhalb der organisierten politischen Opposition.1

      Zwar spielte Lyotards Postmodernekonzept vordergründig in der politischen Entwicklung eine wichtigere Rolle als die Dekonstruktion. Diese Rolle ergab sich daraus, dass das Postmodernekonzept direkt als Kritik des Marxismus auftrat und in dieser Auseinandersetzung nicht nur eine philosophische, sondern auch eine politische Position formulierte. Die Dekonstruktion ist jedoch das philosophisch und letztlich auch politisch bedeutendere Konzept, weil sie, wie ich in diesem Buch darlegen möchte, eine neue Möglichkeit politischen Verhaltens erprobt, die nicht von einer Überwindung der Metaphysik ausgeht, da sie anerkennt, dass wir dem Zirkel der Metaphysikkritik nicht entkommen können.

      Gemeinsam war der Postmoderne und der Dekonstruktion nicht nur, dass sie sich als Kritik der Aufklärung zur Erhaltung ihrer Impulse und Ziele verstanden, sondern auch, dass sie die philosophische Kritik mit einem sprachtheoretischen Ansatz verbanden. In einem humanwissenschaftlichen Kontext, der die Wissenschaftlichkeit der Geisteswissenschaften durch semiotische Fundierung erreichen wollte, wie es etwa Claude Lévi-Strauss für die anthropologische Forschung getan hatte oder Algirdas J. Greimas für die Wissenschaftstheorie versuchte, war ein kritisches Denken auf die Problematisierung der Sprache als Grundlage für die Reformulierung sowohl gesellschaftskritischer als auch weiter zu den philosophischen Grundannahmen vordringender Ansätze verwiesen.

      In je verschiedenen semiotischen und sprachphilosophischen Kontexten sahen Derrida und Lyotard bei der Sprache den Ansatzpunkt, sich aus den Bindungen tradierter Denkweisen zu lösen und sowohl neue Erkenntnismöglichkeiten im wissenschaftlichen, philosophischen und ästhetischen Feld zu erarbeiten als auch in der Folge neue Handlungsansätze im Raum gesellschaftlichen und politischen Handelns zu entwickeln. Während sich das differenzphilosophische Konzept Postmoderne von Lyotard auf diskursanalytische Überlegungen stützt und auf der Ebene von Sätzen ansetzt, geht Derridas differenzphilosophisches Konzept der Dekonstruktion von zeichentheoretischen Überlegungen aus und setzt auf der Zeichenebene bei der unmittelbaren Bedeutungskonstitution an.

      Wenn im Folgenden das differenzphilosophische Konzept der Dekonstruktion eingehender betrachtet werden soll als das Postmodernekonzept, dann deshalb, weil ich davon ausgehe, dass die zeichentheoretische Ebene die elementarere Ebene ist und deshalb ein differenzphilosophisches Konzept auf dieser Ebene tragfähiger sein müsste.

      In der Diskussion um Postmoderne und Dekonstruktion taucht häufig der Vorwurf auf, sie seien keine rationalen Theorien. Auf philosophischer Ebene werden sie als Theorien angegriffen, die ihre Rationalität im Raum der philosophischen Diskursivität nicht argumentieren könnten.2 Diese meist nicht begründete Feststellung wird dann als Argument benutzt, Postmoderne und Dekonstruktion ohne weitere Auseinandersetzung abzulehnen. Dagegen möchte ich hier zeigen, dass sowohl Postmoderne als auch Dekonstruktion rational argumentierende Theorien im Sinne der Normen traditioneller philosophischer Diskursivität sind.

      Beide differenzphilosophischen Konzepte berufen sich auf anerkannte philosophische Theorien und leiten sich von ihnen ab. Sowohl Postmoderne als auch Dekonstruktion betrachte ich als zeitgenössische Ansätze eines differenzphilosophischen Denkens, das sich dadurch auszeichnet, dass es im Lauf der Philosophiegeschichte immer wieder den Standpunkt des Individuellen gegen eine es subordinierende und beherrschende Abstraktion als legitimen Gesichtspunkt in den Diskurs einzuführen versuchte. Sofern sich der Gesichtspunkt des Individuellen oder des Heterogenen nicht in einem auf Diskursivität verzichtenden Gestus verlor, suchten differenzphilosophische Überlegungen immer wieder nach Anerkennung im argumentativen Kontext der Identitätsphilosophien, denen sie sich kritisch entgegensetzten, weil ihnen der Standpunkt des Individuellen, des Heterogenen, zu wenig Beachtung oder Anerkennung fand.

      Die Schwierigkeit solcher, auf die Aufwertung von Heterogenem, Individuellem oder Besonderem zielenden Kritiken der Philosophie ist aber, dass der sogenannte identitätsphilosophische Diskurs das Individuelle nicht einfach vergisst, sondern in sein System eingearbeitet hat. Philosophisches Denken, auch nicht identitätsphilosophisches Denken, zielt nicht auf ein Vergessen des Heterogenen, sondern auf seine Vermittlung mit einem Allgemeinen. Wenn es in diesem Prozess zu einem Vergessen oder Entwerten des Heterogenen kommt, dann geschieht das als Ergebnis einer argumentierten Vermittlung dorthin. Wenn philosophisches Denken sich nun motiviert sieht, Heterogenes wieder verstärkt zur Geltung zu bringen und seine Rechte gegen eine gefühlte Übermacht eines Allgemeinen zu stärken, so kann das nur sinnvoll sein als Versuch, im Rahmen der Philosophie zu argumentieren und den philosophischen Diskurs so zu verändern, dass in ihm Heterogenes seinen Eigensinn verstärkt kenntlich machen kann.

      Im Mai 1982 habe ich in Paris Gespräche mit Michel Foucault, Jacques Rancière, Jean-François Lyotard, Vincent Descombes und Michel Serres geführt.3 Diese Gespräche vermitteln einen lebendigen Eindruck der damaligen gesellschaftlichen und politischen Situation sowie ihrer Beurteilung durch die damals aktiven und an den gesellschaftlichen Auseinandersetzungen beteiligten Philosophen. Sie können die Gedankenwelt dieser Umbruchzeit näherbringen und so das Umfeld und die Atmosphäre, in dem Postmoderne und Dekonstruktion entstanden sind, nachvollziehbar machen. Nachdem wir hier auch die politische Dimension der Dekonstruktion mitbedenken wollen, können uns die Andeutung des sozio-historischen Panoramas und die persönlichen Statements der französischen Intellektuellen zumindest Hinweise darauf liefern, wie die damalige philosophische Umwälzung gemeint war. Daher führen wir hier einige Statements aus diesen Gesprächen an.

      Im europäischen Vergleich ist Frankreich traditionell ein stark zentralisiertes Land, das deshalb eine eingeschränkte Reformfähigkeit hat, was wiederum zu einer Revoltenkultur führt, die man beispielsweise im föderalistisch organisierten Deutschland nicht kennt. Während in Deutschland der Interessensausgleich über die verschiedenen föderalen Strukturen läuft, gibt es in Frankreich immer wieder Revoltenschübe, die Probleme auf die Straße tragen, die von der Verwaltung und der politischen Klasse nicht gelöst werden.

      Wissenschaftssoziologisch ist es deshalb nicht verwunderlich, dass die relevanten zeitgenössischen differenzphilosophischen Ansätze zur Zeit einer besonders ausgeprägten Krise des französischen Zentralstaats in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt wurden. Die Militarisierung des französischen Staates durch die Résistance als Antwort auf die deutsche Besatzung im Zweiten Weltkrieg sowie später durch den Algerienkrieg, hat die ohnehin schon zentralistische Verfassung Frankreichs noch einmal verstärkt. Diese Militarisierung des öffentlichen Lebens ließ wenig Spielraum für die Entfaltung der Zivilgesellschaft in Frankreich, wie sie zur gleichen Zeit von den westlichen Siegermächten in Westdeutschland erzwungen wurde. Frankreich fiel die Rückkehr zur Zivilgesellschaft schwer, weshalb notwendige Reformen der Nachkriegszeit immer wieder aufgeschoben wurden, bis die Studentenbewegung 1968 den gesellschaftlichen Umbruch durch die Revolte erzwang.

      Als intellektuelle Vorläufer und philosophische Wegbereiter und Begleiter der 68er-Revolte finden wir eine Reihe französischer Philosophen und Schriftsteller, die auf dem Gebiet der Philosophie die Revolte der Differenzphilosophie gegen die vorherrschende Identitätsphilosophie als intellektuelle Basis zentralistischen Denkens betrieben. Derrida, Lyotard, Deleuze, Michel Foucault entwickelten jeweils eigene differenzphilosophische Ansätze. Diese Ansätze waren in unterschiedlichem Maße als politische Philosophien konzipiert. Während Foucault, Deleuze und Lyotard ihre theoretische Arbeit eher als politische Aktivisten betrieben und in den Dienst ihrer politischen Engagements stellten, sah sich Derrida nicht in erster Linie als politischen, sondern eher als theoretisch arbeitenden Philosophen, der allerding im Lauf der Jahre zu vielen politischen Fragen Stellung beziehen sollte.


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