Christina, Band 1: Zwillinge als Licht geboren. Bernadette von Dreien
Читать онлайн книгу.herausfordernden Situation meist ruhig und friedvoll, wenngleich ihr die körperlichen Strapazen ins Gesicht geschrieben standen – zeitweise mehr, zeitweise weniger. Ich ahnte damals nicht, dass sie konstant mit sehr lichtvollen höheren Sphären in Verbindung stand. Ihre tiefe innere Zufriedenheit und ihr strahlendes Lachen spendeten mir tagtäglich eine unsagbare Energie. Ja, sie verzauberte die Menschen geradezu. So gelang es auch mir, nicht zu klagen oder gar zu verzweifeln. Mir war durchaus bewusst, das alles noch viel schlimmer hätte sein können. In Zahlen ausgedrückt, hatte Christina lediglich eine Chance von etwa 12%, die Strapazen ihrer extremen Frühgeburt ohne spätere Folgeschäden zu überstehen. Außerdem bekam ich während der Jahre im Kinderspital derart viele wirklich kranke Kinder zu Gesicht, dass ich Christinas Leben ganz einfach als ein großes Geschenk ansah, wenngleich es wohl eher einem Wunder gleichkam.
Wie erstaunlich sich ein Leben durch seinen eigenen Willen und durch die schöpferische Energie durchsetzen kann, beschrieb Christina Jahre später mit den folgenden Worten: «Biologische Berechnungen können so perfekt sein, dass sie sich gegen die mathematischen Berechnungen stellen. Wenn dein Wille auf den Willen des Lebens ausgerichtet ist, dann erwacht eine Kraft in dir, die so unaufhaltsam und so unanfechtbar ist, dass sich die Kräfte des Universums in Ehrerbietung verneigen. Selbst die widrigsten unter ihnen haben nichts entgegenzusetzen angesichts der klaren Absichten, die das Leben hat. Denn ein Leben kann jedes Multiversum bis auf seinen Kern erschüttern. Jeder Mensch, jedes Wesen hat einen Instinkt für sein Überleben. Schau dir eine Blume an: Ihr Leben ist reine Spontaneität. Wenn ein Leben nur dann entscheiden würde, dass es leben möchte, wenn die Umstände um das Leben herum gut sind, dann wäre das lächerlich. Das wäre etwa so, als würde man nur dann etwas tun, wenn es einem jemand befiehlt, oder als würde man jemanden nur dann lieben, wenn diese Person es von einem verlangt. Ob ein Leben gedeiht, hängt nicht vom äußeren Umstand ab. Leben entsteht genauso auch dort, wo keine guten Lebensumstände sind. Die Natur unterliegt keiner militärischen Befehlskette.»
Während Christinas Weg weiterhin schwierig war, entwickelte Mario sich erfreulicherweise sehr schnell. Er begann mit elf Monaten, auf seinen eigenen zwei Beinchen die Welt zu erkunden, und war insgesamt ein wahrer Wonneproppen. Christina aber hatte nach wie vor mit vielen Herausforderungen zu kämpfen: Magengeschwüre, Darmverschluss, Abszesse in der Speiseröhre aufgrund der Refluxkrankheit, welche mitsamt den Mandeln herausoperiert wurden. Solche Erkrankungen warfen sie in ihrer ohnehin verzögerten Entwicklung immer wieder um Monate zurück.
Anlässlich eines der vielen Aufenthalte in der Kinderklinik begab sich ein unerklärliches Ereignis. Ich verbrachte eine ganze Woche mit Christina in der Klinik und versorgte sie Tag und Nacht. Da sich das Sondieren derart schwierig gestaltete, konnte und wollte ich dies dem Personal nicht zumuten. Eines Abends war ich todmüde und wusste, dass ich nun einfach irgendwo ein paar Stunden Schlaf am Stück benötigte. So instruierte ich die junge Nachtschwester darüber, um welche Uhrzeit, was und wie viel sie zu sondieren hätte. Mehrfach erklärte ich ihr deutlich, dass sie keinen Sondentropf anhängen dürfe, da Christina die übliche Sondennahrung nicht vertrage und große Mengen schon gar nicht. Danach legte ich mich gegen Mitternacht erschöpft in einem ruhigen Nebenraum schlafen.
Dann geschah das Ungewöhnliche: Es war gegen 04:00 Uhr morgens, und es fühlte sich deutlich so an, als ob mich jemand berührt hätte, doch ich sah niemanden im Zimmer. Naheliegend wäre jetzt gewesen, mich einfach umzudrehen und weiterzuschlafen, aber in mir machte sich das klare Gefühl breit, dass Christina in Gefahr war – ein Empfinden, das ich in dieser Art zuvor noch nie erlebt hatte. Fast panikartig verließ ich den Raum und eilte umgehend in Christinas Zimmer. Was ich nun erlebte, bestätigte mir einmal mehr, dass ich mich auf meinen Instinkt, auf meine innere Führung verlassen kann.
Die Nachtschwester hatte, entgegen meinen expliziten Anweisungen, einen ganzen Liter Flüssignahrung angehängt! Dies entsprach in etwa der Menge, die Christina üblicherweise über mehrere Tage aufzunehmen vermochte – dann allerdings bloß milliliterweise und in regelmäßigen Abständen über den Tag verteilt. Das Kind lag flach auf dem Rücken in seinem Bettchen, fixiert in einem Anzug, der mit der Matratze verbunden war, so dass sie nicht aufstehen konnte. Christina war hellwach und schaute mich Hilfe suchend mit großen Augen an, weinte aber nicht. Sie rang nach Luft und hustete, und ich vernahm ein glucksendes Geräusch: Die Sondenmilch lief über den Schlauch durch die Bauchdecke direkt in den kleinen Magen. Da ihr Darm keine großen Mengen verarbeiten konnte, lief die gesamte künstliche Nahrung in die umgekehrte Richtung über die Speiseröhre wieder aus ihrem Mund und aus ihrer Nase heraus. Hätte ich sie nicht entdeckt, wäre sie womöglich in dieser Nacht erstickt, ohne dass es jemand bemerkt hätte.
Dieser Vorfall auf der Neonatologie-Station war ein schockierendes Erlebnis für mich. Dennoch lag es mir fern, ein Drama zu veranstalten. Denn ich war dem Pflegepersonal der Intensivstation nebenan noch immer zutiefst dankbar dafür, dass sie sich monatelang derart engagiert für das Überleben der Zwillinge eingesetzt hatten. Mir war klar, dass bei diesem Ereignis eine höhere Macht die Hand im Spiel hatte. Zum Glück hatte ich auf meine innere Stimme gehört.
Im Laufe der kommenden Jahre sollte es immer wieder zu ähnlichen wundersamen Begebenheiten kommen. Viele von ihnen wären womöglich in der Vergessenheit verblieben, wenn ich mich im Zuge des Schreibens dieses Buches nicht darum bemüht hätte, mich an sie zu erinnern.
Als Christina etwa dreieinhalb Jahre alt war, gaben die Ärzte die Hoffnung auf, dass das Mädchen jemals würde normal essen und trinken können. Der einjährige Mario aber wirkte wie ein Zugpferd für seine Schwester. Wenn Christina ihn genüsslich essen sah, versuchte sie, es ihm gleichzutun, doch alle ihre verzweifelten Bemühungen, auch nur ein winziges Teilchen des Essens herunterzuschlucken, scheiterten. Es war offensichtlich: Sie wollte zwar schlucken und essen, aber ihr Körper schien dazu nicht in der Lage zu sein.
Daher waren wir nicht bereit, aufzugeben. Ich war weiterhin der festen Überzeugung, dass dieses Kind, das einen so wachen Geist in sich trug, auch irgendwann würde selbständig essen und trinken können. Mit dieser Hoffnung stand ich allerdings nahezu alleine da. Immer wieder forderte ich die Ärzte auf, Christinas Fall nochmals gründlich abzuklären. Schließlich wurde entschieden, eine umfangreiche interdisziplinäre Abklärung in die Wege zu leiten, mit einem Magen/Darm-Spezialisten, einem Physiotherapeuten, einigen Internisten sowie einer Logopädin und einem Kinderpsychologen. Sie alle erstellten mittels diverser Untersuchungen und zahlreicher Tests ein umfassendes Bild von Christinas Zustand. Zu diesem Zweck wurde sie sowohl zu Hause als auch in der Klinik während Stunden gefilmt, so dass ihr Verhalten von den Spezialisten analysiert und ausgewertet werden konnte.
Aus psychologischer Sicht war auch eine Essblockade infolge eines unverarbeiteten Traumas nicht auszuschließen, denn immerhin hatte Christina in ihrer jüngsten Kindheit massivste mechanische Eingriffe im Mund-Rachen-Raum hinnehmen müssen. Oder vermisste sie etwa ihre Zwillingsschwester? (Ich für meinen Teil hatte niemals den Eindruck, dass sie Elena vermisste. Irgendwie spürte ich das.) Oder lag das Problem gar bei mir? – Nach einigen Sitzungen kam der Psychologe zum Schluss, dass sich weder bei mir noch bei Christina eine entsprechende psychische Problematik finden lasse.
Den entscheidenden Lösungsansatz fand die Logopädin, der aufgefallen war, dass Christina kaum je etwas mit den Händen anfasste und schon gar nicht sich etwas in den Mund steckte, wie das Kleinkinder üblicherweise zu tun pflegen. Daher hatten sich auch die Mundmotorik und der Schluckreflex bisher nicht entwickeln können. Da Christina mein erstes Kind war, war mir dies nicht aufgefallen. Zum einen war ich es ohnehin gewohnt, keine Vergleiche mit anderen Kindern zu ziehen, und zum anderen ließ ihr waches Wahrnehmen ihrer Umgebung nie auf irgendwelche Defizite schließen. Ich hatte nie den Eindruck, dass es ihr an Wissen fehlte, wie sie mit einem Gegenstand oder mit einem anderen Lebewesen umzugehen hatte. Im Gegenteil schien sie jede Situation äußerst gut und intelligent einschätzen zu können und wirkte niemals unsicher, unbeholfen oder tollpatschig. Sie wusste mit jedem Wesen sorgsam umzugehen, einschließlich ihrer selbst, und so war es nie zu irgendwelchen gefährlichen Stürzen, Verbrennungen oder dergleichen gekommen. Generell war ein «Erziehen» bei Christina nicht erforderlich, denn sie lebte ganz aus sich selbst heraus auf wundersame Art und Weise ein völlig stimmiges Leben. Dies alles war außergewöhnlich, aber es fiel mir erst jetzt, nach dieser Analyse, auf.
Auf