Klima, Sprache und Moral. Eine philosophische Kritik. Johannes Müller-Salo

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Klima, Sprache und Moral. Eine philosophische Kritik - Johannes Müller-Salo


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und Normen gelangen kann. Dabei herrscht eine unter Philosophierenden verblüffend große Einigkeit darüber, dass ein direkter Schluss von den Fakten auf die Werte und Normen nicht möglich ist. Wer das tut, der denkt nicht klar, der begeht einen logischen und argumentativen Fehler.

      In einem normativen Urteil wird immer sowohl auf Tatsachen als auch auf Normen zurückgegriffen, die unabhängig voneinander begründet werden müssen. Gleiches gilt für ein Werturteil. Auch dieses folgt nicht unmittelbar aus der Beschreibung einer Tatsache. Vielmehr müssen die der Wertung zugrunde gelegten Wertmaßstäbe eigenständig begründet werden. Das Tatsachenurteil: »Das ist eine aussterbende Pflanze« ist qualitativ etwas völlig anderes als das normative Urteil: »Diese aussterbende Pflanzenart muss geschützt werden« oder das (ästhetische) Werturteil: »Diese aussterbende Pflanzenart ist von besonderer Schönheit«.

      Die Klimawissenschaften zeichnen ein überaus komplexes und facettenreiches, in seiner Kernbotschaft jedoch eindeutiges Bild der Lage: Vor allem durch die Verwendung fossiler Brennstoffe, aber auch durch andere Handlungen wie etwa das Brandroden von Wäldern sorgt der Mensch dafür, dass die Konzentration von Treibhausgasen wie Kohlenstoffdioxid (CO2) und Methan (CH4) in der Erdatmosphäre beständig steigt. Der für das Klima auf der Erde entscheidende natürliche Treibhauseffekt wird dadurch massiv verstärkt, der Mensch somit zum Verursacher eines globalen Klimawandels mit weitreichenden Folgen.

      Bereits jetzt liegt die Durchschnittstemperatur der erdnahen Atmosphäre etwas mehr als 1 °C höher im Vergleich zur Durchschnittstemperatur des vorindustriellen Zeitalters. Die erhöhte Treibhausgaskonzentration führt zur Versauerung der Ozeane mit gefährlichen Folgen für maritime Ökosysteme. Der Temperaturanstieg lässt Gletscher und Eisflächen schmelzen. Und das führt nicht nur zu einem Anstieg der Meeresspiegel, sondern zu einer weiteren Beschleunigung der Erwärmung.

      Klimawissenschaftler prognostizieren eine Erwärmung von drei bis vier Grad bis zum Ende des Jahrhunderts, sollten nicht in kurzer Zeit effektive Maßnahmen zur völligen Umstellung der gesellschaftlichen Lebens- und Wirtschaftsweise mit dem Ziel der Klimaneutralität ergriffen werden. Sie warnen insbesondere davor, dass das Erdsystem schon bei einer Erwärmung um mehr als 1,5 °C gefährliche Kipppunkte (tipping points) erreichen könnte, an denen irreversible Entwicklungen in Gang gesetzt werden. Hieraus ergibt sich die klimapolitische Zielsetzung der Begrenzung der Erderwärmung auf deutlich unter 2 °C, wie sie etwa im Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 festgelegt worden ist.

      Die Corona-Pandemie hat der breiten Öffentlichkeit noch einmal in aller Deutlichkeit die Funktionsweise wissenschaftlicher Forschung vor Augen geführt: Zur Wissenschaft gehört der kontroverse Austausch über die Bewertung von Forschungsergebnissen ebenso wie die Entwicklung konkurrierender Modelle, Hypothesen und Theorien. Es gibt nicht »die« eine und immer eindeutige Wissenschaft, und es gibt – gerade Klimawissenschaftlerinnen und Klimawissenschaftler betonen das mit Nachdruck – stets drängende offene Fragen. Produktiver Dissens innerhalb der Wissenschaft verlangt Diskussionen, die neue Erkenntnisse hervorbringen. Berechtigte Hinweise auf Ungeklärtes können jedoch nicht verdecken, dass sowohl über die grundlegenden Erkenntnisse zum Klimawandel als auch über seine anthropogenen Ursachen und negativen Folgen ein weitreichender Expertenkonsens besteht.

      Entsprechend lassen die Ergebnisse der klimawissenschaftlichen Forschung keine Zweifel daran, dass der Klimawandel für die verschiedenen Ökosysteme des Planeten wie auch für den Menschen eine große Gefahr darstellt. Wasserknappheit, wachsende Ernährungsunsicherheit, sprunghafter Anstieg der Klimamigration, Überflutungen infolge steigender Meeresspiegel, Zunahme von Dürren, Stürmen, Hitzewellen und anderen Extremwetterereignissen: Die Liste der zu erwartenden, extrem negativen Klimawandelfolgen ist lang.

      Die Klimawissenschaften liefern somit ein differenziertes Bild der Tatsachen. Sie beschreiben, was ist und was mit hoher Wahrscheinlichkeit sein wird, wenn sich an der menschlichen Lebensweise nichts ändert. Von einer Norm oder einer Wertung, von einem: »Die Menschheit soll …« kann in seriöser Klimawissenschaft keine Rede sein. Dies ist auch richtig so, da aus den Fakten zum Klimawandel keine Normen und Werte abgeleitet werden können, ohne einen Fehlschluss zu begehen.

      Wie gelangt die Klimapolitik aber dann zu Normen und Werten, aus denen sie unter Rückgriff auf das von den Klimawissenschaften bereitgestellte Tatsachenwissen ihre konkreten Handlungsziele herleitet? In der philosophischen Klimaethik wird diese Frage intensiv diskutiert, in öffentlichen klimapolitischen Diskussionen hingegen wird sie kaum gestreift: Sie ist die große Leerstelle des gesellschaftlichen Klimadiskurses.

      Der Befund mag verwundern: Handelt es sich bei der »Leerstelle« nicht vielmehr um eine Selbstverständlichkeit, die nur aufgrund ihrer Offensichtlichkeit nicht näher erörtert wird? Ist nicht allen klar, worum es geht, was auf dem Spiel steht? Wir müssen zukünftigen Generationen einen bewohnbaren Planeten hinterlassen, ihnen die Ressourcen sichern, die sie für ein gutes Leben auf Erden benötigen werden. Wir müssen die potenziell desaströsen Folgen des Klimawandels für das Gedeihen einer Vielfalt von Lebewesen auf der Erde abwenden. Wir müssen globale klimatische und ökologische Entwicklungen stoppen, die insbesondere viele der ohnehin schon ärmsten Länder der Welt vor weitere enorme Schwierigkeiten stellen und damit die sozialen Probleme der Menschheit deutlich verschärfen werden.

      Diese kurze Aufzählung macht eines sofort deutlich: Es kann um sehr Verschiedenes gehen, um das Leben zukünftiger Menschen, um die Ressourcen Zukünftiger, um das gute Leben Zukünftiger, um das gegenwärtige Leben vieler Menschen im globalen Süden, um das Leben vieler nicht-menschlicher Lebewesen oder um den Erhalt der für den Menschen nützlichen Biodiversität, um nur einige Punkte zu nennen. Die verschiedenen Punkte bilden mehr als nur die Seiten einer Medaille. Denn die Antworten auf die zentralen Fragen der Klimapolitik – Wer ist für was verantwortlich? Wer muss welchen Beitrag leisten? Und warum? – hängen entscheidend davon ab, welcher der genannten Aspekte in den Vordergrund gestellt wird, welche konkreten Normen und Werte zugrunde gelegt werden. Oder anders formuliert: Die Rede von einer Leerstelle in der klimapolitischen Debatte ist so lange zutreffend, wie im öffentlichen Diskurs stillschweigend davon ausgegangen wird, dass eigentlich klar ist, warum genau und mit Blick auf wen der Klimawandel ein moralisches Problem ist.

      Die dichten Begriffe des Klimadiskurses

      Auch in der klimapolitischen Debatte gilt: Eine Forderung ist dann gut begründet, wenn sie auf einer überzeugenden Verbindung von Tatsachen über den Klimawandel mit plausiblen Normen und Werten beruht. Die nötigen empirischen Befunde liefern die Klimawissenschaften. Was aber ist mit den Normen und Werten?

      Meine zentrale These lautet, dass die entscheidenden Normen und Werte in der öffentlichen Debatte um Klimapolitik selten deutlich expliziert und präzise formuliert werden. Sie sind im Diskurs vielmehr in Gestalt komplexer Begriffe und damit in impliziter Form präsent.

      Nicht selten handelt es sich bei diesen Begriffen um dichte Begriffe. Die Philosophie versteht unter einem dichten Begriff einen Begriff, in dem bewertende (evaluative) und beschreibende (deskriptive) Komponenten aufs engste miteinander verknüpft sind. In dichten Begriffen werden Sachverhalte zugleich erfasst und beurteilt. Oftmals sind dichte Begriffe nicht einfach zu durchschauen, da der Übergang von der Beschreibung zur Bewertung kaum einzugrenzen ist. Auch wird bei erkennbar evaluativen Verwendungen dichter Begriffe oftmals die Grundlage des wertenden Urteils gar nicht herausgestellt oder erläutert. Der Hörer denkt sich seinen Teil dazu, der konkrete Maßstab der Bewertung bleibt unausgesprochen.

      Ein prominentes Beispiel für einen dichten Begriff ist der Begriff der Natur. Als »natürlich« können in beschreibender, deskriptiver Absicht Prozesse bezeichnet werden, die etwa nach den Gesetzmäßigkeiten der Physik oder Biologie ablaufen und entsprechend wissenschaftlich analysiert werden können. Oftmals wird »natürlich« jedoch in einem evaluativen Sinne verwendet und mit in solchen Kontexten zumeist negativ konnotierten (und dann ebenfalls in wertender Absicht verwendeten) Begriffen wie »künstlich« oder »technisch« kontrastiert. Wer etwa mit Blick auf den Schutz eines bestimmten Waldgebietes verlangt, in natürliche Prozesse solle nicht eingegriffen werden, der nimmt erstens auf (natur-)wissenschaftlich beschreibbare Prozesse Bezug, die er aber zweitens als natürliche Prozesse positiv bewertet.


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