Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac


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Und auf der Li­nie, die die Tat­sa­che vom Wort, die Ma­te­rie vom Geis­te trennt, steht Mau­gre­die und zwei­felt. Das Ja und Nein der Men­schen ver­folgt mich im­mer! Über­all das ›Ca­ry­ma­ry, Ca­ry­ma­ra‹ des Ra­be­lais: ich bin geis­tig krank, Ca­ry­ma­ry! Oder kör­per­lich krank, Ca­ry­ma­ra! Ob ich am Le­ben blei­be? Sie wis­sen es nicht. Da war doch Plan­chet­te ehr­li­cher, als er mir sag­te: Ich weiß nicht.«

      In die­sem Au­gen­blick ver­nahm Va­len­tin die Stim­me des Dok­tor Mau­gre­die: »Der Kran­ke ist ein Mo­no­ma­ne, schön, ein­ver­stan­den!« rief er; »aber er hat zwei­mal 100 000 Li­vres jähr­lich. Mo­no­ma­nen der Art sind sel­ten, und wir schul­den ih­nen min­des­tens einen Rat. Was die Fra­ge an­geht, ob sein Epi­ga­stri­um auf das Hirn ge­wirkt hat oder das Hirn auf sein Epi­ga­stri­um, so kön­nen wir sie viel­leicht nach sei­nem Tode be­ant­wor­ten. Ma­chen wir es also kurz. Daß er krank ist, ist nicht zu be­strei­ten. Ir­gend­wie muß er also be­han­delt wer­den. Las­sen wir die Lehr­mei­nun­gen bei­sei­te. Set­zen wir ihm Blut­egel an, um die in­ne­re Rei­zung und die Neu­ro­se, über de­ren Vor­han­den­sein wir uns ei­nig sind, zu be­sei­ti­gen, und dann schi­cken wir ihn in ein Bad; auf die­se Wei­se wen­den wir bei­de Sys­te­me zu­gleich an! Ist er schwind­süch­tig, dann kön­nen wir ihn so­wie­so kaum ret­ten; also …«

      Ra­pha­el ver­ließ schnell sein Ver­steck und be­gab sich wie­der in sei­nen Lehn­stuhl. Bald ka­men die vier Ärz­te aus dem Ar­beits­zim­mer. Horace führ­te das Wort und sag­te zu ihm: »Die Her­ren ha­ben ein­stim­mig die Not­wen­dig­keit ei­ner so­for­ti­gen Be­hand­lung mit Blut­egeln in der Ma­gen­ge­gend an­er­kannt. Fer­ner ist es nö­tig, Ihr Lei­den zu­gleich phy­sisch und psy­chisch zu be­han­deln. Zu­nächst eine pas­sen­de Diät, um die Rei­zung Ihres Or­ga­nis­mus zu be­ru­hi­gen …«

      Hier mach­te Bris­set ein Zei­chen der Zu­stim­mung.

      Hier war ein Kopf­ni­cken des Dok­tor Caméris­tus zu ver­zeich­nen.

      »Die­se Her­ren«, fuhr Bian­chon fort, »ha­ben in Ihrem At­mungs­ap­pa­rat leich­te Ver­än­de­run­gen be­merkt und ha­ben ein­hel­lig mei­nen bis­he­ri­gen Vor­schrif­ten zu­ge­stimmt. Sie sind der Mei­nung, daß Ihre Hei­lung nicht schwer sein wird und von ei­nem klu­gen Wech­sel in der An­wen­dung die­ser ver­schie­de­nen Mit­tel we­sent­lich ab­hängt … Und …«

      »Und nun sind wir so klug wie vor­her!« sag­te Ra­pha­el lä­chelnd, wäh­rend er Horace in sein Ar­beits­zim­mer führ­te, um ihm das Ho­no­rar für die über­flüs­si­ge Kon­sul­ta­ti­on aus­zu­hän­di­gen.

      Ei­nen Mo­nat spä­ter wa­ren an ei­nem schö­nen Som­mer­abend ei­ni­ge Ba­de­gäs­te von Aix nach der Rück­kehr von der Pro­me­na­de in den Sa­lons des Kur­hau­ses ver­sam­melt. Ra­pha­el saß an ei­nem Fens­ter und wand­te der Ge­sell­schaft den Rücken. So saß er lan­ge al­lein; er war in ein stump­fes Brü­ten ver­sun­ken, in dem un­se­re Ge­dan­ken kom­men, sich ver­schlin­gen und ver­lö­schen, ohne rech­te Ge­stalt an­zu­neh­men, und wie leich­te kaum ge­färb­te Wol­ken in uns ver­flie­gen. Die Trau­er ist in die­sem Zu­stand sanft, die Freu­de sche­men­haft, und die See­le schlum­mert. So über­ließ sich Va­len­tin die­sem Le­ben der Sin­ne, er­quick­te sich an der lau­en At­mo­sphä­re des Abends und sog die rei­ne, wür­zi­ge Ber­g­luft ein. Er war glück­lich, kei­nen Schmerz zu füh­len und sein dro­hen­des Cha­grin­le­der end­lich zur Ruhe ge­bracht zu ha­ben. Die ro­ten Töne der Abend­däm­merung er­lo­schen auf den Gip­feln, es wur­de küh­ler. Er ver­ließ sei­nen Platz und schloß das Fens­ter.

      »Ha­ben Sie die Güte, Mon­sieur«, sag­te eine alte Dame zu ihm, »das Fens­ter nicht zu schlie­ßen! Wir er­sti­cken.«

      Die­ser Satz klang Ra­pha­el selt­sam schrill und wi­der­wär­tig im Ohr; er war wie das Wort, das ei­nem Freund, auf den wir bau­ten, un­vor­sich­tig ent­schlüpft und das den sü­ßen Wahn der Freund­schaft zer­reißt und uns in einen Ab­grund des Ego­is­mus bli­cken läßt. Der Mar­quis warf der al­ten Dame den küh­len Blick ei­nes un­zu­gäng­li­chen Di­plo­ma­ten zu, rief dann einen Die­ner und be­fahl die­sem tro­cken: »Öff­nen Sie das Fens­ter!«

      Bei die­sen Wor­ten brei­te­te sich auf al­len Ge­sich­tern leb­haf­tes Be­frem­den aus. In der Ge­sell­schaft ent­stand ein Ge­flüs­ter, und man blick­te den Kran­ken mit mehr oder we­ni­ger be­red­ter Mie­ne an, als hät­te er sich sehr un­ziem­lich be­nom­men. Ra­pha­el, der sei­ne frü­he­re Jüng­lings­schüch­tern­heit noch nicht ab­ge­legt hat­te, spür­te eine Re­gung von Scham; aber er schüt­tel­te sei­ne Er­star­rung ab, ge­wann sei­ne Ener­gie zu­rück und frag­te sich, was die­se selt­sa­me Sze­ne wohl be­deu­te. Blitz­ar­tig kam Le­ben in sei­ne Ge­dan­ken, die Ver­gan­gen­heit er­schi­en ihm in ei­ner deut­li­chen Vi­si­on: die Ur­sa­chen der Ge­füh­le, die er her­vor­rief, spran­gen scharf her­vor wie die Adern ei­nes Leich­nams, an dem die Prä­pa­ra­to­ren durch eine zweck­dien­li­che Ein­sprit­zung die ge­rings­ten Ver­äs­te­lun­gen ge­färbt ha­ben; er sah sich selbst in die­sem flüch­ti­gen Bil­de, ver­folg­te sein Le­ben, Tag für Tag, Ge­dan­ken für Ge­dan­ken; er sah sich, nicht ohne Über­ra­schung, düs­ter und zer­streut in­mit­ten die­ser la­chen­den Welt; er ge­wahr­te sich, wie er im­mer über sein Schick­sal nach­grü­bel­te, mit sei­nem Lei­den be­schäf­tigt war, das harm­lo­ses­te Ge­spräch an­schei­nend ver­schmäh­te, wie er die flüch­ti­gen Ver­trau­lich­kei­ten scheu­te, die sich zwi­schen Rei­sen­den schnell ein­stel­len, weil sie zwei­fel­los da­mit rech­nen, ein­an­der nie wie­der zu be­geg­nen; er war kaum um die an­de­ren be­küm­mert und glich letzt­end­lich je­nen Fel­sen, die ge­gen das Ko­sen wie ge­gen das Wü­ten der Wo­gen un­er­schüt­tert blei­ben. Jetzt las er mit ei­ner sel­te­nen Gabe der In­tui­ti­on in al­len See­len: im Schein ei­nes Leuch­ters ent­deck­te er den gel­ben Schä­del und das hä­mi­sche Pro­fil ei­nes Grei­ses und er­in­ner­te sich, daß er ihm sein Geld ab­ge­won­nen hat­te, ohne ihm Re­van­che ein­zuräu­men; ein Stück wei­ter saß eine hüb­sche Frau, ge­gen de­ren ko­ket­te Win­ke er kalt ge­blie­ben war; je­des Ge­sicht warf ihm ein an­schei­nend un­er­klär­li­ches Un­recht vor, sein Ver­bre­chen be­stand in­des im­mer in ei­ner un­sicht­ba­ren Ver­let­zung der Ei­gen­lie­be. Un­ge­wollt


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