Honoré de Balzac – Gesammelte Werke. Honore de Balzac

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Honoré de Balzac – Gesammelte Werke - Honore de Balzac


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Schön­hei­ten, ver­lo­ckend in wol­lüs­ti­gen Ver­klei­dun­gen: die eine brach­te ihre rei­zen­den For­men durch ein iri­sches Jäck­chen zur Gel­tung, die an­de­re trug die sinn­ver­wir­ren­de Bas­qui­na, den Reif­rock der An­da­lu­sie­rin­nen; die­se er­schi­en halb­nackt als Dia­na, Göt­tin der Jagd, jene züch­tig und lieb­lich als Ma­de­moi­sel­le de La Val­liè­re,42 alle aber wa­ren in glei­cher Wei­se be­rau­schend. Aus den Au­gen al­ler Gäs­te blick­te Freu­de, Lie­be, Le­bens­lust. Als Ra­phaels To­ten­ant­litz sich in der Tür zeig­te, brach jä­her Bei­falls­sturm los, der so hell auf­bran­de­te wie die Strah­len die­ses im­pro­vi­sier­ten Fes­tes. Die Stim­men, der Duft, das Licht, die über­wäl­ti­gen­de Schön­heit die­ser Frau­en er­reg­ten sei­ne Sin­ne, er­weck­ten sein Ver­lan­gen. Eine köst­li­che Mu­sik aus ei­nem be­nach­bar­ten Sa­lon über­tön­te mit ei­ner Flut von Har­mo­ni­en die­sen be­rau­schen­den Tu­mult und mach­te die selt­sa­me Vi­si­on voll­stän­dig. Ra­pha­el fühl­te sei­ne Hand von ei­ner schmei­cheln­den Hand ge­drückt, von der Hand ei­ner Frau, de­ren fri­sche wei­ße Arme sich nun ho­ben, um ihn an sich zu zie­hen: Aqui­li­na stand vor ihm. Nun be­griff er, daß die­se Sze­ne­rie nicht schat­ten­haf­tes Gau­kel­werk war wie die flüch­ti­gen Bil­der sei­ner farb­lo­sen Träu­me; er stieß einen dump­fen Schrei aus, schloß has­tig die Tür und schlug sei­nen al­ten Die­ner ins Ge­sicht.

      »Un­ge­heu­er!« tob­te er, »du hast also ge­schwo­ren, mich zu mor­den!« Dann fand er, ob­wohl er bei dem Ge­dan­ken an die Ge­fahr, der er aus­ge­setzt war, an al­len Glie­dern zit­ter­te, die Kraft, sein Zim­mer zu er­rei­chen, trank eine star­ke Do­sis sei­nes Schlaf­mit­tels und leg­te sich zu Bett.

      »Aber zum Teu­fel!« stöhn­te Jo­na­thas, als er sich wie­der auf­rich­te­te, »Mon­sieur Bian­chon hat­te mir doch aus­drück­lich auf­ge­tra­gen, ich soll­te ihn zer­streu­en.«

      Es war ge­gen Mit­ter­nacht. Um die­se Stun­de strahl­te Ra­pha­el – dank ei­ner der Lau­nen der Phy­sio­lo­gie, die das Stau­nen und die Verzweif­lung der me­di­zi­ni­schen Wis­sen­schaf­ten sind – in sei­nem Schlaf vor Schön­heit. Ein leb­haf­tes Rot färb­te sei­ne blei­chen Wan­gen. Auf sei­ner Stirn, die lieb­rei­zend war wie die ei­nes jun­gen Mäd­chens, lag das Sie­gel des Geis­tes. Das stil­le, ge­lös­te Ant­litz schi­en wie blü­hen­des Le­ben. Er glich ei­nem Kind, das un­ter der Ob­hut der Mut­ter ein­ge­schla­fen ist. Sein Schlaf war gut, aus sei­nem ro­ten Mund ström­te ein gleich­mä­ßi­ger rei­ner Atem, er lä­chel­te; ge­wiß hat­te ihn ein Traum in ein schö­nes Le­ben ver­setzt. Vi­el­leicht war er hun­dert Jah­re alt, viel­leicht wünsch­ten ihm sei­ne En­kel­kin­der ein lan­ges Le­ben; viel­leicht saß er auf sei­ner länd­li­chen Bank in der Son­ne un­ter dem Blät­ter­dach und schau­te wie der Pro­phet auf dem Ber­ges­gip­fel das Ge­lob­te Land in ver­hei­ßungs­vol­ler Fer­ne.

      »Da bist du also!«

      Die­se Wor­te, mit sil­ber­hel­ler Stim­me ge­spro­chen, ver­scheuch­ten die ver­schwom­me­nen Ge­stal­ten sei­nes Schla­fes. Beim Schim­mer der Lam­pe sah er Pau­li­ne auf sei­nem Bet­te sit­zen, aber eine Pau­li­ne, die durch die Tren­nung und durch den Schmerz noch schö­ner ge­wor­den war. Ra­pha­el war be­trof­fen beim An­blick die­ses Ge­sich­tes, das weiß war wie die Blu­men­blät­ter ei­ner See­ro­se und das, von den lan­gen schwar­zen Haa­ren um­flos­sen, im Dun­kel des Zim­mers noch blei­cher schi­en. Trä­nen hat­ten ihre glit­zern­de Spur über ihre Wan­gen ge­zo­gen und hin­gen dort, be­reit, bei der ge­rings­ten Be­we­gung her­ab­zu­trop­fen. Weiß ge­klei­det, den Kopf ge­neigt und das Bett kaum be­rüh­rend, saß sie da, und so schi­en sie ein En­gel zu sein, der vom Him­mel her­ab­ge­kom­men war, eine Er­schei­nung, die ein Hauch ver­we­hen konn­te.

      »Ah, ich habe al­les ver­ges­sen!« rief sie in dem Au­gen­blick, wo Ra­pha­el die Au­gen auf­schlug. »Ich habe nur eine Stim­me, um dir zu sa­gen: Ich bin dein! Ja, mein Herz ist nur Lie­be. Ach, En­gel mei­nes Le­bens, nie­mals warst du so schön. Wie dei­ne Au­gen blit­zen! Ach geh, ich ahne al­les. Du hast dei­ne Ge­sund­heit ge­sucht, ohne mich, du hast mich ge­fürch­tet … Nun …«

      »Flieh! Flieh! Laß mich al­lein!« sprach Ra­pha­el end­lich mit dump­fer Stim­me. »So geh doch! Wenn du bleibst, st­er­be ich. Willst du mich ster­ben se­hen?«

      »Ster­ben!« wie­der­hol­te sie. »Kannst du ohne mich ster­ben? Ster­ben, wo du so jung bist? Ster­ben, wo ich dich lie­be? Ster­ben!« wie­der­hol­te sie im­mer wie­der mit tiefer Stim­me und griff wie ra­send nach sei­nen Hän­den.

      »Kalt!« sag­te sie. »Träu­me ich?«

      Ra­pha­el zog das Stück­chen des Cha­grin­le­ders un­ter dem Kopf­kis­sen her­vor, das jetzt dünn und klein war wie das Blätt­chen des Im­mer­grün, und zeig­te es ihr. »Pau­li­ne, schö­nes Bild mei­nes schö­nen Le­bens, sa­gen wir uns Le­be­wohl!«

      »Le­be­wohl?« wie­der­hol­te sie in tie­fem Stau­nen.

      »Ja. Das ist ein Ta­lis­man, der mei­ne Wün­sche er­füllt und mein Le­ben vor­stellt. Sieh, was mir noch bleibt. Wenn du mich noch län­ger an­siehst, st­er­be ich …«

      Das jun­ge Mäd­chen glaub­te, Va­len­tin sei wahn­sin­nig ge­wor­den, sie nahm den Ta­lis­man und hol­te die Lam­pe. In dem schwan­ken­den Lich­te, das Ra­pha­el und den Ta­lis­man in glei­cher Wei­se aus dem Dun­kel her­aus­hob, sah sie ge­spannt auf das Ge­sicht ih­res Ge­lieb­ten und auf das letz­te Stück­chen des ma­gi­schen Le­ders. Als er Pau­li­ne so sah, wie Angst und Lie­be sie ver­schön­te, war er nicht mehr Herr sei­ner Ge­dan­ken: die Erin­ne­rung an die zärt­li­chen Stun­den und die be­rau­schen­den Won­nen sei­ner Lei­den­schaft quoll über­mäch­tig in sei­ner seit lan­gem schla­fen­den See­le em­por und lo­der­te auf, gleich ei­nem un­zu­rei­chend ge­lösch­ten Brand.

      »Pau­li­ne, komm! Pau­li­ne!«

      Ein furcht­ba­rer Schrei ent­rang sich dem jun­gen Mäd­chen; ihre Au­gen wei­te­ten sich, ihre Au­gen­brau­en, in un­er­hör­tem Schmerz hef­tig zu­sam­men­ge­zo­gen, teil­ten sich vor Grau­en, sie las in Ra­phaels Au­gen ein ra­sen­des Be­geh­ren, wie es einst­mals ihr Stolz ge­we­sen war; aber je grö­ßer die­ses Ver­lan­gen wur­de, um so mehr schrumpf­te das Stück­chen Le­der kit­zelnd in ih­rer Hand. Au­ßer sich, stürz­te sie in das Ne­ben­zim­mer und schloß die Tür hin­ter sich.

      »Pau­li­ne! Pau­li­ne!« rief der Ster­ben­de und eil­te ihr nach, »ich lie­be dich, ich bete dich an, ich be­geh­re dich! Ich ver­flu­che dich, wenn du nicht öff­nest. Laß mich bei dir ster­ben!«

      Mit ei­ner son­der­ba­ren Kraft, dem letz­ten Aus­bruch des Le­bens, stieß er die Tür auf und sah, wie sich sei­ne Ge­lieb­te halb­nackt auf dem Sofa wand. Pau­li­ne hat­te ver­ge­bens ver­sucht, sich die Brust zu zer­flei­schen; und um sich einen schnel­len Tod zu ge­ben, woll­te sie sich mit ih­rem Schal er­dros­seln. »Wenn ich st­er­be, wird er le­ben!« rief sie und ver­such­te um­sonst die Sch­lin­ge, die sie ge­macht hat­te, fest­zu­zie­hen. Ihre Haa­re wa­ren ge­löst, ihre Schul­tern ent­blö­ßt, ihre Klei­der in Un­ord­nung, und in die­sem Rin­gen um den Tod, die Au­gen trä­nen­über­strömt, das Ant­litz flam­mend, in die­ser fürch­ter­li­chen Verzweif­lung ent­hüll­te sie dem lie­bes­trun­ke­nen Ra­pha­el tau­send Schön­hei­ten, die sei­nen ra­sen­den Tau­mel noch stei­ger­ten. Be­hend wie ein Raub­vo­gel stürz­te er sich auf sie, zer­riß den Schal und


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