Ein Wagnis aus Liebe. Susan Anne Mason

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Ein Wagnis aus Liebe - Susan Anne Mason


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England, ihrem geliebten Heimatland, zurückzublicken, sondern sich auf das vor ihr liegende Ziel zu konzentrieren: Toronto, Kanada. Dorthin war ihre Schwester vor fünf Jahren ausgewandert. Beim Gedanken daran verspürte Grace eine Mischung aus Aufregung und Angst. In den letzten Jahren war so viel geschehen – in ihrer beider Leben.

      Hätte Rose ihr Zuhause im Frühjahr 1914 auch verlassen, wenn sie gewusst hätte, dass die Welt schon bald im Krieg versinken und sich ihr Leben dadurch völlig verändern würde? Als eine große Welle gegen den Schiffsrumpf schlug und einige kalte Wassertropfen aufspritzten, griff Grace noch fester um die Reling. Das aufgewühlte Meer spiegelte die Gefühle wider, die unter der Oberfläche ihres ruhigen Äußeren tobten. Rose brauchte Hilfe und Grace würde sie nicht im Stich lassen.

      Sie fingerte in der Manteltasche nach dem kleinen goldenen Kreuz, das Rose ihr vor ihrer Abreise gegeben hatte.

       „Trag es ganz nah an deinem Herzen und denk dabei an mich. Irgendwann werden wir uns wiedersehen, das weiß ich.“

      Nun, als Kriegswitwe mit einem Baby, flehte sie Grace in ihren Briefen an, nach Kanada zu kommen. Aber Verantwortung für ihre kränkliche Mutter und die Unsicherheit solch einer langen Überfahrt während des Kriegs hatten Grace lange Zeit davon abgehalten, Sussex zu verlassen. Als jedoch die Reisewarnungen aufgehoben wurden, bestand ihre Mutter darauf, dass Grace nach Kanada fuhr und Rose wieder nach Hause holte. Die Hoffnung, ihren ersten Enkelsohn zu sehen, war das Einzige, das sie noch am Leben hielt. Tante Violet hatte dankbarerweise zugestimmt, Mutter für diese Zeit bei sich aufzunehmen. Und so hatte Grace sich schließlich auf den weiten Weg zu ihrer Schwester gemacht.

      Der Schrei einer Möwe brachte sie zurück in die Gegenwart. Der Wind in ihrem Gesicht und das Rauschen des Wassers gaben ihr ein Gefühl der Freiheit, das sie nie zuvor gespürt hatte. Freiheit von den Fesseln ihrer Heimatstadt, frei für die Abenteuer, nach denen sie sich schon lange sehnte, und frei – zumindest beinahe – von den Schuldgefühlen, die ihre Seele gefangen hielten. Grace betete, dass sich diese Ketten ein für alle Mal lösen würden, wenn sie ihrer Mutter ihren Enkelsohn nach Hause brächte. Dann könnte sie endlich ihren eigenen Träumen nachgehen. Dann wäre sie frei, ihre eigenen Ziele zu verfolgen.

      Aber zuerst ging es um Rose.

      „Na, wie wär’s mit einem Kuss für einen Soldaten, Schätzchen?“, durchschnitt eine raue Stimme die kühle Luft.

      Als Grace die gelallten Worte vernahm, bekam sie Gänsehaut. So spät allein auf dem Deck zu sein, verschlimmerte die Situation nur. Denn neben den einfachen Passagieren waren auf dieser Überfahrt auch einige Soldaten an Bord, die nach Kanada zurückkehrten. Obwohl sich die Matrosen sehr darum bemühten, dass sich die zwei Gruppen nicht begegneten, ließen sich manche der Soldaten nicht so einfach einpferchen. Die meisten von ihnen waren respektvolle Männer, doch der Kapitän hatte den Frauen dazu geraten, nach Einbruch der Dunkelheit besser unter Deck zu bleiben.

      Grace aber konnte in den muffigen, kleinen Kabinen nicht schlafen und sehnte sich nach der frischen Meeresluft, also war sie entgegen aller Ermahnungen allein an Deck gegangen. Jetzt nahm sie all ihren Mut zusammen und drehte sich zu dem uniformierten Soldaten um. „Meinem Mann würde es gar nicht gefallen, wie Sie mit mir reden, Sir. Lassen Sie mich bitte in Ruhe.“ Dann wandte sie sich wieder dem Wasser zu und hoffte, dass ihre zitternden Knie sie nicht verraten würden.

      „Dein Mann, hm? Was für ein Mann würde seiner hübschen Frau erlauben, nachts auf einem Schiff voller Soldaten herumzulaufen? Allein?“

      Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter. Grace zuckte zusammen und versuchte, sich wegzudrehen, doch der Uniformierte zog sie näher an sich heran. Sein Atem stank nach Alkohol und Tabak. Das Kinn war von mehrtägigen Bartstoppeln bedeckt, die eine dicke rote Narbe auf der Wange jedoch nicht verdecken konnten.

      Graces Herz hämmerte gegen ihren Brustkorb. Warum hatte sie ihre Haare nur mit einem Tuch zusammengebunden, statt einen Hut aufzusetzen? So hätte sie wenigstens eine Hutnadel zur Verteidigung gehabt.

      „Wenn Ihnen Ihre Hand noch etwas wert ist, nehmen Sie sie jetzt besser von der Dame. Sofort“, hörte Grace plötzlich von einer anderen männlichen Stimme hinter ihr.

      Mürrisch drehte sich der Soldat um. „Kümmere dich um deinen eignen Kram, Kumpel. Die junge Dame und ich suchen hier ein wenig Privatsphäre, wenn du verstehst, was ich meine.“

      Auch Grace drehte sich nun um und entdeckte einen großen Mann mit Filzhut und Trenchcoat. Völlig ungerührt von dieser Antwort stand er da, seine dunklen Augenbrauen finster zusammengezogen. Unter dem sauber rasierten Kinn war sein ruhiger Pulsschlag zu erkennen.

      „Das wage ich stark zu bezweifeln, denn diese junge Dame ist meine Frau“, erwiderte er, ohne zu zögern.

      Grace hingegen musste sich bei diesen Worten sehr zusammennehmen, damit ihr die Kinnlade nicht herunterfiel.

      Der Soldat kniff die Augen zusammen. „Wenn du ihr Mann bist, wie kommt es, dass ich euch noch nie zusammen gesehen habe? Schon seit wir gestern an Bord gegangen sind, habe ich sie beobachtet. Und bisher war sie immer allein.“

      Graces Herz schlug schneller. Seit wir an Bord gegangen sind? Verunsichert zog sie ihren Mantel enger um sich.

      Doch der Fremde reagierte sofort. „Ich war in unserer Kabine. Der Wellengang hat mir zu schaffen gemacht. Aber jetzt geht es mir wieder besser“, sagte er, während er näher kam. „Ich schlage vor, Sie gehen besser zu den anderen Soldaten zurück. Und denken Sie gar nicht erst daran, irgendeine andere Frau hier an Bord zu belästigen“, drohte er und machte einen weiteren Schritt, wodurch er nun unmittelbar neben ihnen stand. Er überragte den Soldaten um einiges. „Habe ich mich klar ausgedrückt?“

      Der Soldat betrachtete ihn einen Augenblick lang, als überlegte er, ob er eine Rauferei anfangen sollte. Verärgert spuckte er auf den Boden. „Den Versuch kannst du aber niemandem verbieten“, gab er dann mit einem humorlosen Lachen zurück, schob die Hände in die Hosentaschen und schlenderte davon.

      Der Fremde stellte sich neben Grace, wandte den Blick aber erst zu ihr, als der Soldat nicht mehr zu sehen war. „Alles in Ordnung, Miss?“, erkundigte er sich freundlich.

      „Ja, vielen Dank“, antwortete sie erleichtert. Erst jetzt spürte Grace, wie angespannt sie war. „Ich weiß Ihre Hilfe sehr zu schätzen.“

      Der junge Mann stand ganz nah bei ihr und seine Augen strahlten Mitgefühl aus.

      Danke, Herr, dass du mir einen Beschützer geschickt hast.

      „Das war das Geringste, das ich tun konnte … für meine Frau“, sagte er mit einem Zwinkern und Grace hoffte nur, dass er die Hitze in ihren Wangen nicht bemerkte.

      „Ich heiße Quinten Aspinall. Und wie es aussieht, sind wir nun Reisegefährten.“

      „Grace Abernathy“, stellte auch sie sich vor und klappte ihren Mantelkragen hoch. „Ich hätte hier vermutlich nicht allein hochkommen sollen, aber ich musste einfach aus der Kabine raus. Nicht mehr lange und mir wäre die Decke auf den Kopf gefallen, ganz zu schweigen davon, dass meine Zimmergenossin außerordentlich laut schnarcht.“

      „Aus demselben Grund bin auch ich hier oben.“

      „Quinten?“, rief nun eine weibliche Stimme hinter ihnen. „Stimmt etwas nicht?“

      Jetzt erst erblickte Grace eine junge Frau im Schatten. Stirnrunzelnd kam sie auf die beiden zu. Sie hatte makellose Haut, tiefschwarzes Haar und auffallend blaue Augen. Ganz im Gegenteil zu Grace, die in ihrem schlichten grauen Mantel dastand, trug sie die neueste Mode: ein rotes Cape zu einem passenden rot gefederten Hut.

      „Nein, alles in Ordnung, Emmaline.“

      Grace blickte Quinten finster an. „Sie haben Ihre Frau zurückgelassen, um mir zu helfen?“

      „Oh, das ist nicht mein Mann“, lachte Emmaline herzlich und trat einen Schritt auf ihn zu. „Wir haben uns gestern auf dem Schiff kennengelernt. Meine Begleitung hat sich noch nicht an den wackeligen Untergrund gewöhnt. Und als Quinten mich allein hier oben sah,


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