Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg
Читать онлайн книгу.beim Beladen des Autos für die Ferien in St. Gilgen.
Tichy war überaus stolz auf seine Stellung als Fahrer des Bundeskanzlers und grenzenlos loyal. Denkbar ist, daß sein bis ins Detail geregelter Tagesablauf ihn zu einem bequemen Ziel für einen Anschlag machte. Der Polizeipräsident wollte nicht ausschließen, daß Tichy schon seit einiger Zeit beschattet worden war. Hatte er die bevorstehende Reise irgend jemandem gegenüber erwähnt? In seinem Stammlokal? Ein paar Tage vorher? Sowohl Marxisten als auch Nazis standen der Regierung, also auch Papa, in erbitterter Feindschaft gegenüber. Die Annahme lag nahe, daß sich jemand am bewußten Nachmittag an Tichys Bier zu schaffen gemacht hatte. Es gab keine andere Erklärung für den Zwischenfall im Gasthaus, als dessen Folge der Chauffeur, der aus Pflichtgefühl nicht zugeben mochte, völlig übermüdet zu sein, am hellichten Tag mit hoher Geschwindigkeit von der Straße abkam und in einen Baum fuhr. Nach der Ermordung von Dollfuß und dem Angriff auf das Augarten-Palais fiel der Verdacht unweigerlich auf die Nazis. Das aber zu beweisen, war eine andere Sache.
Fräulein Alice tat alles, um meine körperliche und seelische Heilung zu beschleunigen. In einer nahegelegenen Pension nahm sie ein Zimmer, um den ganzen Tag bei mir im Krankenhaus sein zu können. Auch Vater und Großvater Schuschnigg haben mich wiederholt besucht. Während Vater unfähig war, über den Hergang der Tragödie zu sprechen, hatte Fräulein Alice einen ganz anderen Ansatz: Sie drang sofort zum Kern des Problems vor. »Kurti«, sagte sie, »es ist wichtig, daß du weißt, daß deine Mutter nicht gelitten hat. Als das Auto in den Baum krachte, prallte ihr Nacken auf den Rand des offenen Daches. Das brach ihr sofort das Genick. Der Arzt sagt, daß sie keine Schmerzen gefühlt haben kann. Es war für sie wie ein schnelles Einschlafen. Und als sie aufwachte, war sie im Himmel. Ich weiß, das ist schwer, aber du mußt immer versuchen, es dir so vorzustellen.«
Ich hoffte, daß das mit den Schmerzen stimmte. Nur den Vergleich zwischen ihrem Tod und dem Einschlafen konnte ich kaum ertragen. Meine Traumbilder, der verbogene Metallhaufen, der einmal unser schwarzer Landauer gewesen war, das weiße Leinenkleid, das sich in der leichten Morgenbrise bewegte, die beiden Polizisten, die meine schöne, zerbrechliche, tote Mutter in den Armen hielten – wie lange würde ich das noch sehen müssen?
Vater, Großvater und Fräulein Alice waren bei Mutters Begräbnis in Wien. Großmutter Schuschnigg war schon krank und konnte nicht teilnehmen. Sie starb kaum sechs Wochen später. Mir wurde versprochen, daß Vater und Großvater mich zu Mutters Grab begleiteten, sobald ich wieder ganz gesund war. Bis dahin versuchte Fräulein Alice, meine Stimmung zu heben. Es war manchmal sehr deprimierend. Sie beschrieb mir die Trauerfeier in allen Einzelheiten, und pflichtbewußt schaute ich die mir ins Krankenhaus gebrachten Fotos an. Ein Besuch am Friedhof hätte mich nicht trauriger stimmen können als diese schwarz-weißen Bilder und lange konnte ich den Gedanken nicht ertragen, daß Mutter dort in der dunklen, kalten Erde lag.
Großvater holte Fräulein Alice und mich ab. Die netten Leute im Krankenhaus wünschten mir alles Gute. Die Ärzte tätschelten meinen Kopf und die Schwestern murmelten tröstende Worte. Und da hatte ich plötzlich den ersten fröhlichen Gedanken seit meiner Ankunft im Krankenhaus: Wenigstens eine Zeitlang würde mich jetzt niemand mehr mit Schokolade, Grießbrei und derlei Scheußlichkeiten vollstopfen. Zumindest momentan war ich unangreifbar. Der Primar hatte mir zum Abschied gesagt, meine Gesichtsnarben würden mich einmal vornehm aussehen lassen. Ich bezweifelte das.
Mehr noch als meine Verletzungen hatten die Fürsorglichkeit, das dauernde, nicht nachlassende Mitleid mir das Leben im Krankenhaus unerträglich gemacht. Der anschließende Ferienaufenthalt in St. Gilgen war eine große Erleichterung. Dort hatte ich Purzel. Er war fröhlich, unkompliziert, leicht zu durchschauen, entweder glücklich oder hungrig. Und es gab da den Rest der Familie: Vater, Fräulein Alice, Liesl und sogar die Staatspolizisten, die über das Grundstück verteilt waren. Sie gehörten ebenso zum ganz normalen Alltag wie Liesl oder Major Bartl.
Unsere Zuflucht am Wolfgangsee, Mutters Entdeckung, war eine massige, schöne und erstaunlich große Villa am Seeufer. Wie in anderen dieser um die Wende zum 20. Jahrhundert errichteten Häuser gab es mehrere Stockwerke, die Fassaden waren in heller Cremefarbe mit zimtbraunen Fensterläden gehalten. An zwei Stockwerken gab es Balkone. Die Sicherheitsbeamten schätzten es, daß die einzige Straße hinter dem Haus vorbeiführte. Von dort aus wirkte die in den Hang gebaute Villa bloß einstöckig mit verkürztem Oberstock unter niedrigem Dach. Ganz anders von der Seeseite, da hatte der zweite Stock eine offene, auf eine hohe Steinmauer gestützte Veranda. Auf dem Holzbalkon im Stockwerk darüber saß ich oft am Abend, manchmal mit Vater, meistens aber mit Fräulein Alice in der leichten Abendbrise, wenn die untergehende Sonne die Wolken in Schattierungen von rosa bis orange färbte und Schwalben in der anbrechenden Dämmerung jagten, bis schließlich der Mond hinter den Bergen aufstieg. Manchmal waren die Gipfel von Schafberg und Zwölferhorn wolkenverhangen. Es war friedlich und ruhig. Nur die Enten, die Grillen und das Plätschern der Wellen am Bootssteg waren zu hören und von hinten die aus den Bergen stürzenden Wildbäche.
Kam Vater am Wochenende aus Wien, war sein Gemütszustand das große Thema für die beiden Menschen, die uns am nächsten standen. Von meinem Balkon aus konnte ich zuhören, wie Liesl weiter unten mit Fräulein Alice sprach: »Alice, das ist schrecklich. Wie lange, glaubst du, geht das noch so weiter? Ich hoffe nur für den Buben, daß sich da etwas ändert.« Fräulein Alice seufzte. »Weißt du, Liesl, er hat sie angebetet. Und zusätzlich zu ihrem Tod war noch Kurtis Verletzung ein schwerer Schlag. Wenn der Kanzler in der Öffentlichkeit ist oder mit seinen Mitarbeitern, geht es ihm besser. Na ja, du weißt, was ich meine. Hier, wenn er abends in sein Zimmer geht, sitzt er nur da im Dunkeln. Ich mache mir Sorgen.«
Auch ich machte mir diese Sorgen, sehnte mich danach, wieder ein wenig Glück, etwas Licht in seinen Augen zu sehen. Fast wäre er mir wütend lieber gewesen als so. Ich kannte seine Wut, sie kam, explodierte und verging wieder. Diese Leblosigkeit dagegen war fürchterlich. Einmal traf ich ihn auf dem Balkon sitzend, kurz vor dem Abendessen. Es war einer der seltenen, wunderbaren Augenblicke, an denen er allein war. Ich ging auf seinen Sessel zu. Er bemerkte mich nicht, starrte hohläugig auf den See, ohne ihn wirklich wahrzunehmen. Ich bedeckte seine Augen mit meinen Händen und rief: »Papa!« Er griff hinauf, entfernte meine Hände und lächelte dieses traurige Lächeln, das ich schon zu gut kannte. Es war, als hätte ihn alles Glück verlassen.
Die Tage in unserem Haus verliefen jetzt so, als wolle man ein Auto mit einem kaputten Rad fahren. Es rührt sich zwar irgendwie, aber es war für niemanden angenehm. Seit meiner Entlassung aus dem Krankenhaus zwang man mich zur Nachmittagsruhe. Fräulein Alice öffnete die Fenster zum Balkon, drückte mir einen Kuß auf die Stirn und schloß die Tür zum Gang hinter sich. Von Zeit zu Zeit flog eine fette, faule Fliege ins Zimmer. Die Balkontür hatte eine große Glasscheibe. In einem bestimmten Winkel geöffnet, spiegelten sich in ihr die Blumenkästen vor den Fenstern. Ich lag da inmitten der Spiegelbilder roter und weißer Geranien und ihrer dunkelgrünen Blätter, und wieder einmal fiel mir ein, wie sehr das alles an mir verschwendet war. Es war Mutter gewesen, die gerne von Blumen umgeben war. Ich ertrug sie wie eine Strafe, von der ich nicht wußte, womit ich sie verdient hatte.
Nur langsam änderte sich der Lebensrhythmus an den Wochenenden. Es begann mit dem Besuch von Verwandten und Freunden. Später kamen Regierungsvertreter dazu, wenn auch nicht im selben Ausmaß und mit dem ganzen Troß an Mitarbeitern, wie ich es aus Wien kannte. Die Atmosphäre begann sich zu lockern.
»Fräulein Alice, wen hat Vater dieses Wochenende mitgebracht?«
»Na ja, schauen wir einmal: Dr. Pernter ist da. Er hat einen der früheren Posten deines Vaters, Unterrichtsminister. Weißt du noch? Den magst du. Und Dr. Buresch, der Finanzminister. Ihre Mitarbeiter sind auch da, wohnen aber im Hotel. Schließlich natürlich Major Bartl. Zwei Freunde deines Vaters mit ihren Frauen kommen heute auch noch, aber nur zum Abendessen.«
Nach dieser Aufzählung überlegte ich mir bereits einen Protest. Nur mußte man da mit Fräulein Alice vorsichtig sein. Manchmal wandte sie den »Du bist schon zu alt, um dich so zu benehmen«-Trick an. Damit wurde es immer schwieriger, sich wirkungsvoll zu beschweren. Doch an jenem Tag konnte ich mich nicht zurückhalten. »Ah so, gut …« – wenn man ihn nicht übertrieb, war Sarkasmus keine üble Lösung beim Umgang mit Erwachsenen – »… das Wochenende