Der lange Weg nach Hause. Kurt von Schuschnigg

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Der lange Weg nach Hause - Kurt von Schuschnigg


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Daß die jeden Tag zum Tee bei dir vorbeikommen? Ihr Tagesablauf dürfte schon lange ziemlich geregelt gewesen sein, ehe wir hierher gezogen sind, Kurti. Außerdem, wenn wir nicht zu ihren üblichen Stunden in den Park gehen, werden wir sie nicht viel sehen. Ich könnte mir denken, daß sie nicht einmal so begeistert sind, den Park jetzt mit uns teilen zu sollen. Hast du dir das einmal überlegt?«

      Hatte ich natürlich nicht. Auch machten mir Nonnen als Nachbarinnen nicht viel aus. Ich fragte mich nur, ob ihre Anwesenheit vielleicht hinderlich wäre.

      »Und dann gibt es da noch den Botanischen Garten, zu dem wir Zutritt haben, wenn er für die Allgemeinheit geschlossen ist. Ich würde sagen, daß zwischen den Nonnen und dem ganzen Platz, den wir hier haben, ein kleines Fleckchen Himmel ist. Hab ich nicht recht?«

      Ich dachte an Purzel und wie sehr es ihm hier gefallen würde. Ohne Zweifel hatten wir beide großes Glück.

      Die neue Umgebung und die Zeit, die Wunden heilt, wirkten positiv auf Vater und mich, abgesehen von meiner doppelseitigen Lungenentzündung mit Scharlach als Draufgabe. Purzel war nicht der einzige gewesen, der an den kühlen Frühlingsabenden nicht ins Haus zurück gewollt hatte. Aber Glück und die Zeit retteten auch diese Situation: In Wien wirkte einer der bekanntesten Lungenspezialisten, Professor Heinrich Neumann. 1938 sollte auch dieser hervorragende Arzt gezwungen werden, sich in Amerika ein neues Zuhause zu suchen. Dort kümmerte er sich um Präsident Franklin D. Roosevelts Lungen und wurde noch später Leibarzt von König Ibn Saud, dem Herrscher Saudi-Arabiens. Jetzt aber war ich es, dem er seine Aufmerksamkeit widmete.

      Die Aktivität in den Gängen des Belvederehauses nahm merklich zu. Kompressen, Wasserschüsseln, kalte und heiße Getränke wurden hin und her getragen. War es für mich deprimierend, zeigte sich doch endlich wieder Licht am Ende des Tunnels. Auch anderer Verkehr nahm zu: Lieferungen neuer Spielzeugsoldaten, neue Strecken für meine – und Großvaters – elektrische Eisenbahn, auch mancher Tunnel oder Landschaften aus Papiermaché. Nach drei Wochen im Bett war ich vollkommen überzeugt, das alles verdient zu haben. Als sich die Dinge normalisiert hatten, wurde ich auch wieder in den Salon gerufen, durfte dem Ruf aber erst nach genauer Musterung durch Fräulein Alice Folge leisten.

      Eines Nachmittags kam der österreichische Rüstungsmagnat Fritz Mandl mit seiner Frau zum Tee. Ich hatte vorher noch kein Ehepaar gekannt, bei dem Mann und Frau verschiedene Familiennamen trugen. Ein weiteres Mysterium war, daß Herrn Mandls Frau »Fräulein« genannt wurde. Fräulein Alice als Quelle allen praktischen Wissens erklärte mir, daß Hedwig Kiesler, Herrn Mandls Frau, ein Filmstar war und daß Filmstars immer »Fräulein« genannt wurden, auch wenn sie verheiratet waren. Aber letztlich war es mir egal, wie sie hieß. Wäre ich ein Hund gewesen, ich hätte mich zu ihren Füßen gelegt. Sie war die schönste Frau, die ich je gesehen hatte. Genaugenommen klebte ich an ihr wie eine Klette.

      Einmal zwickte sie mich spielerisch in die Nase und zog mich an den Ohren, wie man das mit einem Hund machen würde. Ich erwiderte das mit einem freundlichen Klaps auf ihren Hintern. Dabei kam meine Hand zu meiner Überraschung in Kontakt mit etwas, das man nur als anatomisch unnatürliche Oberfläche bezeichnen kann. Fräulein Alice wurde blaß, trotz aller Selbstbeherrschung blieb ihr der Mund offen. Ich konnte nicht umhin anzunehmen, daß ich eine Grenze übertreten hatte. Glücklicherweise hatte Vater, mit Herrn Mandl im Gespräch vertieft, nichts bemerkt. Genau betrachtet wäre wohl auch Herr Mandl von meiner Geste nicht begeistert gewesen. Doch Fräulein Kiesler war keine Spielverderberin und begnügte sich damit, mir mit dem Finger zu drohen und meine Haare zu zerzausen. Nachdem ich entlassen worden war, führte Fräulein Alice mich hinaus, ihre Hand ziemlich fest an meinem Nacken. Schweigend ging es bis in mein Zimmer. Dort setzte sie mich hin.

      »Kurti, was hast du getan, das du nicht hättest tun sollen?«

      »Daß ich Fräulein Kiesler auf den Popo geklopft habe?«

      »Genau das ist vollkommen unmöglich. Du darfst nie, nie wieder eine Dame so anrühren. Verstanden?«

      Nachdem ich versichert hatte, völlig verstanden zu haben, hörte ich zweimal, was für ein Glück ich hatte, daß Vater und Herr Mandl meine grobe Unhöflichkeit nicht bemerkt hätten. Nur deshalb könne ich noch auf meinem Hintern sitzen. Warum aber war Fräulein Kieslers »derrière« so versteinert? Ich wurde aufgeklärt: »Das ist ein Kleidungsstück, das Korsett heißt. Es läßt eine Dame schlanker aussehen, indem es den Körper einschnürt.«

      So wurde ich als Zehnjähriger in die bizarre Welt der weiblichen Eitelkeit eingeführt. Neugierig, aber fragen wollte ich auch nicht, ging ich um Fräulein Alices aufrechte Gestalt, um im Lichte dieser neuen Entdeckung festzustellen, ob auch sie dieser strafenden Verbesserung der Weiblichkeit erlegen war. Ihr Gesicht schien sich leicht zu verfärben und sie sagte: »Du brauchst gar nicht weiterzuschauen. Nichts liegt mir ferner, als mich selbst zu foltern. Und damit hat es sich mit diesem Thema!« Ich hätte es wissen müssen. Sie war viel zu vernünftig.

      Tatsache blieb, daß Fräulein Kiesler, trotz ihrer Indifferenz der eigenen Bequemlichkeit gegenüber, die bei weitem schönste Besucherin war, die wir je hatten. Ein Jahr später verließ sie Österreich und Herrn Mandl in Richtung Amerika, wo es mit ihrer Filmkarriere steil bergauf ging, nachdem der Filmproduzent Louis B. Mayer sie in Hedy Lamarr umgetauft hatte.

      Solche Ausflüge in den Salon erlaubten mir kurze Blicke auf einige der außergewöhnlichen Persönlichkeiten, denen Vater damals begegnete. Bevor sie mich in den Salon führte, drückte mir Fräulein Alice oft mein immer voller werdendes Autogrammbuch in die Hand. Das belebt meine Erinnerungen bis heute, wenn ich darin blättere. Die Bücher von Baron Hans von Hammerstein-Equord, einer der Besucher, ein begnadeter Schriftsteller und Dichter, bevor er 1936 kurzfristig Justizminister wurde, würde ich allerdings erst später lesen. Weder der lockenköpfige Arturo Toscanini noch die hübsche, blonde Lotte Lehmann machten einen anhaltenden Eindruck auf mich. Damals beschäftigte ich mich nicht mit Musik.

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      Lotte Lehmann und Arturo Toscanini trugen sich in mein Autogrammbuch ein.

      Immer mehr hervorragende jüdische und katholische Persönlichkeiten strömten aus Deutschland nach Österreich. Wie Lotte Lehmann flohen auch Bruno Walter, Elisabeth Schumann, Carl Zuckmayer, Dietrich von Hildebrand und viele, viele andere vor Hitler. Später schrieb mein Vater, daß »… Werte der deutschen Kultur, die in ihrer früheren Heimat heimatlos geworden waren, hier ein neues Vaterland fanden … Weimar war vom Dritten Reich praktisch verbannt worden und hatte in Wien eine neue Heimat gefunden.«

      Bei diesen Erinnerungen sollte ich nicht den unglücklichen Emil Fey vergessen, den ehemaligen Minister und Vizekanzler, und seine Frau Malvene, die gleich nach dem Anschluß erschossen wurden, ebenso wenig wie Umberto Herzog von Savoyen, den zukünftigen König von Italien. Den bleibendsten Eindruck aber machte der Prinz von Wales, nicht nur auf mich, sondern mehr noch auf meinen Vater und den Wiener Polizeipräsidenten. Am Tag seines Besuches spielte ich gerade mit meinen Truppen von Spielzeugsoldaten, als Fräulein Alice mit jenem, mir längst zur Genüge bekannten Ausdruck von Zielstrebigkeit hereinkam. Nachdem sie mich von oben bis unten inspiziert hatte, erklärte sie ein frisch gebügeltes Matrosenhemd und die neuen Schuhe für angezeigt. Die Schuhe machten mich stutzig. Kein normaler Gast hätte sie geprüft. Auch meine Hände wurden nach energischem Bearbeiten mit der Nagelbürste in Ordnung befunden.

      »Fräulein Alice, kann Purzel mich begleiten?«

      »Auf gar keinen Fall!«

      Obwohl immer freundlich und nie aus der Ruhe zu bringen, klang Fräulein Alice fast barsch, ein Zustand, in dem ich sie bisher nie gesehen hatte. Das und die militärische Präzision, mit der sie mich herrichtete, waren deutliche Zeichen erhöhter Nervosität.

      »Sag mir bitte, was so wichtig ist, daß ich meine neuen Schuhe anziehen soll?«

      Sie drehte mich so, daß ich ihr gegenübersaß, legte ihre Hände auf meine Schultern und sagte feierlich: »Kurti, der Prinz von Wales ist da. Er wird der nächste König von England.«

      »Fräulein Alice, was macht ein König?«

      »Wir


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