Eine große Zeit. William Boyd

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Eine große Zeit - William  Boyd


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war er derart überrascht, dass er »Mein Gott!« brüllte, von Lust und Erstaunen überwältigt, und sie ihn fragte, ob mit ihm alles in Ordnung sei.

      Sie lösten sich voneinander und fielen zurück, Lysander vergrub den Kopf in das dünne Kissen, ihm kamen die Tränen, als Hettie – von nun an Hettie, nicht mehr Miss Bull – die Madeiraflasche und die Gläser holen ging. Sie tranken, sie streichelten einander, sie unterhielten sich.

      »Das war doch alles bloß ein teuflischer Plan, nicht wahr?«, klagte er sie an.

      »Ja. Das gebe ich zu – ich gestehe. Schon vom ersten Tag an, als wir uns in Dr. Bensimons Praxis begegnet sind. Ich war damals völlig außer mir, weißt du noch?«

      »Ja.«

      »Und trotzdem bist du mir danach nicht mehr aus dem Kopf gegangen, warum auch immer. Vielleicht, weil du mich anstandslos vorgelassen hast und so verständnisvoll warst. Du warst nicht unangenehm, sondern nett. Und hübsch dazu.«

      »Und dann hast du hin und her überlegt und schließlich diese teuflische List ausgeheckt.«

      »Wobei ich mir nicht sicher war, dass es funktionieren würde. Du hättest ja auch empört reagieren und Reißaus nehmen können. Aber dann dachte ich mir, da du Schauspieler –«

      »Woher wusstest du, dass ich Schauspieler bin?«

      »Ich habe Dr. Bensimon danach gefragt … Und so dachte ich mir, als Schauspieler bist du dieser Herausforderung vielleicht gewachsen und wirst schon deinen Mann stehen.«

      »Jegliches Wortspiel wäre rein zufällig.«

      »Jetzt darf ich dich doch Lysander nennen?« Sie küsste ihn aufs Kinn und ließ die Hand nach unten gleiten.

      »Das scheint mir zwingend geboten.«

      Und dann schliefen sie wieder miteinander, und Lysander erlebte seinen zweiten Orgasmus, der ihm sogar noch mehr Lust verschaffte als der erste, weil er sich im Vorfeld abzeichnete und sein Bewusstsein ausreichend Gelegenheit gehabt hatte, sich einzuschalten. Wie durch ein Wunder gelangte er unaufhaltsam zu einem zweiten Höhepunkt, den er in vollen Zügen auskostete.

      Dr. Bensimon klopfte mit seinem Füller auf den Löschpapierblock und dachte angestrengt nach.

      »Wer war Ihre Partnerin? Eine Prostituierte?«

      »Äh … Nein.«

      »Entsprach sie Ihren sexuellen Vorlieben, war sie gewissermaßen Ihr ›Typ‹?«

      »Eigentlich nicht … Sie war gar nicht mein Typ.«

      »Faszinierend. Haben Sie dafür eine Erklärung?«

      Lysander überlegte. »Nein. Oder vielleicht doch. Vielleicht habe ich es Ihnen zu verdanken – unseren vielen Gesprächen. Vielleicht lag es am Parallelismus …«

      17 Autobiographische Untersuchungen

      Hettie Bull – wer hätte das gedacht? Aber wie soll ich es erklären? Wie soll ich die Wirkung, die sie auf mich ausübt, begreifen und in Worte fassen? Jetzt wird mir klar, dass ich mich auf Anhieb zu ihr hingezogen fühlte, gegen jede Logik – jedenfalls gegen meine emotionale Logik, ich kenne doch meinen Hang zu diesen hoch aufgeschossenen Mädchen und Frauen mit langem Hals und dünnen Handgelenken – hoch aufgeschossenen Frauen wie Blanche. Woher stammen solche Vorlieben eigentlich, wie kommen sie zustande? Warum finden manche eher Gefallen an dunklen denn an blonden Haaren? Oder mögen runde Frauen lieber als schlanke? Wie muss ein Gesicht beschaffen sein – Augenbrauen im Verhältnis zur Nase, Stirnhöhe, mehr oder weniger volle Lippen, die veränderliche Geometrie eines Lächelns –, das insbesondere mich anspricht und keinen anderen? Hängt das mit irgendeiner atavistischen Vorstellung vom idealen Paarungspartner zusammen – »das ist sie, das ist die Richtige« –, verdrängt unsere urtümliche sexuelle Natur den rationalen zivilisierten Geist und führt uns dadurch in die Irre?

      Hettie Bull. Ich frage mich, ob das der Auslöser war, der Kontrast des biederen soliden Namens – Tochter von John Bull, Englands Symbolfigur – und der olivhäutigen, großäugigen, unheimlichen, psychisch labilen Erscheinung. Hat je ein Mensch einen unpassenderen Namen getragen? So viele Fragen. Doch muss ich hier Zeugnis ablegen über ihren schmalen, nackten Körper, der sich als derart wirksamer Katalysator erwiesen hat – so klein und geschmeidig, so begeisterungsfähig … vielleicht ist das der Schlüssel? Sie ist so dreist und unerschrocken. Wenn ein Mann sich begehrt weiß – so begehrt, dass man ihm eine ausgeklügelte Falle stellt, von solcher Hinterlist, dass er sich aus freien Stücken auszieht und nackt vor die Frau stellt, die ihm nachjagt … Eine spürbare sinnliche Präsenz, dazu offenkundiges Begehren und völlige Schamlosigkeit sowie eine ideale Gelegenheit. Es war einfach unwiderstehlich.

      Wurde ich von Hettie Bull geheilt? Kann ich jetzt nach London zurückfahren und Blanche endlich mit sexuellem Selbstvertrauen beglücken? Sie wird mich in ihr Bett locken, das weiß ich, sie hat es mir praktisch schon angekündigt. Warum fahre ich also nicht einfach nach Hause?

      Sei ehrlich. Hettie Bull hat dich irgendwie verhext. Du bist von ihr restlos bezaubert und willst sie wiedersehen, du musst sie wiedersehen, du kannst es kaum erwarten, sie wiederzusehen … Es gibt aber zwei Dinge, die an mir nagen: das Gefühl, dass meine Beziehung zu Hettie Bull mich in Schwierigkeiten bringen wird – egal, in welche Richtung sie sich entwickelt, und die Tatsache, dass mein Verrat an Blanche umso schwerer wiegt, je stärker ich mich auf Hettie einlasse.

      Als ich am späten Nachmittag heimkehrte – der kleine Zug hatte mich durch die allmählich heraufziehende Dämmerung nach Wien zurückgefahren –, ging ich gleich in mein Zimmer, schloss die Tür ab und zog mich komplett aus. Mein Körper war von rußigen Fingerabdrücken gezeichnet, zarten Blutergüssen gleich, die sich dicht an dicht drängten, Kohlenstaub, der ihr von den Fingerspitzen gerieselt war, als ihre Hände mich von oben bis unten erkundeten. Ich wusch sie mit einem feuchten Lappen ab und legte frische Kleidung an. Die Spuren ihrer Finger ließen sich leicht entfernen, doch während ich hier sitze und das alles aufschreibe, blitzen vor meinem inneren Auge verführerische Ansichten ihres Körpers auf, lebhafte Erinnerungen an die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Ihre Brüste, die mir vor der Nase pendelten, als sie nach ihrem Madeiraglas griff. Die Art und Weise, wie sie mich beobachtete, als ich mich wieder anzog, und sie nackt zwischen dem zerwühlten Bettzeug liegen blieb, den Kopf auf eine Hand gestützt. Und wie sie dann, als ich ging, aus dem Bett schlüpfte und den Nachttopf darunter hervorholte. Ich blieb auf der Schwelle stehen und sah ihr zu, während sie über dem Topf hockte, bis sie mich lachend aus dem Zimmer scheuchte. Ich glaube, ich stecke in Schwierigkeiten. Ich weiß, dass ich in Schwierigkeiten stecke. Aber was soll ich tun?

      18 Mentale Erregung

      Lysander erkannte nach und nach, dass Dr. Bensimons Fragen einem bestimmten Muster folgten, er ahnte, in welche Richtung er so behutsam geführt wurde.

      »Wie war Ihre Mutter angezogen, als Sie an jenem Tag nach Hause kamen?«

      »Sie trug ein Teekleid, eins ihrer liebsten – aus Satin, kupferfarben, mit viel Spitzen- und Schleifenverzierung am Kragen.«

      »Erinnern Sie sich an weitere Details?«

      »Ärmel und Saum waren mit Zobel verbrämt, das Oberteil war mit unzähligen Perlen besetzt.«

      Bensimon warf einen Blick auf seine Notizen.

      »Sie haben Buttertoast mit Erdbeerkonfitüre gegessen.«

      »Und Kümmelkuchen.«

      »Gab es noch andere Konfitüren oder pikante Brotaufstriche?«

      »Es gab Sardellenpaste – und Honig. Meine Mutter nimmt immer Honig zum Frühstück und zum Tee.«

      »Beschreiben Sie mir den Raum.«

      »Wir nennen ihn den Grünen Salon, er befindet sich im ersten Stock neben dem westlichen Treppenhaus. Die Wände sind leuchtend smaragdgrün lackiert. An einer Wand hängen etwa dreißig Miniaturen – Bilder vom Gutshaus und den Ländereien; ich glaube, eine von Lord


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