Eine große Zeit. William Boyd
Читать онлайн книгу.der Lage ist, »Reich mir mal bitte das Salz« zu sagen, ohne sich komisch oder sonderbar oder dämlich oder unheilvoll anzuhören. Große Schauspielkunst heißt, dass man in der Lage ist, »O Grausen, Grausen, Grausen!« zu sagen, ohne sich komisch oder sonderbar oder dämlich oder unheilvoll anzuhören.
Leben ist mehr als Liebe. Und jetzt andersherum. Liebe ist mehr als Leben. Ergibt genauso viel Sinn. Allerdings nicht, wenn man Liebe mit geschlechtlicher Liebe gleichsetzt. Leben ist mehr als geschlechtliche Liebe. Geschlechtliche Liebe ist nicht mehr als das Leben. Stimmt. Hatte Dostojewski nicht etwas Ähnliches gesagt? Man kann nicht zweimal in denselben Fluss steigen, und so kann es auch keinen einzigen einfachen Gedanken geben. Jeder Gedanke, und sei er noch so einfach, kann immer wieder relativiert werden. Ich habe Kopfschmerzen – weil ich mit Wolfram zu viel Schnaps getrunken habe, er hat mich zum Lachen gebracht. Auch der schlichte Kopfschmerz hat eine Geschichte, eine Penumbra, steht im Zusammenhang mit meinem Leben davor und (hoffentlich) meinem Leben danach. Alles ist unfassbar kompliziert. Wirklich alles.
14 Die Fabulierfunktion
»Ich habe Ihr Büchlein gelesen«, sagte Lysander und streckte sich auf dem Diwan aus. »Hochinteressant. Ich glaube, ich habe das Prinzip verstanden. Mehr oder weniger.«
»Es geht vor allem darum, die eigene Vorstellungskraft einzusetzen«, antwortete Dr. Bensimon. »Heute werde ich die Vorhänge schließen, wenn Sie nichts dagegen haben.«
Lysander hörte ihn die Vorhänge an allen drei Fenstern zuziehen, und dann wurde das Zimmer dunkel und schummrig, nur noch von der Lampe auf Bensimons Schreibtisch beleuchtet. Als der Arzt zu seinem Stuhl zurückkehrte, huschte sein gewaltiger Schatten über die Wand neben dem Kamin.
Nach allem, was Lysander verstanden hatte, besagte Bensimons Parallelismus-Theorie, dass die Wirklichkeit an sich neutral war – »karg« war sein wiederkehrender Ausdruck. Ohne die Wahrnehmung durch unsere Sinne war die Welt nichts als ein Skelett, armselig, ohne jede Regung. Sobald wir die Augen öffneten, sobald wir anfingen zu riechen, zu hören, zu berühren und zu schmecken, verliehen wir den Knochen Fleisch, entsprechend unserem Charakter und der Wirksamkeit unseres Vorstellungsvermögens. So verwandelt das Individuum »die Welt« – im Geist webt es seine eigene bunte Decke, die es über die neutrale Wirklichkeit breitet. Diese Welt wird von uns jeweils als eine »Fiktion« erschaffen, sie gehört nur uns allein, sie ist einzigartig und man kann sie mit keinem anderen teilen.
»Mir kommt der Gedanke, dass die Welt ›fiktiv‹ sein soll, ein wenig problematisch vor«, sagte Lysander zögerlich.
»Aber das liegt auf der Hand«, entgegnete Bensimon. »Sie wissen doch, wie sich das anfühlt, wenn Sie gut gelaunt aufwachen. Die erste Tasse Kaffee schmeckt besonders köstlich. Und wenn Sie spazieren gehen, nehmen Sie die Farben wahr, die Klänge, Sie genießen den Anblick eines Sonnenstrahls auf einer alten Ziegelmauer. Wenn Sie hingegen lustlos und traurig aufwachen, haben Sie keinen Appetit. Ihre Zigarette schmeckt bitter und kratzt in der Kehle. Unterwegs reizt Sie das Scheppern der Tram, die Passanten sind hässlich und rücksichtslos. Und so weiter. Das Ganze passiert, ohne dass wir einen Gedanken daran verschwenden – und ich versuche, diese Fähigkeit, die wir alle in uns tragen, ins Bewusstsein zu rücken, sie uns vor Augen zu führen.«
»Verstehe.« So betrachtet, fand Lysander das durchaus nachvollziehbar.
Bensimon fuhr fort: »Und so ergänzen wir menschliche Wesen die Welt mit dem, was der französische Philosoph Bergson la fonction fabulatrice nennt. Die Fabulierfunktion. Kennen Sie Bergsons Schriften?«
»Äh, nein.«
»Ich habe diesen Gedanken gewissermaßen von ihm übernommen und aufbereitet. Die Welt, unsere Welt, stellt für jeden von uns eine einzigartige Verbindung – Vermischung, Verschmelzung – von individueller Vorstellung und Wirklichkeit dar.«
Lysander schwieg, den Blick auf das Flachrelief über dem Kamin gerichtet, und fragte sich, wie der Parallelismus ihn von seiner Anorgasmie heilen könnte.
Bensimon ergriff wieder das Wort. »Sie kennen doch das alte Sprichwort: ›Die Götter Afrikas sind immer Afrikaner.‹ Das ist die Fiktion, die der afrikanische Geist ersonnen hat – seine ureigene Verbindung von Vorstellung und Wirklichkeit.«
Das erklärte vielleicht das Flachrelief, dachte Lysander.
»Dieses Beispiel leuchtet mir ein«, sagte er, noch auf der Hut. »Ein afrikanischer Gott kann sicher kein Chinese sein. Aber wie soll man das auf mein spezielles Problem anwenden?«
Lysander hörte, wie Bensimon seinen Stuhl vom Schreibtisch wegzog und am Fußende des Diwans abstellte. Hörte das Leder knarren, als er sich setzte.
»Genau so«, antwortete Bensimon. »Wenn unsere Alltagswelt, unsere alltägliche Wirklichkeit eine selbstgeschaffene Fiktion ist, gilt das auch für unsere Vergangenheit – sie besteht aus lauter fiktiven Begebenheiten, die wir bereits durchlebt haben –, für unsere Erinnerungen. Ich würde Sie nun gern dazu bringen, diese alten Geschichten zu ändern, die Sie mit sich herumschleppen.«
Das überstieg allmählich sein Fassungsvermögen, dachte Lysander.
»Ich werde Sie in eine ganz leichte, ganz seichte Hypnose versetzen. Darum ist das Zimmer verdunkelt. Schließen Sie bitte die Augen.«
Lysander gehorchte.
Bensimons Stimme wurde tiefer, er verfiel in eine eigenartig monotone Sprechweise. Er artikulierte sehr langsam und deutlich.
»Entspannen Sie sich. Versuchen Sie, sich voll und ganz zu entspannen. Sie liegen still und regungslos da. Das Gefühl von Entspannung spüren Sie zunächst in Ihren Füßen. Langsam steigt es Ihre Beine hinauf. Sie spüren es in den Waden. Jetzt hat es Ihre Knie erreicht … Ihre Oberschenkel … Atmen Sie so langsam wie möglich. Ein – aus. Ein – aus. Es steigt immer höher hinauf, jetzt ist es in Ihrer Brust, breitet sich in Ihrem ganzen Körper aus. Sie sind vollkommen entspannt.«
Lysander wurde von einer Art Schwindel erfasst. Er war zwar bei vollem Bewusstsein, hatte aber das Gefühl, so gut wie gelähmt zu sein, als könnte er keinen Finger rühren, und ein paar Zentimeter über der Diwandecke zu schweben. Bensimon fing an, mit seiner tiefen, monotonen Stimme rückwärts zu zählen.
»Zwanzig, neunzehn, achtzehn … Sie sind vollkommen entspannt … fünfzehn, vierzehn, dreizehn …«
Nun fühlte sich Lysander von Müdigkeit übermannt, seine Augen waren fest geschlossen, Bensimons Stimme klang merkwürdig entfernt und gedämpft, während er bis null zählte.
»Denken Sie an diesen Tag zurück«, fuhr Bensimon fort. »Sie sind noch ein Junge, vierzehn Jahre alt. Sie tragen Ihr Buch bei sich, ›Der Lockenraub‹. Sie laufen durch den umfriedeten Garten. Sie grüßen die Gärtner. Sie steigen über den Zauntritt in den Wald. Es ist ein herrlich sonniger Tag, warm und lind, die Vögel singen. Sie gehen in den Wald und setzen sich am Fuß einer uralten Eiche. Sie fangen an zu lesen. Die Sonne wärmt Sie. Sie nicken ein. Bald schlafen Sie. Sie schlafen zwei Stunden lang, Sie kommen zu spät zum Tee. Sie wachen auf. Sie nehmen das Buch und gehen zum Haus zurück, wo Ihre Mutter auf Sie wartet. Sie entschuldigen sich für die Verspätung, und dann gehen Sie beide ins Wohnzimmer, um Tee zu trinken …«
»Öffnen Sie die Augen.« Bensimon klatschte einmal kurz. Zweimal.
Lysander reagierte sofort, auf einmal war er angespannt, hatte für einen Augenblick vergessen, wo er sich befand. Er war eingeschlafen. Hatte er etwas Entscheidendes verpasst? Bensimon zog die Vorhänge auf, und das Zimmer wurde wieder von Tageslicht erfüllt.
»Bin ich eingeschlafen? Tut mir leid, wenn ich –«
»Nur ein paar Sekunden. Das ist ganz natürlich. Sie werden sich an alles erinnern, was ich gesagt habe.«
»Ich weiß noch, dass ich mich entschuldigt habe, weil ich zu spät zum Tee erschienen bin.«
»Richtig.« Bensimon kam auf ihn zu. »Sie waren nicht in Trance. Sie haben sich nur in eine Parallelwelt hineinversetzt. Eine Welt, in der Sie an einem sonnigen Nachmittag im Wald eingeschlafen,