Eine große Zeit. William Boyd

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Eine große Zeit - William  Boyd


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benutzte das Glas als Spiegel, um lose Haarsträhnen unter die Mütze zu stecken und ein paar flaumige Löckchen vor die Ohren zu ziehen. Lysander fiel auf, dass ihre kurze Samtjacke die Rundung von Hüften und Hintern unter dem schwarzen Rock zur Geltung brachte. Trotz ihrer fast acht Zentimeter hohen Absätze war sie sehr klein.

      »Was starren Sie so?«, fragte sie abrupt, als sie seinen Blick in der Spiegelung auffing.

      »Ich habe Ihre Stiefel bewundert«, reagierte Lysander schlagfertig. »Haben Sie sie hier in Wien gekauft?«

      Er sollte keine Antwort bekommen, da im selben Moment die Tür zu Dr. Bensimons Sprechzimmer aufging und zwei Männer plaudernd und lachend heraustraten. Lysander wusste auf Anhieb, welcher der beiden Dr. Bensimon war, ein Mann Ende vierzig, fast kahl mit braungrau meliertem Stutzbart. Der andere konnte Lysanders Ansicht nach nur beim Militär sein. Marineblauer Zweireiher, Querbinder unterm steifen Kragen, schmale Hose mit Aufschlägen, die Schuhe so blank poliert, dass es nach Lackleder aussah. Hochgewachsen, asketisch hager, mit einem gepflegten schmalen dunklen Schnurrbart.

      Die junge Frau geriet sofort außer sich, fiel den Männern ins Wort, rief lautstark Dr. Bensimons Namen, bat ihn um Entschuldigung und bestand zugleich darauf, umgehend mit ihm zu sprechen, es sei wirklich dringend, ein Notfall. Der soldatisch anmutende Mann wich zurück, als Dr. Bensimon – mit einem Seitenblick zu Lysander – die quengelnde Patientin in sein Sprechzimmer schob; Lysander hörte ihn mit leiser strenger Stimme zu ihr sagen: »Das darf unter keinen Umständen wieder vorkommen, Miss Bull«, bevor die Tür hinter ihnen zufiel.

      »Gütiger Himmel«, sagte der mutmaßliche Soldat trocken. Er war ebenfalls Engländer. »Was ist denn hier los?«

      »Sie schien in der Tat ein wenig verstört zu sein«, sagte Lysander. »Hat zwei Zigaretten bei mir geschnorrt.«

      »Was sind das nur für Zeiten?«, bemerkte der Mann und nahm seine Melone vom Haken. Mit dem Hut in der Hand sah er Lysander offen an.

      »Kennen wir uns nicht?«, fragte er.

      »Nein, ich denke nicht.«

      »Sie kommen mir so merkwürdig bekannt vor.«

      »Vielleicht ähnele ich einem Ihrer Bekannten.«

      »Kann gut sein.« Er streckte die Hand aus. »Ich heiße Alwyn Munro.«

      »Lysander Rief.«

      »Diesen Namen habe ich aber bestimmt schon mal gehört.« Er zuckte die Achseln, neigte den Kopf zur Seite, kniff die Augen zusammen, als versuchte er, sich zu erinnern, dann gab er lächelnd auf und ging zur Tür. »An Ihrer Stelle würde ich die junge Dame nicht mehr mit Zigaretten füttern. Ich halte sie für nicht ganz ungefährlich.«

      Als er weg war, setzte Lysander seine eingehende Betrachtung des trostlosen kleinen Hofs fort. Er sog jede erdenkliche Einzelheit in sich auf – das Würfelmuster der Pflastersteine, den Zahnfries im Bogen über der Stalltür, einen feuchten Streifen auf der Backsteinmauer, unterhalb eines tropfenden Wasserhahns. Darauf richtete er seine ganze Konzentration. Ein paar Minuten später kam die junge Frau wieder aus Dr. Bensimons Sprechzimmer, deutlich ruhiger und gefasster. Sie nahm ihre Handtasche.

      »Danke, dass ich mich vordrängeln durfte«, sagte sie munter. »Und für die Glimmstängel. Sie sind sehr nett.«

      »Nicht der Rede wert.«

      Sie verabschiedete sich und trottete mit wehendem langem Rock von dannen. Bevor sie die Tür hinter sich schloss, warf sie ihm noch einen Blick zu, sodass Lysander einen letzten Eindruck dieser eigenartigen, durchscheinend braungrünen Augen bekam. Die Augen eines Löwen, dachte er. Im Namen trug sie aber den Bullen.

      3 Das afrikanische Flachrelief

      Lysander saß in Dr. Bensimons Sprechzimmer und sah sich um, während der Arzt seine Personalien in ein Patientenverzeichnis eintrug. Das Zimmer war geräumig, mit drei Fenstern auf einer Seite, schlicht möbliert und fast ausschließlich in Weißtönen gehalten. Weiß gestrichene Wände, weiße Wollgardinen, auf dem hellen Parkett lag ein weißer Teppich und über dem Kamin hing ein primitives Flachrelief aus gehämmertem Silber. In einer Ecke stand Dr. Bensimons Mahagonischreibtisch, dahinter verglaste Bücherregale, die bis zur Decke reichten. Neben dem Kamin befand sich auf einer Seite ein Sessel mit hoher Lehne und einem cremeweißen Überwurf aus grobem Leinen, auf der anderen ein Diwan mit einer dicken gefransten Wolldecke und zwei bestickten Kissen. Beide Möbel standen mit dem Rücken zum Schreibtisch, sodass Lysander, der den Sessel gewählt hatte, sich schier den Nacken verrenken musste, wollte er Dr. Bensimon sehen. Im Zimmer war es sehr still – wegen der Doppelfenster –, und Lysander hörte nicht das Geringste vom Straßenlärm, der unten herrschte – weder das Rattern der Tram noch das Klappern der Kutschen und Pferdewagen oder irgendwelche Automobile. Die Ruhe war vollkommen.

      Lysander betrachtete das silberne Flachrelief. Afrikanische Fabelwesen, halb Mensch, halb Tier, mit bizarrem Kopfputz, filigrane Muster aus winzigen Löchern, in das weiche Silber getrieben. Es war kurios und wunderschön – und wimmelte bestimmt von einschlägiger Symbolik, dachte Lysander.

      »Mr L.U. Rief«, sagte Bensimon. Es war so still, dass Lysander den Füller kratzen hörte. Der Stimme war ein leichter Akzent anzuhören, vielleicht aus Nordengland, dachte Lysander, Yorkshire oder Lancashire, aber so verschliffen, dass man ihn nicht genau zuordnen konnte. Mit Akzenten kannte Lysander sich aus, was ihn stolz machte – zum Entschlüsseln benötigte er in der Regel keine zwei Minuten.

      »Wofür stehen die Initialen?«

      »Lysander Ulrich Rief.«

      »Ein großartiger Name.«

      Manchester, dachte Lysander – dieser typische a-Laut.

      »Rief – ist das schottisch?«

      »Altenglisch. Angeblich heißt das ›gründlich‹. Ich habe allerdings auch gehört, es sei ein angelsächsischer Dialektausdruck für ›Wolf‹. Ziemlich verwirrend.«

      »Ein gründlicher Wolf. Von wölfischer Gründlichkeit. Und was hat es mit ›Ulrich‹ auf sich? Sie sind teils deutscher Abstammung?«

      »Meine Mutter ist Österreicherin.«

      »Aus Wien?«

      »Linz, um genau zu sein. Ursprünglich.«

      »Geburtsdatum?«

      »Meins?«

      »Das Alter Ihrer Mutter dürfte wohl kaum eine Rolle spielen.«

      »Verzeihen Sie. 7. März 1886.«

      Wieder verdrehte Lysander den Kopf. Bensimon saß bequem zurückgelehnt, er lächelte, die Hände hinter der glänzenden Glatze verschränkt.

      »Sie müssen sich nicht ständig umdrehen. Stellen Sie sich einfach vor, ich sei nichts weiter als eine Stimme.«

      4 Wiener Kunstmaterialien

      Lysander ging langsam die Treppe hinunter, völlig in Gedanken versunken, die teils angenehm, teils unbefriedigend und teils beunruhigend waren. Das Gespräch hatte nur eine knappe Viertelstunde gedauert. Bensimon hatte seine Personalien notiert, die Zahlungsmodalitäten geklärt (Abrechnung alle vierzehn Tage, Barzahlung) und ihn schließlich gefragt, ob er bereit wäre, sein »Problem« darzulegen.

      Draußen auf der Straße hielt Lysander inne und zündete sich eine Zigarette an; er fragte sich, ob die Therapie, die er soeben begonnen hatte, ihm wirklich helfen würde oder ob er es nicht lieber mit einer Pilgerfahrt nach Lourdes hätte probieren sollen? Oder mit dem Heilmittel irgendeines Quacksalbers? Oder hätte er wie George Bernard Shaw Vegetarier werden und Jäger-Unterwäsche tragen sollen? Er runzelte die Stirn, weil er auf einmal so unsicher war – und das war seinem Anliegen alles andere als zuträglich. Greville Varley, sein bester Freund, hatte eine Psychoanalyse angeregt – Greville war der Einzige, der von seinem Problem wusste (und auch das nur andeutungsweise) –, und Lysander hatte sich diesem Vorschlag mit Leib und Seele verschrieben, wie ihm nun bewusst wurde, hatte sämtliche Zukunftspläne


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