Eine große Zeit. William Boyd

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Eine große Zeit - William  Boyd


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sehen – wegen meiner Medizin.«

      »Sicher. Dr. Bensimon gibt also auch Medizin aus?«

      »Eigentlich nicht. Aber er hat mir eine Spritze gegeben. Und mich mit Nachschub versorgt.« Sie tätschelte ihre Handtasche. »Das Zeug wirkt Wunder – Sie sollten es ausprobieren, falls Sie mal ein kleines Tief haben.«

      Bei ihr hatte Dr. Bensimons Medizin offensichtlich einiges bewirkt, sie kam Lysander viel ausgeglichener und selbstbewusster vor. Sie schien irgendwie alles im Griff –

      »Sie haben ein ausgesprochen interessantes Gesicht«, sagte Miss Bull.

      »Danke.«

      »Ich würde Sie gern porträtieren.«

      »Tja, ich bin etwas in –«

      »Es muss ja nicht sofort sein.« Sie wühlte in ihrer Tasche und zog eine Visitenkarte hervor. Lysander las: Miss Esther Bull, Künstler und Bildhauer. Unterricht auf Anfrage. Darunter stand eine Adresse in Bayswater, London.

      »Nicht mehr ganz aktuell«, sagte sie. »Jetzt bin ich schon seit zwei Jahren in Wien. Meine Telefonnummer steht auf der Rückseite. Wir haben uns gerade ein Telefon installieren lassen.« Sie blickte ihn herausfordernd an. Lysander war der Plural nicht entgangen. »Ich lebe mit Udo Hoff zusammen«, sagte sie.

      »Udo Hoff?«

      »Der Maler.«

      »Ach. Jetzt, wo Sie es sagen – ja. Udo Hoff.«

      »Haben Sie ein Telefon? Wohnen Sie im Hotel?«

      »Weder noch. Ich wohne in einer Pension. Ich weiß nicht, wie lange ich bleiben werde.«

      »Sie müssen unbedingt im Atelier vorbeischauen. Schreiben Sie mir Ihre Adresse auf. Dann schicke ich Ihnen eine Einladung zu einem unserer Feste.«

      Sie reichte ihm einen Zettel aus ihrer Handtasche und Lysander notierte seine Adresse. Etwas widerwillig, wie er sich eingestehen musste, weil er in Wien allein sein wollte: um sein Problem zu lösen – seine Anorgasmie, wie es nun hieß. Er ganz allein. Im Grunde hatte er weder das Bedürfnis noch den Wunsch nach Gesellschaft. Er gab ihr den Zettel zurück.

      »Lysander Rief«, las sie laut. »Habe ich schon mal von Ihnen gehört?«

      »Wohl kaum.«

      »Und ich heiße übrigens Hettie«, sagte sie, »Hettie Bull«, und streckte ihm die Hand entgegen. Lysander schüttelte sie. Hettie Bull hatte einen bemerkenswert festen Griff.

      5 Der Strom der Lust

      »Warum hat mich die Begegnung mit HB so aufgewühlt? Und warum verspüre ich diese leichte Erregung? Sie ist überhaupt nicht mein Typ, dennoch habe ich jetzt schon das Gefühl, in ihr Leben, in ihre Umlaufbahn hineingezogen zu werden, ob ich will oder nicht. Warum? Und wenn wir uns bei einem Konzert oder einer privaten Feier kennengelernt hätten? Dann hätten wir sicher nicht das geringste Interesse füreinander aufgebracht. Weil wir uns aber im Wartezimmer von Dr. Bensimon begegnet sind, haben wir bereits etwas sehr Intimes übereinander erfahren. Könnte das die Erklärung sein? Die Verletzten, Unvollendeten, Unausgeglichenen, Gestörten, Kranken finden zueinander: Gleich und Gleich gesellt sich gern. Sie wird mich nicht in Ruhe lassen, das weiß ich. Aber ich will gar nicht zu Udo Hoff ins Atelier, wer immer das sein mag. Ich bin nach Wien gekommen, um meinen Mitmenschen aus dem Weg zu gehen, und habe fast niemandem gesagt, wohin ich fahre, auf Nachfragen hin immer nur ›ins Ausland‹ geantwortet. Mutter weiß Bescheid, Blanche, Greville natürlich, und eine Handvoll anderer. Für mich soll Wien eine Art schönes Sanatorium mit lauter Fremden sein – als litte ich an Schwindsucht und wäre bis zur erfolgreichen Heilung einfach untergetaucht. Blanche würde HB wohl nicht mögen. Ganz und gar nicht.«

      Lysander hörte ein unmerkliches Klopfen an seiner Tür – eher ein Kratzen. Er legte den Füller aus der Hand, klappte das Notizbuch zu – seine Autobiographischen Untersuchungen – und verstaute es in der Schreibtischschublade.

      »Kommen Sie hinein, Herr Barth«, sagte er.

      Herr Barth trat auf Zehenspitzen ein und schloss die Tür, so leise es nur ging. Trotz seiner Leibesfülle versuchte er stets, sich möglichst still und unauffällig zu verhalten.

      »Nein, Herr Rief. Nicht hinein, sondern herein.«

      »Verzeihung«, sagte Lysander und stellte einen weiteren Stuhl an den Schreibtisch.

      Herr Barth war Musiklehrer und stammte überdies von einer langen Ahnenreihe von Musiklehrern ab. Sein Vater hatte 1836 Paganini spielen sehen, und als einige Jahre später sein erster Sohn zur Welt kam, nannte er ihn Nikolas zum Gedenken an das Ereignis. Als junger Mann hatte sich Herr Barth voll und ganz mit dem Vorbild identifiziert, ließ sich lange Haare und einen Backenbart wachsen wie Paganini, ohne diesen Stil jemals aufzugeben. Sogar jetzt, mit bald siebzig, färbte er sich die langen grauen Haare und den Backenbart einfach schwarz und trug nach wie vor altmodische Vatermörderkragen und Gehröcke mit Silberknöpfen. Sein Instrument war allerdings nicht die Geige, sondern der Kontrabass, den er etliche Jahre im Orchester des Wiener Lustspieltheaters gespielt hatte, bevor er die Familientradition wieder aufnahm und Musiklehrer wurde. Seinen alten Kontrabass bewahrte er im rissigen Lederkasten am Fußende des Bettes auf, an die Wand seines kleinen Zimmers ganz hinten im Flur gelehnt, das kleinste der drei Zimmer, die in der Pension Kriwanek zu mieten waren. Er behauptete, bei ihm könne man bis zu einem gewissen Leistungsniveau das Spielen sämtlicher »tragbaren sowie handlichen« Instrumente lernen – ob Streich-, Holzblas- oder Blechblasinstrumente. Lysander wusste nicht, ob es Schüler gab, die das Angebot nutzten, aber er nahm Herrn Barths zaghaften Vorschlag, den dieser ihm am Tag nach seinem Einzug in die Pension unterbreitete, dankend an – fünf Kronen sollte eine Stunde Deutsch kosten.

      Herr Barth nahm behäbig Platz, wischte sich mit beiden Händen ein paar Haarsträhnen vom Kragen und drohte Lysander lächelnd mit dem Finger.

      »Achten Sie auf die Vorsilben, Herr Rief. Nur so werden Sie unsere wunderschöne Sprache eines Tages beherrschen.«

      »Heute möchte ich gern Zahlen üben«, antwortete Lysander in fehlerfreiem Deutsch.

      »Ach ja, die Zahlen – die haben es in sich.«

      Eine Stunde lang spielten sie pflichteifrig alles durch – das Zählen an sich, Jahreszahlen, Preise, Wechselgeld, Addition und Subtraktion –, bis Lysander von lauter babylonischem Zahlengewirr der Kopf schwirrte und die Essensglocke läutete. Da Herr Barth nur für Frühstück und Logis bezahlte, zog er sich zurück, während Lysander den getäfelten Speiseraum am anderen Ende des Flurs ansteuerte, wo ihn Frau Kriwanek höchstpersönlich erwartete.

      Frau K, wie sie insgeheim von ihren drei Pensionsgästen genannt wurde, war der Inbegriff von Anstand und Frömmigkeit. Eine Witwe in den Vierzigern, die traditionelle österreichische Kleidung trug – in erster Linie moosgrüne Dirndl mit bestickten Blusen und Schürzen sowie klobige Schnallenschuhe – und sich einer derart überzogenen Höflichkeit befleißigte, dass sie höchstens für die Dauer einer Mahlzeit zu ertragen war, wie Lysander rasch festgestellt hatte. In ihrer Welt waren ausschließlich Menschen, Ereignisse und Dinge enthalten beziehungsweise zugelassen, die entweder angenehm oder erfreulich waren. So lauteten ihre Lieblingsattribute, die sie bei jeder erdenklichen Gelegenheit verwendete. Der Käse war angenehm, das Wetter erfreulich. Die junge Gemahlin des Kronprinzen machte einen angenehmen Eindruck, das neue Postamt war erfreulich gelungen. Und so weiter.

      Lysander lächelte ihr unverbindlich zu, als er an der Tafel seinen Stammplatz einnahm. Er spürte förmlich, wie die Jahre von ihm abfielen: Frau K gab ihm das Gefühl, wieder ein Halbwüchsiger zu sein – jünger sogar, präpubertär. Ihre Anwesenheit entmannte ihn, wirkte seltsam einschüchternd und ehrfurchtgebietend; er erkannte sich dann selbst nicht wieder – wurde zu einem Mann ohne eigene Meinung.

      Er sah noch ein drittes Gedeck – für den anderen Pensionsgast, Leutnant Wolfram Rozman, der offenbar nicht da oder spät dran war. Das Abendessen begann um Punkt acht Uhr. Frau K schätzte Lysander sehr – er war angenehm und erfreulich und noch dazu Engländer (angenehme


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