Philosophisches Taschenwörterbuch. Voltaire

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Philosophisches Taschenwörterbuch - Voltaire


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ist es unbestreitbar, dass die Einwohner von Gallien und die von Spanien von Gomer abstammen; und die Russen von Magog, seinem jüngeren Bruder: Man findet diese Genealogie in so vielen dicken Büchern!* Von daher kann man nicht leugnen, dass wir Magog die sechzigtausend Russen verdanken, die heute in der Nähe von Pommern in Waffen stehen, und die sechzigtausend Franzosen, die sich in der Nähe von Frankfurt aufhalten. Ich sehe aber nicht ein, weshalb es Einfluss auf den Entschluss der Kaiserin Elisabeth von Russland gehabt haben soll, Maria-Theresia, der Kaiserin des Römischen Reiches, eine Armee zu Hilfe zu schicken, dass Magog rechts oder links vom Kaukasus ins Wasser gespuckt hat, zwei oder drei Runden in einem Brunnen gelaufen ist und auf der linken oder rechten Seite geschlafen hat. Ob nun mein Hund, wenn er schläft, träumt oder nicht, ich kann nicht die Beziehung entdecken, die diese wichtige Geschichte zu der des Großmoguls haben könnte.

      Man muss bedenken, dass in der Natur nicht alles aus festen Körpern besteht und dass nicht jede Bewegung sich so vom einen zum anderen und nach und nach überträgt, bis sie ihren Weg um die Welt gemacht hat. Werfen Sie mal einen Körper von gleicher Dichte ins Wasser, Sie können sich leicht ausrechnen, dass nach einiger Zeit die Bewegung dieses Körpers und die, die er dem Wasser mitgeteilt hat, aufgehört haben.* Die Bewegungen verlieren und erneuern sich wieder; daher kann die Bewegung, die Magog auslösen konnte, indem er in einen Brunnen spuckte, nicht auf das eingewirkt haben, was heute in Russland und in Preußen geschieht. Also sind die heutigen Ereignisse nicht die Kinder all der vergangenen Ereignisse; sicher gibt es direkte Verbindungslinien, aber tausend kleine Seitenlinien sind zu gar nichts nütze. Noch einmal, jedes Lebewesen hat seinen Vater, aber nicht jedes Lebewesen hat Kinder: Wir werden vielleicht mehr darüber sagen, wenn vom Schicksal die Rede ist.

      CHAÎNE DES ÊTRES CRÉÉS – Die Kette der geschaffenen Lebewesen

      Das erste Mal, als ich Platon las und von jener Stufenfolge der Lebewesen erfuhr, die vom leichtesten Atom bis zum höchsten Wesen aufsteigen, erregte diese Stufenleiter meine Bewunderung; aber bei aufmerksamer Betrachtung verschwand dieses großartige Phantom, wie sich in früheren Zeiten am Morgen beim ersten Hahnenschrei alle Gespenster verflüchtigten.

      Der Vorstellungskraft gefällt es zunächst, den kaum wahrnehmbaren Übergang von der rohen Materie zur organisierten Materie zu sehen, von den Pflanzen zu den Zoophyten*, von diesen Zoophyten zu den Tieren, von ihnen zum Menschen, von den Menschen zu den Geistern und dann von diesen Geistern, die von einem kleinen, luftartigen Körper umhüllt sind, hin zu den immateriellen Substanzen; und schließlich tausend verschiedene Ordnungen dieser Substanzen, die sich von der Schönheit in höchster Vollendung bis zu Gott selbst erheben. Diese Hierarchie gefällt den guten Leuten sehr, die glauben, darin den Papst und seine Kardinäle gefolgt von den Erzbischöfen und Bischöfen zu sehen; nach denen kommen dann die Pfarrer, die Vikare, die einfachen Priester, die Diakone, die Unterdiakone, dann tauchen die Mönche auf, und das Ende der Prozession bilden die Kapuziner.

      Aber der Abstand zwischen Gott und seinen vollkommensten Geschöpfen ist etwas größer als der zwischen dem Heiligen Vater und dem Dekan des heiligen Kollegiums: Dieser Dekan kann Papst werden, doch der vollkommenste aller vom höchsten Wesen geschaffenen Geister kann nicht Gott werden; zwischen ihm und Gott befindet sich die Unendlichkeit.

      Diese Kette, diese angebliche Abstufung, existiert bei den Pflanzen ebenso wenig wie bei den Tieren; der Beweis dafür ist, dass es Pflanzen- und Tierarten gibt, die vernichtet wurden. Es gibt keine Stachelschnecken mehr. Es war verboten, Greif und Ixion zu essen.* Diese beiden Arten sind von dieser Erde verschwunden, was Bochart auch darüber sagen mag:* Wo ist also die Kette?

      Selbst wenn wir nicht schon einige Arten verloren hätten, ist es offensichtlich, dass man welche vernichten kann. Die Löwen, die Nashörner beginnen sehr selten zu werden.

      Es ist sehr wahrscheinlich, dass es Menschenrassen gegeben hat, die man nicht mehr vorfindet; aber ich nehme an, dass sie alle existiert haben, wie die Weißen, die Neger, die Kaffern, denen die Natur eine Schürze aus ihrer Haut gegeben hat, die von ihrem Bauch bis zur Hälfte der Schenkel herabhängt; die Samoyaden, bei denen die Brustwarzen der Frauen eine schöne Ebenholzfarbe haben, usw.

      Besteht nicht deutlich sichtbar eine Leerstelle zwischen dem Affen und dem Menschen? Drängt es sich nicht auf, sich ein Tier mit zwei Beinen und ohne Federn vorzustellen, das intelligent wäre, aber weder über den Gebrauch der Sprache noch unser Aussehen verfügte, das wir zähmen könnten, das auf unsere Zeichen reagierte und uns zu Diensten wäre? Und könnte man sich zwischen dieser neuen Art und den Menschen nicht noch andere vorstellen?

      Jenseits der Menschen bringen Sie, göttlicher Platon, im Himmel eine Reihe himmlischer Wesen unter; unsereins glaubt an einige dieser Wesen, weil der Glaube es uns lehrt. Sie aber, welchen Grund haben Sie, daran zu glauben? Sie haben anscheinend nicht mit dem Geist des Sokrates gesprochen; und dieser brave alte Heres, der eigens zu neuem Leben erwachte, nur um Sie die Geheimnisse des Jenseits zu lehren, hat Ihnen nichts über diese Wesen beigebracht?*

      Das ändert aber nichts daran, dass diese angebliche Kette im wahrnehmbaren Universum unterbrochen ist.

      Welche Abstufung besteht, bitte, zwischen Ihren Planeten? Der Mond ist vierzigmal kleiner als unsere Erdkugel. Wenn Sie vom Mond aus durch die Leere gereist sind, treffen Sie auf die Venus, sie ist ungefähr so groß wie die Erde. Von da aus gehen Sie zum Merkur, er dreht sich in einer Ellipse, die sehr verschieden ist von der Kreisbahn, die die Venus durchläuft; er ist siebenundzwanzigmal kleiner als wir, die Sonne eine Million Mal größer, der Mars fünfmal kleiner; dieser durchläuft seine Bahn in zwei Jahren, Jupiter, sein Nachbar, die seine in zwölf, Saturn in dreißig; und dann ist Saturn, der entfernteste von allen, nicht so groß wie Jupiter.* Wo ist da die angebliche Abstufung?

      Sodann, wie soll es denn in den weiten leeren Räumen eine Kette geben, die alles verbindet? Wenn es eine gibt, dann ist es sicher die, die Newton entdeckt hat; sie ist es, die alle Himmelskörper der Planetenwelt in dieser ungeheuren Leere umeinander kreisen lässt.

      Oh, so sehr bewunderter Platon! Sie haben nur Fabeln erzählt, und es ist von den Cassideriden-Inseln*, wo zu Ihrer Zeit die Menschen ganz nackt umherliefen, ein Philosoph gekommen, der die Welt Wahrheiten lehrte, die ebenso groß waren wie Ihre Vorstellungen kindisch.

      LE CIEL DES ANCIENS – Der Himmel in der Antike

      Wenn eine Seidenraupe dem zarten Gespinst, das ihr Gehäuse umgibt, den Namen Himmel gäbe, würde sie, wie Fontenelle sehr gut in seinen Unterhaltungen über die Vielzahl der Welten bemerkt hat, genauso argumentieren, wie es alle in der Antike taten, als sie die Atmosphäre, das Gespinst um unser Gehäuse, Himmel nannten.*

      Die Dämpfe, die aus unseren Meeren und unserer Erde aufsteigen und Wolken, Meteore und Donner bilden, galten zunächst als Wohnung der Götter. Bei Homer fahren die Götter immer auf goldenen Wolken herunter; daher kommt es, dass die Maler sie auch heute noch auf einer Wolke sitzend malen; aber da es sich wohl so gehörte, dass es dem Obersten der Götter besser ergehe als den anderen, gab man ihm einen Adler, um ihn zu tragen, denn der Adler fliegt höher als alle anderen Vögel.

      Da die alten Griechen sahen, dass die Herrscher über die Städte in Zitadellen hoch oben auf irgendeinem Berg wohnten, so meinten sie, die Götter könnten auch eine Zitadelle haben, und platzierten sie in Thessalien auf dem Berg Olymp, dessen Gipfel manchmal von Wolken verborgen ist, so dass der Götterpalast auf gleicher Höhe wie ihr Himmel lag.

      Die Sterne und Planeten, die am blauen Gewölbe unserer Atmosphäre befestigt zu sein scheinen, wurden dann die Wohnungen der Götter. Sieben von ihnen hatten ein jeder seinen eigenen Planeten, die anderen wohnten, wo sie konnten. Der allgemeine Götterrat wurde in einem großen Saal abgehalten, den man über die Milchstraße erreichte, denn die Götter mussten einen Sitzungssaal in der Luft haben, da die Menschen auf der Erde ihre Rathäuser hatten.

      Als die Titanen, eine Art von Lebewesen zwischen Göttern und Menschen, diesen Göttern einen ziemlich gerechten Krieg erklärten, um einen Teil ihres väterlichen Erbes zurückzufordern, weil sie Söhne des Himmels und der Erde waren, türmten sie nur zwei oder drei Berge übereinander, in der Meinung, dass dies sehr wohl ausreiche, um sich zu Herren über den Himmel und den Sitz der


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