Philosophisches Taschenwörterbuch. Voltaire

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Philosophisches Taschenwörterbuch - Voltaire


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klar, dass mehrere Völker die Beschneidung von Ägypten übernommen haben; aber keine Nation jemals behauptet hat, sie von den Juden erhalten zu haben. Wem kann man nun den Ursprung dieses Brauchs zuschreiben – der Nation, von der fünf oder sechs andere bekennen, ihn erhalten zu haben, oder einer anderen Nation, die weit weniger mächtig, weniger Handel treibend, weniger Krieg führend, versteckt in einem Winkel Arabiens lebend und niemals die geringste ihrer Gewohnheiten an irgendein anderes Volk weitergegeben hat?

      Die Juden sagen, sie seien vormals aus Barmherzigkeit in Ägypten aufgenommen worden; ist es nicht wahrscheinlich, dass das kleine Volk einen Brauch des großen Volkes nachahmte und die Juden einige Sitten ihrer Herren annahmen?

      Clemens von Alexandria berichtet, dass Pythagoras, als er durch Ägypten reiste, gezwungen war, sich beschneiden zu lassen, um zu ihren religiösen Mysterien zugelassen zu werden; man musste also unbedingt beschnitten sein, wollte man der Priesterschaft Ägyptens angehören. Diese Priester waren da, als Josef in Ägypten ankam, die Regierungsform bestand seit Langem, und man beachtete die antiken Zeremonien Ägyptens mit gewissenhafter Genauigkeit.

      Die Juden geben zu, dass sie zweihundertfünf Jahre in Ägypten ansässig waren*, sie sagen, dass sie sich in diesem Zeitraum nicht beschneiden ließen; es ist folglich klar, dass die Ägypter während dieser zweihundertfünf Jahre die Beschneidung nicht von den Juden erhalten haben. Hätten sie diese von ihnen übernommen, nachdem ihnen die Juden alle Gefäße gestohlen hatten, die man ihnen geliehen hatte, und nach ihrem eigenen Zeugnis mit ihrer Beute in die Wüste entflohen? Übernimmt ein Herr das wichtigste Kennzeichen der Religion von seinem flüchtigen und diebischen Sklaven? Dies liegt nicht in der Natur des Menschen.

      Es heißt im Buch Josua, dass die Juden in der Wüste beschnitten wurden: Ich habe euch von dem befreit, was bei den Ägyptern zu eurer Schande gereichte.* Nun, was könnte dieses Schandebringende sein für Leute, die sich unter den Völkern der Phönizier, Araber und Ägypter befanden, wenn nicht das, was sie für diese drei Nationen verachtenswert machte? Wie befreite man sie von dieser Schande? Indem man sie von einem Stück Vorhaut befreite. Liegt nicht darin der natürliche Sinn dieser Passage?

      Die Genesis sagt,* dass Abraham schon vorher beschnitten worden war, doch Abraham reiste durch Ägypten, das seit Langem, von einem mächtigen König regiert, ein blühendes Königreich war. Nichts spricht dagegen, dass die Beschneidung in diesem so alten Königreich bereits lange in Gebrauch war, als sich die jüdische Nation bildete. Außerdem blieb die Beschneidung Abrahams ohne Nachahmung, seine Nachkommen wurden erst zur Zeit Josuas beschnitten.

      Nun übernahmen die Israeliten vor Josua sogar nach ihrem eigenen Bekunden viele der Gewohnheiten der Ägypter: So entlehnten sie einige Opferbräuche, mehrere religiöse Rituale wie das Fasten, das man an den Tagen vor den Isisfesten praktizierte, die Reinigungshandlungen, den Brauch, die Köpfe der Priester zu rasieren, den Weihrauch, den Kandelaber, das Opfer der roten Kuh, die Reinigung mit Ysopbüscheln*, den Verzicht auf Schweinefleisch, die Abscheu vor Küchengeräten fremder Völker. All das belegt, dass das kleine hebräische Volk trotz seiner Abneigung gegen die große ägyptische Nation eine unendliche Vielzahl von Gebräuchen seiner früheren Herren übernommen hatte. Dieser Ziegenbock Asasel, dem man die Sünden des Volkes auflud und ihn in die Wüste jagte, war eine ersichtliche Kopie eines ägyptischen Brauches, die Rabbiner geben sogar zu, dass das Wort Asasel nicht-hebräischen Ursprungs ist. Nichts spricht also dagegen, dass die Hebräer die Ägypter bei der Beschneidung nachgeahmt haben, wie dies auch die Araber, ihre Nachbarn, taten.

      Es ist keinesfalls verwunderlich, dass Gott, wenn er schon die Taufe – so lange gebräuchlich bei den Asiaten – heiligte, auch die Beschneidung guthieß, die nicht weniger lange bei den Afrikanern gebräuchlich war. Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass es dem Herrn gegeben ist, die Merkmale seines Wohlgefallens auszuwählen.

      Des weiteren hat das jüdische Volk, seitdem es unter Josua beschnitten wurde, diesen Brauch bis auf unsere Tage beibehalten, auch die Araber sind ihm fortwährend treu geblieben, während die Ägypter, die in der ersten Zeit Jungen und Mädchen beschnitten, mit der Zeit damit aufhörten, diese Operation an Mädchen vorzunehmen, und sie schließlich auf Priester, Astrologen und Propheten beschränkten. Das berichten uns Clemens von Alexandria und Origenes. Tatsächlich weiß man gar nicht, ob die Ptolemäer die Beschneidung jemals praktizierten.

      Die lateinischen Autoren, welche die Juden mit so großer Verachtung behandeln, indem sie sie zum Beispiel spöttisch Curtus Apella, Credat Judaeus Apella, Curti Judaei* nennen, geben den Ägyptern keine derartigen Beinamen. Das ganze ägyptische Volk ist zwar heute beschnitten, aber aus einem anderen Grund, denn der mohammedanische Glaube hat die alte Beschneidung von den Arabern übernommen.

      Es ist diese arabische Beschneidung, die zu den Äthiopiern kam, wo man Jungen und Mädchen noch heute beschneidet.

      Man muss eingestehen, dass diese Beschneidungszeremonie zunächst sehr befremdlich erscheint; man muss aber beachten, dass sich die Priester des Morgenlandes zu allen Zeiten ihren Gottheiten durch besondere Kennzeichen weihten. Mit einem Stichel ritzte man den Bacchuspriestern ein Efeublatt ins Handgelenk. Lukian sagt uns, dass die Isisanbeter sich Buchstaben auf die Faust und auf den Hals tätowierten.* Die Priester der Kybele machten sich zu Eunuchen.

      Allem Anschein nach stellten sich die Ägypter, die das Fortpflanzungsorgan sehr verehrten und sein Abbild bei ihren Prozessionen prunkvoll mitführten, vor, dass sie Isis und Osiris, von denen alles Leben auf der Erde abhing, einen kleinen Teil jenes Gliedes opferten, durch das sich das menschliche Geschlecht nach dem Willen dieser Gottheiten fortpflanzte. Die alten orientalischen Sitten sind so erstaunlich verschieden von den unseren, dass, wer ein wenig belesen ist, nichts für unmöglich halten wird. Ein Pariser ist ganz erstaunt, wenn man ihm sagt, dass die Hottentotten ihren männlichen Kindern eine Hode abschneiden lassen. Die Hottentotten sind vielleicht erstaunt, dass die Pariser davon zwei behalten.

      CORPS – Körper

      Genauso wenig, wie wir wissen, was ein Geist ist, wissen wir, was ein Körper ist: Wir sehen einige Eigenschaften, aber was ist das Subjekt, zu dem diese Eigenschaften gehören? Es gibt nur Körper, sagten Demokrit und Epikur. Es gibt überhaupt keine Körper, sagten die Schüler des Zenon von Elea.*

      Der Bischof von Cloyne, Berkeley, ist der letzte, der mit hundert trügerischen Sophismen zu beweisen vorgab, dass die Körper nicht existieren; sie haben, so behauptet er, keine Farben, keine Gerüche, keine Temperatur. Diese Eigenschaften gibt es in unseren Empfindungen, aber nicht in den Dingen selbst: Er hätte sich die Mühe sparen können, diese Wahrheit zu beweisen, sie war hinreichend bekannt. Doch von da geht er zur Ausdehnung und Festigkeit über, die zum Wesen des Körpers gehören, und er meint beweisen zu können, dass es in einem Stück grünen Tuches keine Ausdehnung gebe, da dieses Tuch in Wirklichkeit nicht grün sei und diese Empfindung des Grünen nur in uns existiere, weshalb es diese Empfindung der Ausdehnung auch nur in uns geben kann. Und nachdem er auf diese Weise die Ausdehnung zum Verschwinden gebracht hat, schließt er, dass die Festigkeit, die damit verbunden ist, sich von selbst auflöst; und so gibt es nichts anderes auf der Welt als unsere Vorstellungen. Daraus folgt nach diesem Kirchenlehrer, dass zehntausend Menschen, die durch zehntausend Kanonenschüsse getötet wurden, eigentlich nichts anderes sind als zehntausend Ausgeburten unserer Vorstellungskraft.

      Es lag also nur in der Hand des Herrn Bischof von Cloyne, die Lächerlichkeit nicht auf die Spitze zu treiben. Er glaubt zu beweisen, dass es keinerlei Ausdehnung gibt, weil ein Körper ihm, als er seine Brille aufhatte, viermal so groß erschien, als wie er ihn mit bloßem Auge wahrnahm, und er erschien ihm wiederum viermal kleiner, wenn er andere Gläser aufsetzte. Daraus schließt er, dass, da ein Körper nicht gleichzeitig vier Fuß, sechzehn Fuß und einen einzigen Fuß Ausdehnung haben kann, diese Ausdehnung nicht existiert, weshalb es nichts dergleichen gibt. Er hätte nur ein Maß zu nehmen brauchen und sagen sollen: »Unabhängig davon, wie groß mir ein Körper auch erscheinen mag, besitzt er eine Ausdehnung von soundso vielen Maßeinheiten.«

      Er hätte leicht feststellen können, dass es sich mit der Ausdehnung und der Festigkeit anders verhält als mit den Tönen, den Farben, dem Geschmack und den Gerüchen usw. Es ist klar, dass es sich dabei um die in uns durch die Beschaffenheit


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