Himmel. Sandra Newman

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Himmel - Sandra  Newman


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im vollen Galopp die Schwerter. Bei ihnen habe es entweder Opiumhöhlen oder Stalinismus gegeben, nichts dazwischen; das sagte Kate und lachte über sich selbst.

      Ben war halb bengalisch, halb jüdisch. Das hätte eine interessante Mischung sein können, aber die Realität war eher unspektakulär. Seine Vorfahren waren Rabbiner, Ladenbesitzer, Anwälte gewesen; in Ben stieg die Ahnung auf, dass das im Vergleich zu ihr uncool wirken könnte, und er musste dieses Gefühl bewusst unterdrücken. Er sagte: »Meine Familie hat nie die Schwerter geschwungen, aber ich bin jederzeit bereit, es auszuprobieren.«

      Sowohl Ben als auch Kate hatten einen dunklen Teint, schwarze Augen und Adlernasen; sie sahen aus wie Angehörige ein- und desselben undefinierbaren Stammes. Sie kommentierten diese Ähnlichkeit mit selbstironischen Ausdrücken wie »beige« und »Zinken«, und freuten sich dermaßen darüber – über nichts –, dass sie begannen, mit dem Hund in Richtung Downtown zu laufen. Der Hund war ebenfalls beige. Ben machte sie darauf aufmerksam, und sie blieben stehen und hockten sich hin, um ihre Arme mit seinem Fell zu vergleichen; dabei berührten sie sich zum ersten Mal. Der Hund leckte ihre Hände ab und verhinderte, dass mehr passierte. Dennoch hatte es definitiv einen Funken gegeben.

      Auf dem Weg zurück zur Wohnung tauschten sie jene Informationen aus, die man auf Datingportalen in sein Profil schreibt. Es fühlte sich an, als würden sie nachträglich den Papierkram für eine Sache erledigen, die sie unter der Hand bereits beschlossen hätten. Und dann, im Aufzug, als sie allein waren, sehnte Ben sich danach, sie zu küssen. Sie lächelte zur Tür hin, unküssbar, und strahlte den Gedanken an Sex aus. Sie traten hinaus, sie ließ den Hund von der Leine und hängte die Leine an die Garderobe. Ohne ein Wort gingen sie auf den Balkon.

      Es war schon jemand dort – der Dauergast der reichen Gastgeberin, ein älterer Neuseeländer, den Kate bereits kannte und der später in ihrer beider Leben eine wichtige Rolle spielen sollte. Zu diesem Zeitpunkt aber verschwendete Ben kaum einen Gedanken an ihn. Seine Anwesenheit bedeutete nichts weiter, als dass er mit Kate nicht allein war. Der Neuseeländer erzählte von einem Garten, an dem er gerade arbeitete; er war Gartengestalter und nach New York gekommen, um jemandem, der sehr reich war, einen Garten anzulegen. Ben lauschte seinem Akzent und betrachtete ihn hauptsächlich als nützliche Unterbrechung, ein Mittel, das es ihnen ermöglichen würde, die nächste Etappe etwas sanfter anzugehen.

      So standen sie also auf dem windigen Balkon, die Lichter New Yorks breiteten sich wie ein Sternenhimmel unter ihnen aus. Richtige Sterne gab es kaum zu sehen, und die wenigen schimmerten nur blass. Von diesem Standpunkt aus wirkte die Stadt strahlender und komplexer als der Kosmos; tatsächlich schien der Kosmos gewöhnlich, wie ein gerahmter Druck, der nur deshalb an der Wand hing, weil sie ohne ihn falsch aussähe. Es muss Bilder geben und es muss einen Kosmos geben, auch wenn niemand sie betrachtet. Und Ben sah verstohlen zu Kate und wünschte sich, er könnte ihr all das sagen; er war überzeugt, dass sie ihn verstehen würde.

      Sie hatte eine längliche Nase und längliche, humorvolle Augen, einen vollen, lippenstiftroten Mund. Persisch, sagte er in Gedanken wie berauscht, persisch. Mit Absätzen war sie genauso groß wie er. Voll und rundlich, wie eine Katze mit viel Fell. Sie hielt sich unheimlich gerade, als würde sie niemals schlaff oder mit krummem Rücken an ihrem Schreibtisch sitzen. Sie lehnte sich nicht einmal ans Balkongeländer, sondern stand mit am Körper herabhängenden Armen da. Schwerelos. Eine königliche Haltung. Persisch.

      Draußen erzählte sie ihm, dass sie Künstlerin sei – »Arbeiten auf Papier« –, und ihren Kunst-Bachelor am Pratt Institute abgebrochen habe.

      »Wenn es etwas wie Geologie gewesen wäre, dann vielleicht«, hatte sie gesagt (weil er ihr erzählt hatte, dass er einen Abschluss in Geologie habe, obwohl er eigentlich Lyriker sei – publiziert, hatte er hastig hinzugefügt. Sie eilte ihm zur Hilfe: »Also ich lese Lyrik.« Er sagte: »Wirklich?« Sie sagte: »Gerade ist Apollinaire dran«, und zitierte Apollinaire auf Französisch, als wäre das für eine gescheiterte Kunststudentin vollkommen selbstverständlich. Danach hatte sie angefügt: »Mein Französisch ist furchtbar, tut mir leid«, und er hatte dummerweise mit »Ich auch nicht« geantwortet, weil er so enorm abgelenkt war und plötzlich in Begriffen der Liebe dachte.

      »Wir sollten zurück zur Party«, hatte sie gesagt, und die Welt erkaltete. Wie war er so schnell an diesen Punkt gelangt?)

      Und jetzt der windige Balkon, die überflüssigen Sterne, die Stadt als Mysterium glitzernder Türme. Kate und der Neuseeländer unterhielten sich über die Great-Man-Theorie in der Geschichte, der zufolge menschlicher Fortschritt von Menschen der Superlative wie Sokrates oder Mohammed abhing, die eigenhändig die Welt veränderten. Kate verteidigte diese Ansicht, während der Neuseeländer sich darüber lustig machte und nicht glauben wollte, dass sie es ernst meinte. Er sagte: »Wie kann jemand so viel besser sein als die anderen? Wir sind uns doch von der Biologie her alle total ähnlich.«

      »Sie müssten nicht so viel besser sein«, sagte Kate. »Es kommen ja noch die äußeren Umstände hinzu, da kommt dann alles zusammen, wie bei allen ungewöhnlichen Vorkommnissen, einem Supervulkan oder schweren Erdbeben.«

      Sie sah Ben an.

      Ben sagte: »Schwere Erdbeben sind nicht so ungewöhnlich.«

      »Ben ist Geologe«, erklärte Kate dem Neuseeländer.

      »Aber ist er ein großer Geologe?«, sagte der Neuseeländer.

      Kate lachte. Ben lachte auch, obwohl er sich fragte, ob dieser Seitenhieb seinem Ansehen bei Kate schaden würde. Der Neuseeländer verkündete, er wolle sich noch etwas zu trinken holen, und verschwand. Plötzlich raste Bens Herz. Bruchstücke des Apollinaire-Verses, den sie zitiert hatte, gingen ihm durch den Kopf: mon beau membre asinin … le sacré bordel entre tes cuisses (mein dummer, schöner Schwanz … das heilige Bordell zwischen deinen Schenkeln). Als sie das gesagt hatte, war es ihm auf jeden Fall wie ein Flirt vorgekommen. Doch vielleicht hatte sie wirklich nur Apollinaire im Sinn gehabt.

      Jetzt lächelte Kate ihm vage zu und blickte zu den Balkontüren hinter ihnen. Ihr Gesicht fing das Licht ein, was einen Schimmer auf ihre ebene Wange legte. Eine neue Entschlossenheit erschien in ihrem Blick – einen schrecklichen Moment lang dachte er, sie würde ihn hier draußen stehenlassen. Doch sie wandte sich ihm wieder zu, lächelte bezaubernd und sagte: »Ich habe den Schlüssel für die Dachterrasse. Ich schlafe auf dem Dach, vielleicht wäre das ja auch was für dich.«

      Er nickte, atemlos, während sie ihm erklärte, dass Sabine (die reiche Gastgeberin) eine gute Freundin von ihr sei. Kate schlafe häufiger auf dem Dach. Sie habe dort oben eine Luftmatratze liegen. »Sie hat einen Mechanismus, mit dem sie sich selbst aufbläst«, sagte Kate und machte eine Handbewegung, die den Mechanismus darstellen sollte.

      Er lachte, ihm war ganz schwindlig. Er wiederholte die Bewegung, und Kate nahm ihm beim Ärmel, einfach so, und führte ihn zurück zur Party. »Ich frage Sabine, aber sie hat bestimmt nichts dagegen.«

      Eine herrliche Brise ging durch die Wohnung, die zwei Stockwerke und zwölf Zimmer hatte und dem Onkel der reichen Gastgeberin gehörte; sie beherbergte seine Sammlung afrikanischer Trommeln, aus diesem Grund (irgendwie war diese Information zu jedem durchgedrungen) war die Klimaanlage immer eingeschaltet und alle Fenster mussten geschlossen sein, ansonsten würde die Luftfeuchtigkeit den Trommelhäuten schaden. Vermutlich kamen sie aus einem trockenen Teil Afrikas oder sollten regelmäßig von einer Riege längst ausgestorbener Handwerker neu bezogen werden, deren Nachfahren Ingenieure oder Postangestellte geworden waren. Jedenfalls waren die Fenster geöffnet, die Klimaanlage ausgeschaltet, und alle betrachteten die Trommeln, sprachen über sie im vollen Bewusstsein, dass die Party ihre Lebensdauer verringern würde.

      Auch Ben erschienen die Trommeln nun als Opfergabe für das, was auch immer dieser Abend bedeuten sollte.

      Sie fanden Sabine, die reiche Gastgeberin, im Gespräch mit drei Männern, die alle wesentlich größer waren als sie, weshalb sie in einem Hain aus Männern zu stehen schien. Sie sprachen Französisch und gestikulierten auf eine Weise, die Ben ebenfalls französisch vorkam. Sabine war sehr blond und ähnlich gebaut wie Kate, wobei ihre Kurven nicht aufreizend, sondern plump wirkten. Sie sah nicht reich aus;


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