Himmel. Sandra Newman

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Himmel - Sandra  Newman


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Enge – das Bett schien von irgendetwas umschlossen –, und eine Vielfalt von Gerüchen. Irgendwo erklang das Gurren einer Taube und bescherte ihr müßige, zusammenhangslose Träume von Kuchen. Dann kämpfte Kate gegen den Schlaf an, doch die Person war müde, todmüde, wie von schwerer körperlicher Arbeit, erschöpft, wie Kate selbst es niemals war. Also konnte sie nicht anders, als selig wieder in einen tiefen Schlaf zu verfallen.

      In dem Traum war Kate von einer zauberhaften Freude ergriffen. Die Person fühlte Furcht, Ärger und Sorge, aber selbst sie waren ein Wunderland der Empfindungen, wie eine Reihe schöner Farben. Wenn Kate erwachte, hielt dieses Gefühl auch im wahren Leben noch ein paar Minuten an.

      Kate hatte den Traum zum ersten Mal geträumt, als sie noch ein Kind gewesen war. Anfangs träumte sie ihn nur einige Male im Jahr, nun aber kam er fast jede Nacht. An jedem Morgen, nachdem sie den Traum geträumt hatte, fühlte sie eine besondere, erhabene Wichtigkeit – als wäre der Traum eine geheime Mission, von dem das Schicksal von Millionen Menschen abhinge; als läge in ihm der Schlüssel zur Rettung der Welt verborgen.

       3

      Ben frühstückte mit Sabine. Kate war verschwunden, während er geschlafen hatte, wobei sie jede Minute zurückerwartet wurde, da mit ihr auch der Hund verschwunden war, und sie den Hund vermutlich lediglich ausführen, nicht stehlen wollte. Das Frühstück wurde von einer Hausangestellten zubereitet, einer Frau mittleren Alters mit pechschwarzem Haar, die Sabine kameradschaftlich auf Französisch ansprach. Als Ben ihrer Unterhaltung lauschte, ging es um das Aussterben der [Wort, das er nicht verstand] im Mittelmeer, das durch die Umweltverschmutzung verursacht wurde. Die Umweltverschmutzung hatte Algenblüten zur Folge, die den [Wort, das er nicht verstand] den Sauerstoff wegnahmen. Die Einleitung von durch die Landwirtschaft verunreinigtem Wasser war reduziert worden, doch für die [Wort, das er nicht verstand] war es bereits zu spät. Das ist furchtbar, sagte die Hausangestellte, und Sabine in demselben, betrübten Ton: Furchtbar. Dann erzählte Sabine, dass ihr Onkel – sie umfasste mit einer unbestimmten Geste die Wohnung des Onkels – nicht an Umweltverschmutzung glaube. Er meint, dass alle Chemikalien gleich sind, sagte Sabine. Er meint, dass die Luft aus Chemikalien besteht.

      An dieser Stelle bemerkten Sabine und die Hausangestellte, dass Ben zuhörte, und lächelten ihm zu. In seinem sorgfältigen Französisch sagte er: Auch wir bestehen aus Chemikalien.

      Sie lachten freundlich, als wollten sie bewirken, dass er sich wohl fühlte. Dann brachte ihm die Hausangestellte einen Teller mit Rührei, sagte »Bon appétit« und ging.

      Sabine sagte zu Ben: »Kate kommt bestimmt gleich wieder.« Dann schlug sie die New York Times auf und begann zu lesen. Das erschreckte ihn, sowohl wegen der Unhöflichkeit als auch deshalb, weil er die Times nicht hatte dort liegen sehen. Dazu dieses nackte Gefühl, ohne Lektüre dort sitzen gelassen zu werden, während jemand anderes las. Er fühlte sich bleiern und lächerlich, gleichzeitig akzeptierte er dieses Gefühl als Teil jener neuen Welt, der Welt mit Kate. Es gab so viele Geheimnisse, in die er nicht eingeweiht würde. Er würde sich dumm fühlen müssen, weil es ihm zu ernst war.

      Plötzlich legte Sabine die Times ab. »Ach, scheiße, mir fällt gerade ein, dass Kate noch eine Weile brauchen könnte.«

      Ben machte ein wissendes Gesicht und kaute sein Rührei.

      »Nicht, dass ich dich rausschmeißen will«, sagte Sabine. »Du kannst hier warten. Aber ich glaube, sie bringt den Hund zu Nick.«

      Er schluckte. »Zu Nick?«

      »Nick ist ihr Ex. Hat sie dir nicht von Nick erzählt?«

      »Nein.«

      »Also wegen Nick musst du dir keine Sorgen machen. Mit Nick ist es aus. Nick hat Kate für eine Katalogbraut verlassen. Die Katalogbraut von jemand anderem. Eine Thailänderin, glaube ich. Aber Kate bringt den Hund zu ihm, weil er nicht gut drauf ist und sie der Meinung ist, dass ihn das aufheitert.«

      Ben zwang sich zu einem beiläufigen Lächeln. »Nick hat jemandem die Katalogbraut ausgespannt?«

      »Nein, sie hatte ihren Mann schon verlassen. Sie ist eine durchgebrannte Katalogbraut. Ich weiß, das klingt komisch, aber so komisch ist das gar nicht. Wir kennen ziemlich viele Katalogbräute, weil eine Freundin von uns eine Organisation gegründet hat, um ihnen zu helfen. Allein drei wohnen gerade hier.«

      In diesem Moment war oben eine Toilettenspülung zu hören. Ben stellte sich sofort eine Katalogbraut vor, blass und heimwehkrank, wie sie sich von der gluckernden Toilette wegdrehte und ihr traditionelles Thai-Gewand richtete.

      »Aha«, sagte er. »Das ist bestimmt seltsam.«

      »Nicht wirklich.« Sabine zuckte die Achseln. »Alle möglichen Leute übernachten hier. Im Moment wohnen hier eine Kongressabgeordnete aus Maine, plus zwei Umweltaktivisten, plus die Katalogbräute und Martin und noch ein paar andere. Ich bin der einzige Mensch in der linken Szene, der freie Zimmer hat. Ich bin eine Art rotes Hotel.«

      »Du bist in der Politik?«

      Sabine zog ein Blöde-Frage-Gesicht, stand mit einem Mal auf und ging zur Spüle. Sie nahm eine große Metallkanne vom Regal und füllte sie mit Wasser auf. Einen Moment lang stellte Ben sich vor, dass sie drauf und dran war, ihm das kalte Wasser über den Kopf zu kippen. Doch sobald die Kanne voll war, trug sie sie schwerfällig und überschwappend zum Fensterbrett, auf dem Ben eine Sammlung eleganter Pflanzen bemerkte. Sie schienen das Wasser sehnsüchtig zu erwarten.

      Sabine begann zu gießen, und sagte: »Ich hätte nicht über Nick reden sollen. Das ist echt zum Kotzen. Ich kann Leute, die lästern, nicht ausstehen, und dann mache ich es selbst.«

      »Du hast ja nicht richtig gelästert.«

      »Komm schon, klar hab ich gelästert. Ich meine, es ist nicht meine Absicht, dir Kate auszureden. Aber dann muss ich von Nick oder irgendeinem Scheiß anfangen. Das ist schon fast zwanghaft.«

      Und dann, als wollte sie beweisen, dass sie recht hatte, erzählte sie eine andere Geschichte über Kate, wobei sie immer wieder vergaß, die Pflanzen zu gießen und einfach dastand; die schwere Kanne zitternd in ihren kleinen Händen. Die Geschichte fing damit an, wie Sabine und Kate sich mit zwölf auf der American International School of Budapest kennengelernt hatten. Damals sei es darum gegangen, dass Kate geglaubt oder zu glauben vorgegeben habe, aus einer anderen Welt zu stammen. Sie habe eigentümliche Kopfbedeckungen aus alten Handtüchern geschneidert und behauptet, dass die Frauen dort so etwas tragen würden; einmal habe sie ein Schloss aus Brot gemacht, nach dem Vorbild eines Schlosses aus ihrer Welt. Sie habe diese Welt Albion genannt. Kate habe erzählt, dass die Albioniten hervorragende Sänger seien; am liebsten sängen sie vierstimmig, dabei stünden sie in Gärten voller fremdartiger Pfauen und blühender Bäume. Dass Kate dort eine schlafende Prinzessin sei, wie Dornröschen, nur ernsthafter. Dass sie jahrelang geschlafen habe und deshalb nur wenig über ihr Leben in Albion wisse, außer, dass sie in Albion ein Pferd habe (wie Sabine im irdischen Budapest).

      Kate habe befürchtet, dass unsere Welt in Wahrheit Kates Traum sei, ein verzauberter Traum, den sie in Albion träume. Das sei ihr Gesprächsthema gewesen, wenn Kate bei Sabine im Haus des Botschafters übernachtet habe (Sabines Vater sei zu jener Zeit der amerikanische Botschafter in Ungarn gewesen). Sie hätten im Dunkeln gelegen und wilde Überlegungen angestellt: Wenn Kate in Albion aufwachen würde, verschwände unsere Welt mit all ihren Bewohnern? Trüge Kate die Schuld daran, wenn alle Menschen stürben, weil sie ihren Tod erträumt hatte? Könnte Kate ihren Traum steuern und somit den Himmel auf Erden bringen?

      Bald seien andere (in der Schule beliebte) Mädchen in das Geheimnis eingeweiht worden, und sie hätten sich konspirativ versammelt, um sich gegenseitig ihre Einschätzungen der Lage mitzuteilen, Bilder von Albion zu malen und darüber zu spekulieren, ob sie nicht vielleicht ebenfalls ein schlafendes Ebenbild in Albion hätten. In dieser Hinsicht sei Kate stets großzügig gewesen; wenn eines der Mädchen behauptet habe, selbst von Albion zu träumen, habe Kate nie versucht, es ihr auszureden, sondern den Erzählungen aufmerksam gelauscht.


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