Der Begriff der Natur in der Lehre von Marx. Alfred Schmidt
Читать онлайн книгу.kennt bloß den naturwüchsigen Zusammenhang »von Individuen innerhalb ... bornierter Produktionsverhältnisse«18. Künftig dagegen werden allseitig entwickelte Individuen ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ihrer »eignen gemeinschaftlichen Kontrolle«19 unterwerfen. »Der Grad und die Universalität der Entwicklung der Vermögen, worin diese Individualität möglich wird«, setzen jedoch Produktion »auf der Basis der Tauschwerte voraus, die mit der Allgemeinheit der Entfremdung des Individuums von sich und von andren ... auch die Allgemeinheit und Allseitigkeit seiner Beziehungen und Fähigkeiten erst produziert.«20
Es gehört zur geschichtsphilosophischen Grundüberzeugung von Marx, daß die Menschheit durch die kapitalistische Produktionsweise hindurchgehen muß. Sie erst schafft die »materiellen Elemente für die Entwicklung der reichen Individualität, ... deren Arbeit ... nicht mehr als Arbeit, sondern als volle Entwicklung der Tätigkeit selbst erscheint, in der die Naturnotwendigkeit in ihrer unmittelbaren Form verschwunden ist; weil an die Stelle des Naturbedürfnisses ein geschichtlich erzeugtes getreten ist«21. Vorläufig kann jedoch davon keine Rede sein. Die ihr Leben als arm und entleert erfahrenden Menschen trauern »frühren Stufen der Entwicklung« nach, auf denen das Individuum deshalb »voller« erscheint, weil es die »Fülle seiner Beziehungen noch nicht herausgearbeitet und als von ihm unabhängige gesellschaftliche Mächte ... sich gegenübergestellt hat. So lächerlich es ist, sich nach jener ursprünglichen Fülle zurückzusehnen, so lächerlich ist der Glaube, bei jener ... Entleerung stehnbleiben zu müssen. Über den Gegensatz gegen jene romantische Ansicht ist die bürgerliche nie hinausgekommen, und darum wird jene als berechtigter Gegensatz sie bis an ihr seliges Ende begleiten.«22
Selten hat Marx seine Konzeption derart deutlich sowohl gegen die romantische Verklärung vorkapitalistischer Stufen abgesetzt als auch gegen die positivistische Tendenz, das Bestehende zu rechtfertigen. Bildet die »romantische Ansicht« einen immerhin »berechtigten Gegensatz« gegen die verdinglichten Verhältnisse eines entfalteten Kapitalismus, so sperren positivistische Argumente sich gegen die Unabgeschlossenheit der historischen Dialektik, die sich darin ausdrückt, daß die Aufgabe des Kapitals, die gesellschaftlichen Produktivkräfte enorm zu entwickeln, erfüllt ist, sobald die weitere Entwicklung »an dem Kapital selbst eine Schranke findet«23.
III
Betrachten wir jetzt einige Hinweise von Marx und Engels, die in vorliegender Dissertation nicht so akzentuiert werden, wie es – aus heutiger Sicht – ihrer sachlichen Bedeutung entspricht. Sie zeugen nicht nur von Ansätzen ökologisch geschärften Bewußtseins, sondern belegen, daß das Marx-Engelssche Werk, aufs Ganze gesehen, keineswegs im Dienst rücksichtsloser Naturbeherrschung steht. Im Gegenteil. Früh schon kritisiert Marx den negativen Einfluß der kapitalistischen Ökonomie auf das neuzeitlich verbreitete Naturbild. »Das Geld«, heißt es in seiner Schrift Zur Judenfrage, »ist der allgemeine, für sich selbst konstituierte Wert aller Dinge. Es hat daher die ganze Welt, die Menschenwelt wie die Natur, ihres eigentümlichen Wertes beraubt. ... Die Anschauung, welche unter der Herrschaft des Privateigentums und des Geldes von der Natur gewonnen wird, ist die wirkliche Verachtung, die praktische Herabwürdigung der Natur«24.
Spätere Äußerungen der Autoren betreffen ruinöse Folgen kapitalistischer Agrar und Industrieproduktion sowie natürliche Schranken der Ausbeutbarkeit der Natur, mit denen selbst eine sozialistische Gesellschaft zu rechnen hätte. – »Die Produktivität der Arbeit«, schreibt Marx im III. Band des Kapitals, »ist auch an Naturbedingungen gebunden, die oft minder ergiebig werden im selben Verhältnis wie die Produktivität – soweit sie von gesellschaftlichen Bedingungen abhängt – steigt. Daher entgegengesetzte Bewegung in diesen verschiednen Sphären, Fortschritt hier, Rückschritt dort. Man bedenke z. B. den bloßen Einfluß der Jahreszeiten, wovon die Menge des größten Teils aller Rohstoffe abhängt, Erschöpfung von Waldungen, Kohlen und Eisenbergwerken etc.«25 – Im Kapitel »Maschinerie und große Industrie« des I. Bandes seines Hauptwerks hebt Marx die subjektiv wie objektiv verderblichen Folgen industrialisierter Landwirtschaft hervor. Er zeigt, daß die kapitalistische Produktion mit »dem stets wachsenden Übergewicht der städtischen Bevölkerung ... den Stoffwechsel zwischen Mensch und Erde (stört), d. h. die Rückkehr der vom Menschen in der Form von Nahrungs und Kleidungsmitteln vernutzten Bodenbestandteile zum Boden, also die ewige Naturbedingung dauernder Bodenfruchtbarkeit. Sie zerstört damit zugleich die physische Gesundheit der Stadtarbeiter und das geistige Leben der Landarbeiter. Aber sie zwingt zugleich durch die Zerstörung der bloß naturwüchsig entstandnen Umstände jenes Stoffwechsels ihn systematisch als regelndes Gesetz der gesellschaftlichen Produktion und in einer der vollen menschlichen Entwicklung adäquaten Form herzustellen.«26 Marx spricht hier höchst aktuelle Einsichten aus. Klar steht ihm das Problem des »recycling« vor Augen, damit die historische Notwendigkeit, den natürlichen, durch menschlichen Eingriff gestörten Kreislauf bewußt wiederherzustellen, der bisher eher zufällig und unter Belastung der Menschen stattgefunden hat.27 – Am Ende dieses Kapitels faßt Marx seine Ergebnisse folgendermaßen zusammen: »Wie in der städtischen Industrie wird in der modernen Agrikultur die gesteigerte Produktivkraft und größre Flüssigmachung der Arbeit erkauft durch Verwüstung und Versiechung der Arbeitskraft selbst. Und jeder Fortschritt der kapitalistischen Agrikultur ist nicht nur ein Fortschritt in der Kunst, den Arbeiter, sondern zugleich in der Kunst, den Boden zu berauben, jeder Fortschritt in der Steigerung seiner Fruchtbarkeit zugleich ein Fortschritt im Ruin der dauernden Quellen dieser Fruchtbarkeit.... Die kapitalistische Produktion entwickelt daher nur die Technik und Kombination des gesellschaftlichen Produktionsprozesses, indem sie zugleich die Springquellen allen Reichtums untergräbt: die Erde und den Arbeiter.«28 Dieser »Zerstörungsprozeß«, fügt Marx hinzu, vollzieht sich um so schneller, je mehr ein Land wie die Vereinigten Staaten von Großindustrie als dem »Hintergrund seiner Entwicklung«29 ausgeht. – Ähnlich äußert sich Marx hierzu in den Theorien über den Mehrwert: »Es liegt in der Natur der kapitalistischen Produktion, daß sie die Industrie rascher entwickelt als die Agrikultur. Es geht dies nicht aus der Natur des Bodens hervor, sondern daraus, daß er andre gesellschaftliche Verhältnisse braucht, um wirklich seiner Natur gemäß exploitiert zu werden. Die kapitalistische Produktion wirft sich erst auf das Land, nachdem ihr Einfluß es erschöpft und seine Naturgaben verwüstet hat.«30
Als Kritiker der politischen Ökonomie verfolgt Marx die wissenschaftliche Literatur auch auf angrenzenden Gebieten. Hinsichtlich negativer Aspekte des gesellschaftlich determinierten Naturverhältnisses verdankt er Carl Nikolaus Fraas, einem vielseitigen Gelehrten, wertvolle Anregungen, insbesondere seiner Studie Klima und Pflanzenwelt in der Zeit, ein Beitrag zur Geschichte beider (Landshut 1847), die zu lesen er Engels in einem Brief vom Frühjahr 1868 empfiehlt. Fraas, heißt es hier, weist nach, »daß in historischer Zeit Klima und Flora wechseln. Er ist vor Darwin Darwinist und läßt die Arten selbst in der historischen Zeit entstehn. Aber zugleich Agronom. Er behauptet, daß mit der Kultur – entsprechend ihrem Grad – die von den Bauern sosehr geliebte ›Feuchtigkeit‹ verlorengeht (daher auch die Pflanzen von Süden nach Norden wandern) und endlich Steppenbildung eintritt. Die erste Wirkung der Kultur nützlich, schließlich verödend durch Entholzung etc. ... Das Fazit ist, daß die Kultur – wenn naturwüchsig fortschreitend und nicht bewußt beherrscht (dazu kommt er natürlich als Bürger nicht) – Wüsten hinter sich zurückläßt, Persien, Mesopotamien