Behemoth. Franz Neumann

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Behemoth - Franz Neumann


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und finanzierten die Wahl des Präsidenten; er blieb abhängig von den Gruppen der Parteigänger, die ihn umgaben und ihn berieten. Er hatte Präferenzen und eine politische Linie, die er weit über die ihm von der Verfassung gesetzten Grenzen hinaus zu verfolgen suchte. Als Kommunisten und Sozialisten durch ein Volksbegehren die Fürstenhäuser enteignen wollten, verurteilte Reichspräsident von Hindenburg dieses Vorhaben in einem offenen Brief (vom 22. Mai 1926) und scherte sich nicht einmal darum, die Unterschrift des Reichskanzlers einzuholen, sondern insistierte darauf, daß ein solcher Brief seine Privatangelegenheit sei. Als er Brüning zum zweiten Mal zum Reichskanzler ernannte, verlangte Hindenburg die Aufnahme zweier seiner konservativen Freunde (Treviranus und Schiele) in das Kabinett. Dann verriet er sie. Eberts Autorität war beschränkt gewesen. Da er Sozialist war, konnte er nicht die Achtung erlangen, die dem ersten Mann der Republik eigentlich gebührte. Aber Hindenburg war der Feldmarschall, der große Soldat, der Vater. Das war etwas anderes, ganz besonders nachdem Brüning einen wahren Hindenburg-Mythos geschaffen hatte, um dessen Wiederwahl im Jahre 1932 sicherzustellen. Hindenburgs Stärke lag hauptsächlich in seinen engen Beziehungen zur Armee und zu den ostelbischen Großgrundbesitzern. Von 1930 an, als die Anwesenheit von 107 nationalsozialistischen Abgeordneten eine ordentliche parlamentarische Gesetzgebungsarbeit nahezu unmöglich machte, wurde er zum alleinigen Gesetzgeber, indem er die Notverordnungsbefugnisse des Artikels 48 der Verfassung ausnutzte.41

      Die durch den Versailler Vertrag auf 100 000 Mann reduzierte Reichswehr war nach wie vor die Hochburg des Konservativismus und Nationalismus. Da die Soldatenkarriere nun vielen verschlossen war, und man in der Armee nur langsam befördert wurde, überrascht es nicht, daß das Offizierskorps militant antidemokratisch wurde und den Parlamentarismus schmähte, weil er seine Nase zu tief in die Geheimnisse der Heeresausgaben steckte, und daß es die Sozialisten verabscheute, weil sie den Versailler Vertrag und die Zerstörung der Obergewalt des deutschen Militarismus hingenommen hatten. Wann immer es zu einer politischen Krise kam, stellte sich die Armee ausnahmslos auf die Seite der antidemokratischen Elemente. Hitler selbst war ein Produkt der Reichswehr, die sich seiner bereits 1918 und 1919 als Redner und Propagandafunktionär bedient hatte. Das alles kann nicht überraschen. Überraschend aber ist, daß der demokratische Apparat diese Situation tolerierte. Die Reichswehrminister, der unvermeidliche Gessler und der demokratisch loyalere General Groener, befanden sich in einer außerordentlich doppeldeutigen verfassungsmäßigen Lage. Als Kabinettsmitglieder unterlagen sie parlamentarischer Kontrolle und Verantwortlichkeit, aber als Untergebene des Präsidenten, des Oberbefehlshabers der Armee, waren sie der Kontrolle durch das Parlament entzogen. In der Praxis wurde dieser Widerspruch leicht aufgelöst: die Reichswehrminister sprachen für die Armee und gegen den Reichstag. In der Tat identifizierten sie sich so vollkommen mit der Militärbürokratie, daß die parlamentarische Kontrolle über das Militär eigentlich verschwand.

      Die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften waren gegenüber den von vielen Seiten kommenden Angriffen auf die Weimarer Demokratie vollständig hilflos. Vorsichtige Versuche wurden unternommen, den Gedanken einer Wirtschaftsdemokratie zu verbreiten, doch erwies sich diese neue Ideologie sogar als noch weniger attraktiv denn das alte sozialistische Programm. Die angestellten Gehaltsempfänger blieben uninteressiert; die Mitgliederzahl der den sozialistischen Gewerkschaften angeschlossenen Beamtenorganisation ging von 420 000 im Jahre 1922 auf 172 000 im Jahre 1930 zurück, während der sogenannte neutrale, faktisch aber nationalistische Beamtenbund im Jahre 1930 1 043 000 Mitglieder, vor allem aus den mittleren und unteren Rängen, zählte. Die Bedeutung dieser Zahlen liegt auf der Hand.

      Die Sozialdemokratische Partei war in Widersprüchen befangen. Obwohl sie immer noch für sich in Anspruch nahm, eine marxistische Partei zu sein, war ihre Politik schon lange eine rein gradualistische. Sie brachte nie den Mut auf, sich für eines von beidem zu entscheiden, für die traditionelle Ideologie oder für die reformistische Politik. Ein radikaler Bruch mit der Tradition und die Aufgabe des Marxismus hätte Tausende ihrer Anhänger in das kommunistische Lager getrieben. Andererseits hätte der Verzicht auf den Gradualismus zugunsten einer revolutionären Politik bedeutet, daß die vielen die SPD an den bestehenden Staat kettenden Bande zerrissen worden wären. Daher verharrten die Sozialisten in dieser doppeldeutigen Position und waren außerstande, ein demokratisches Bewußtsein zu schaffen. Die Weimarer Verfassung, auf der Rechten von Deutschnationalen, Nationalsozialisten und reaktionären Liberalen, auf der Linken von den Kommunisten attackiert, blieb für die Sozialdemokraten lediglich eine Übergangserscheinung, ein erster Schritt zu einer größeren und besseren Zukunft. Und ein Übergangsgebilde kann nicht gerade große Begeisterung wecken.42

      Deshalb war das ideologische, ökonomische, soziale und politische System schon vor Beginn der großen Krise nicht mehr richtig funktionsfähig. Welchen Anschein der Erfolgstüchtigkeit es auch immer erweckt haben mag – sie beruhte in erster Linie auf der Tolerierung durch die antidemokratischen Kräfte und der trügerischen, durch die Auslandsanleihen ermöglichten Prosperität. Die Krise legte die versteinerte traditionelle soziale und politische Struktur offen und verstärkte sie. Die Gesellschaftsverträge, auf denen diese Struktur beruhte, lösten sich auf. Die Demokratische Partei verschwand, das katholische Zentrum rückte nach rechts, während Sozialdemokraten und Kommunisten weit mehr Energie darauf verwandten, sich gegenseitig zu bekämpfen, als gegen die wachsende Bedrohung durch den Nationalsozialismus vorzugehen. Die Nationalsozialistische Partei ihrerseits häufte Schimpf und Schande auf die Sozialdemokraten. Sie prägte das Schmähwort von den Novemberverbrechern, einer Partei der Korruption und des Pazifismus, verantwortlich für die Niederlage von 1918, den Versailler Vertrag und die Inflation. Der Produktionsausstoß der deutschen Industrie war stark zurückgegangen. Die Zahl der Arbeitslosen stieg43: im Januar 1932 wurden sechs Millionen registriert, und wahrscheinlich gab es noch weitere zwei Millionen sogenannter unsichtbarer Arbeitsloser. Nur ein kleiner Teil von ihnen erhielt Unterstützung aus der Arbeitslosenversicherung, und eine ständig größer werdende Zahl bekam keinerlei Hilfe. Die erwerbslosen Jugendlichen wurden ein Problem für sich. Hunderttausende hatten nie einen Arbeitsplatz besessen. Arbeitslosigkeit wurde zu einem Status und in einer Gesellschaft, in der Erfolg über allem steht, zu einem Schandmal. Im Norden revoltierten die Bauern, während die Großgrundbesitzer nach finanzieller Unterstützung riefen. Kleine Geschäftsinhaber und Handwerker standen vor dem Ruin. Hausbesitzer konnten ihre Mieten nicht kassieren. Banken brachen zusammen und gingen in den Besitz der Reichsregierung über. Sogar die Hochburg der industriellen Reaktion, die Vereinigten Stahlwerke, waren dem Zusammenbruch nahe, und ihre Aktien wurden von der Reichsregierung zu Preisen, die weit über den Marktwerten lagen, aufgekauft. Die Haushaltslage wurde prekär. Die Reaktionäre weigerten sich, ein großangelegtes Arbeitsbeschaffungsprogramm zu unterstützen, damit nicht die schwindende Macht der Gewerkschaften wieder zunähme, deren finanzielle Reserven versiegten und deren Mitgliederzahl zurückging.

      Die Lage war verzweifelt und erforderte verzweifelte Maßnahmen. Die SPD hatte die Wahl, entweder über eine Einheitsfront mit den Kommunisten unter sozialistischer Führung den Weg der politischen Revolution zu beschreiten, oder mit den Semi-Diktaturen Brünings, Papens und Schleichers in dem Versuch zusammenzuarbeiten, der größeren Gefahr, Hitler, zu wehren. Es gab keine andere Wahl. Die Sozialdemokratische Partei stand vor der schwersten Entscheidung ihrer Geschichte. Gemeinsam mit den Gewerkschaften entschied sie sich dafür, die Brüning-Regierung zu tolerieren, als im September 1930 107 nationalsozialistische Abgeordnete in den Reichstag einzogen und das Zustandekommen einer parlamentarischen Mehrheit unmöglich machten. Tolerieren hieß weder offene Unterstützung noch offener Angriff. Die ideologische Rechtfertigung dieser Politik erfolgte in der programmatischen Rede von Fritz Tarnow, dem Delegierten und Vorsitzenden der Holzarbeitergewerkschaft, auf dem letzten Parteitag (1931):

      »Nun stehen wir … am Krankenlager des Kapitalismus nicht nur als Diagnostiker, sondern auch – ja, was soll ich sagen? – als Arzt, der heilen will? Oder als fröhlicher Erbe, der das Ende nicht erwarten kann und am liebsten mit Gift noch etwas nachhelfen möchte? … Wir sind nämlich, wie mir scheint, dazu verdammt, sowohl Arzt zu sein, der ernsthaft heilen will, und dennoch das Gefühl aufrechtzuerhalten, daß wir Erben sind, die lieber heute als morgen die ganze Hinterlassenschaft des kapitalistischen Systems in Empfang nehmen sollen.«44

      Dies


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