Behemoth. Franz Neumann

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Behemoth - Franz Neumann


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irdischen Gesetzes, sondern den Zorn Gottes zu. Gehorsam und Ehrerbietung gegenüber der Obrigkeit sind nicht aus Zwang, sondern aus freiem Willen gefordert. Der mittelalterliche Begriff des Herrschaftsvertrages wird implizit und explizit zurückgewiesen. Nach Calvin ist es aufrührerisch, einen König nach seinen Verpflichtungen oder Diensten gegenüber dem Volk zu beurteilen, denn der König ist niemandem außer Gott verpflichtet. Calvin spricht zuweilen von einer »gegenseitigen Verpflichtung« von König und Volk, aber er versteht darunter niemals einen Vertrag; die Pflichten, die Gott dem Herrscher und dem Volk auferlegt, sind niemals gegenseitige.

      Jegliche institutionelle Beschränkung der Macht des Herrschers ist selbstverständlich mit einer solchen Auffassung unvereinbar. Das heißt nicht, daß Calvin sich für Tyrannei und Despotismus einsetzte oder sie verteidigte – im Gegenteil ermahnte er die Herrscher, sich gegen Selbstgefälligkeit zu wappnen und ihre Pflichten in einem wohltätigen Geiste zu erfüllen. Andernfalls werde sie der Zorn Gottes treffen.32

      Historiker mit politischem Verstand machten viel Aufhebens von Calvins Äußerung, daß die Volksbehörden sich dem König widersetzen könnten, wenn sie verfassungsmäßig dazu ermächtigt sind: »Anders steht die Sache, wo Volksbehörden eingesetzt sind, um die Willkür der Könige zu mäßigen; von dieser Art waren z. B. … die Volkstribunen, die den römischen Konsuln … gegenübergestellt waren; diese Gewalt besitzen, wie die Dinge heute liegen, vielleicht auch die drei Stände in den einzelnen Königreichen, wenn sie ihre wichtigsten Versammlungen halten. Wo das also so ist, da verbiete ich diesen Männern nicht etwa, der wilden Ungebundenheit der Könige pflichtgemäß entgegenzutreten, nein, ich behaupte geradezu: wenn sie Königen, die maßlos wüten und das niedrige Volk quälen, durch die Finger sehen … verraten sie … die Freiheit des Volkes, zu deren Hütern sie … durch Gottes Anordnung eingesetzt sind!«33 Dieser kurze Absatz, dem große Aufmerksamkeit geschenkt worden ist, ist entweder als ein Relikt der mittelalterlichen Naturrechtslehre oder als Beginn der demokratischen Ideologie angesehen worden. Diese Interpretation ist vollkommen ungerechtfertigt und widerspricht dem Geist des gesamten Calvinschen Werkes. Sie ist aufgekommen, weil französische Hugenotten wie Francis Hotman und Du Plessis Mornay pseudorevolutionäre Königsmörderlehren auf der Grundlage der Calvinistischen Theorie propagierten. Die Schriften dieser Monarchomachen sollten jedoch nicht als Grundlage für eine solche Interpretation verwendet werden. Einmal war Calvin für ihre Lehren nicht direkt verantwortlich, zum anderen waren sie keine Revolutionäre in irgendeinem Sinne des Begriffs, sondern Opportunisten, die jedes juristische und theoretische Argument zur Bekämpfung des Königs und der Katholischen Liga benutzten. Calvins oben zitierte Äußerung ist konservativ: sie leugnet das Widerstandsrecht des Individuums und beschreibt die aktuelle Lage in Frankreich und vielen anderen europäischen Ländern, in denen die Stände die königliche Macht beschnitten.34 Calvin besteht darauf, daß dort, wo solche Machtbefugnisse existieren, sie nicht aufgegeben werden dürfen, weil sie genau so Ausfluß der göttlichen Gnade seien wie die Macht des Königs.

      Dasselbe Kapitel der »Institutio« spricht von einem anderen Mittel der Befreiung von drückender Last, und diese Passage ist für Calvins Theorie viel charakteristischer als seine Äußerung zu den Rechten der Stände. Ihr ist wenig Beachtung geschenkt worden. Gott, sagt Calvin dort, kann seinem Volk einen auserwählten Erretter senden. »Hier offenbart sich nun Gottes wunderbare Güte, Macht und Vorsehung. Denn bald erweckt er aus seinen Knechten öffentliche Erretter und rüstet sie mit seinem Auftrag aus, um eine mit Schandtaten beladene Herrschaft zur Strafe zu ziehen und das auf manch ungerechte Weise unterdrückte Volk aus seiner elenden Qual zu befreien.«35 Freilich soll das Volk nicht zu leichtgläubig sein, wenn ein solcher Erretter kommt. Hier wird der charismatische Führer angekündigt, der Mann, der im Namen der göttlichen Vorsehung bevollmächtigt ist, die Regierung zu stürzen und das Volk zu befreien.

      An der Wiege des modernen Kapitalismus, der angeblich ein System der Rationalität, Berechenbarkeit und Verläßlichkeit eingeführt hat, steht diese Gesellschaftslehre, die in jeder Hinsicht das Gegenteil des Rationalismus ist, wenn sie auch gewisse psychologische Bedürfnisse des Volkes befriedigt, die älter als der Kapitalismus sind. Anthropologen haben auf das Mana der Könige hingewiesen, jene magische Kraft, die von der Person des Herrschers ausstrahlt und zum Volke dringt. Den König zu berühren oder von ihm berührt zu werden, gibt dem Schwachen Stärke und läßt den Kranken gesunden. Der König ist der Heros, die Verkörperung des Stammes-Totem; er wehrt Dämonen, die das Volk, sein Eigentum und seine Gesundheit bedrohen. Solcherart war der Glaube von Naturvölkern. Ihre Ansichten waren nicht irrational; der Glaube an die magische Kraft des Herrschers hatte eine rationale Grundlage. Die Herrscher mußten Erfolg garantieren. Wenn Überschwemmungen drohten oder Epidemien und Kriege den Stamm dezimierten, mußte der König sein Volk retten und befreien. Hatte er keinen Erfolg, so wurde er entthront und getötet.36 Das königliche Charisma beruhte auf einem gegenseitigen Handel.

      Je mehr wir uns der modernen Zivilisation nähern, desto mehr wird das Charisma von den sozialen und politischen Verpflichtungen des Königs getrennt.

      Die orientalische Vorstellung vom Königtum, ja selbst der messianische Gedanke des Alten Testaments, beruhen auf der charismatischen Lehre. Der Grundgedanke ist, daß es ein urzeitliches Ungeheuer gegeben habe, das die Inkarnation des Bösen und der Feind Gottes und der Menschen gewesen sei (Tehom-Mythos).37 Jahwe, der Erlöser, habe dieses Ungeheuer schließlich vernichtet und zeitweiligen Segen über das Volk gebracht. Dies, der Grundgedanke nicht nur des Alten Testaments, sondern aller anderen orientalischen Religionen, liegt dem Glauben an die göttliche und magische Kraft der Könige zugrunde. Der König ist nicht nur Gottes Stellvertreter auf Erden, er ist der Gott. Heroen, wenn sie wahre Helden gewesen sind, waren ursprünglich nicht Menschen, sondern Götter.38 »Die frühestbekannte Religion ist der Glaube an die Göttlichkeit der Könige.«39

      Die orientalische Vorstellung vom Königtum wurde von Alexander dem Großen nach Europa eingeführt. Vor seiner Zeit waren die griechischen Herrscher gänzlich politische Gestalten, ihr Verhältnis zum Volk hat einen rein rationalen Charakter besessen. Seit Alexander sind Könige als Götter verehrt worden.40 Der ideologische Abstand zwischen dem Reich Alexanders und dem des Augustus ist gering. Augustus wurde als Messias betrachtet41, wie Horaz’ Beschreibung zeigt: »Majas leichtbeschwingter Sohn … weile gern in des Quirinus Staat.«42

      In der Geschichte der Germanen war das Charisma nicht an die Person des Königs, sondern an das Stammesgeschlecht gebunden43, wurde dabei jedoch nie als die einzige Quelle von Autorität und Gesetz betrachtet; die Zustimmung des Volkes war ebenso wichtig wie die Aura des auserwählten Geschlechtes. In der fränkischen Tradition verkörperte sich das Charisma in den wallenden Locken der Frankenkönige, die ihnen außergewöhnliche Macht und Glück verliehen. Dieser Glaube war gewiß nicht christlichen Ursprungs, was deutlich aus der Tatsache hervorgeht, daß die Kirche die germanische Auffassung von der Blutslegitimität ablehnte. Und doch leistete die Kirche durch einen verhängnisvollen historischen Zufall einen außerordentlichen Beitrag zur Wiederbelebung des charismatischen Glaubens. Nach dem Sturz der Merowinger-Könige und der Errichtung der Karolinger-Dynastie salbte die Kirche Pippin und übertrug so das Charisma von den Merowingern auf die Karolinger. Der Papst, der Prophet des Naturrechts, bestätigte den Staatsstreich der Karolinger und machte die Salbung sogar zu einem Sakrament, indem er dem neuen Herrscherhaus Gottes Gnade erteilte. Mit diesem Akt gab die Kirche aus Zweckdienlichkeitsgründen ihre alte Politik, die Verehrung der Könige als Götter abzulehnen, auf, eine Politik, die sie bei den byzantinischen Königen, namentlich gegen die Proskynese, mit aller Heftigkeit verfochten hatte.

      Kurz darauf mußte die Kirche indes ihren Kampf gegen die Vergötterung der Könige wieder aufnehmen. Seit Robert dem Frommen hatten die französischen Könige, wie die Plantagenets in England, die Kraft zu heilen für sich in Anspruch genommen. Angeblich konnte die Berührung des Königs Skrofel heilen, und bei festen rituellen Anlässen drängten sich Tausende von Menschen um den Herrscher, diesen Segen zu erlangen. Der Gregorianische Streit zwischen Papsttum und Königtum war nicht nur ein Kampf um die Vorherrschaft der weltlichen oder geistlichen Macht, sondern ein Kampf der Kirche gegen den Anspruch der Könige


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