Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.einen daimon trage und von Gott Zeichen empfange. Dieses Wort „daimon“ ist für uns hier wichtig, mit all seiner griechisch-christlichen, zuallererst griechischen Ambivalenz, denn der daimon ist sowohl göttlich als auch dem Gott (theos) untergeordnet; er bezeichnet sowohl die Seele des Toten und den Wiedergänger, aber auch das Schicksal, das besondere Geschick, eine Art Erwählung, und häufig, im schlechten Sinne, das unglückliche Geschick, den Tod; und in christlicher Sprache, im Griechischen der Evangelien, bei Matthäus, Markus und Lukas, wird der daimon immer im schlechten Sinne genommen, als böser Geist, als das Dämonische, als Geist des Bösen. Bei diesem instabilen und zweideutigen Ausdruck daimon haben wir es also sowohl mit dem Motiv der transzendenten und heiligenden Gottheit als auch mit dem Motiv des dämonisch Verschlagenen [malin], des malin génie zu tun, mit dem Guten und dem Bösen, dem Verfluchten und dem Heiligungswürdigen; diese beiden sakralen Werte werden wir in der Szene der Verurteilung zum Tode und in der sakralen (verfluchten und geheiligten) Gestalt des zum Tode Verurteilten unaufhörlich aufscheinen sehen. Um nun auf Sokrates zurückzukommen, genauer auf eine berühmte Passage aus der Apologie (40a-b), so sagt auch er, dass er regelmäßig die Stimme seines daimon vernehme. Und was geschieht in ebenjenem präzisen Moment der Szene? Nun, er kündigt seinen Richtern an, ihnen sagen zu wollen, wie er deutet, was ihm geschieht [arrive], den Unfall/Zufall [accident], der ihm zustößt [arrive]: sein casus, sein Fall [cas] gewissermaßen, jener Unfall/Zufall, der seinen Sturz [chute] verursachen [causer] wird. Dieser Unfall/ Zufall ist eine „wundersame“ (thaumasion) Sache. Und was es da an thaumasion, an Erstaunlichem, Außerordentlichem, Wundersamem gibt, das ist hier, in diesem Fall die Tatsache, dass die Stimme seines daimon, die divinatorische (wahrsagende) Macht seines daimonischen Gottes [dieu démoniaque], die für gewöhnlich, üblicherweise in ihm spricht und ihn warnt (hè gar eiōthyia moi mantikè hè tou daimoniou), um ihm bis in die alltäglichsten Dinge des Lebens hinein Orientierung zu geben, nun, dieses Mal, als er sich dem Schlimmsten auszusetzen scheint, dem höchsten Unglück (eschata kakōn: das Äußerste der Übel, der Tod), nun, dieses Mal hat sein daimon geschwiegen, er hat ihn fallen lassen, es ist, als ob er ihn im Stich gelassen hätte, auch das, als ob sein Fall [cas], sein casus, sein Gott ihn nicht zurückgehalten hätte, vor das Tribunal zu treten und das Verdikt zu akzeptieren:
[…]; gleichwohl trat das göttliche Zeichen mir weder heute früh beim Verlassen meiner Wohnung warnend entgegen [ich zitiere die Übersetzung für to theou sémion: kein Zeichen Gottes hat mich zurückgehalten], noch bei meinem Gang hierher auf das Gericht, noch an irgendeiner Stelle meiner Rede, wenn mir etwas auf der Zunge lag.61
Anschließend – lesen Sie, was darauf folgt – interpretiert Sokrates dieses plötzliche Schweigen seines Gottes oder seines daimon, und die guten Gründe, die er, der Gott, haben kann, zu schweigen und ihn fallen zu lassen, ihn sprechen zu lassen, um seinen Tod an den Gesetzen des Gemeinwesens zu akzeptieren. Und vielleicht ist es die ganze Philosophie, würde ich allzu elliptisch sagen, die Platonische Philosophie, die Philosophie kurzum, die ihren Ort in diesem Schweigen des daimon im Moment der Verurteilung des Sokrates findet. Ich werde dieses Schweigen des Gottes von Sokrates nicht mit jener Szene vergleichen, in der die Söhne Israels im Moment der Aufstellung der „Urteilssprüche/Rechtsordnungen [jugements]“ und der Erlasse des Strafgesetzes verlangen, nicht mehr Jahwe zu hören, sondern nur noch seinen menschlichen Vermittler, Moses, < ich werde dies nicht vergleichen > die Versuchung dazu aber wäre groß.
Was ich durch diese Erinnerung entwirren wollte, ist die Tatsache, dass in der theologisch-politischen Struktur, von der wir sprechen, und im Zuge [trait] dieses Bindestrichs [trait d’union], die Allianz des Theologisch-Politischen sich nicht gegen das Nicht-Theologisch-Politische, gegen das Atheologisch-Politische vollzieht, sie setzt sich nicht in einer einfach antagonistischen oder oppositionellen oder dialektischen Szene etwas entgegen, das weder theologisch noch politisch wäre, sondern sie versucht entweder oder, oder beides zugleich, eine Transzendenz, die Referenz auf eine Transzendenz wieder in die Immanenz hinein zu holen [réimmanentiser], indem den Verurteilten, den vier Verurteilten bedeutet wird, dass sie nicht das Recht haben, sich als Träger des Wortes Gottes zu bezeichnen, dass sie ein Verbrechen begehen, ja dass sie eidbrüchig werden und Blasphemie betreiben, wenn sie behaupten, aus dem Jenseits kommende Stimmen zu hören, und dass man sie auf die Erde zurückholen müsse, zu den Gesetzen des Gemeinwesens oder der Kirche oder des Klerus oder der irdischen Organisation – und genau dies ist die Politik oder der Staat –, oder aber, und das läuft auf dasselbe hinaus, dass man sie anklagt, eben dadurch eine Profanation, eine Blasphemie, einen Missbrauch, einen Eidbruch, einen Abschwur begangen zu haben, dass sie behaupten, in unmittelbarem und persönlichem Kontakt mit einem Jenseits zu stehen, das transzendent und unzugänglich bleiben müsste, in einer Unzugänglichkeit, deren Hüter und einzige Garanten die Kirche, der Sanhedrin oder die griechischen Priester oder der Nächtliche Rat sind. Diese Verurteilung ergeht also sowohl im Namen der Transzendenz als auch gegen die Transzendenz. Und diese Komplikation hat zur Folge, dass das, was in den vier Fällen verurteilt wird, was sich theologisch-politisch verurteilt findet, nicht das Nicht-Theologisch-Politische ist, sondern eine andere politische Theologie, die von den vier zum Tode Verurteilten sichtbar versprochen oder angekündigt oder gefordert oder bezeugt wird. Alle vier haben eine theologische und politische Botschaft, eine andere Botschaft. Wir werden später sehen, inwieweit heute, wo im Unterschied zu dem, was noch 1989, vor zehn Jahren, geschah, als nur 58 Länder die Todesstrafe auf alle Verbrechen abgeschafft hatten, wo also heute umgekehrt jene Länder, die der Todesstrafe ein Ende gesetzt haben, bei weitem in der Mehrheit sind, 105 – während es noch 72 Länder gibt, die die Todesstrafe anwenden –, wo also heute die Positionen der Kirchen, der christlichen Kirchen und insbesondere der katholischen Kirche ambivalent oder widersprüchlich sind, je nachdem, ob sie von dieser oder jener Instanz vertreten werden (der Rat der christlichen Kirchen62 zum Beispiel erklärte 1991 seine Ablehnung der Todesstrafe, während der vom Papst unterzeichnete „Katechismus der Katholischen Kirche“ diese Strafe in sogenannten „schwerwiegendsten Fällen“63 rechtfertigt, darin der Tradition folgend, die, unter so vielen anderen, notorisch von einem heiligen Thomas von Aquin illustriert wird, der ein beredter und energischer Befürworter der Todesstrafe gegen Häretiker war, jene Falschmünzer des Glaubens, die, wie die Falschmünzer im Allgemeinen, welche von den säkularen Fürsten mit dem Tode bestraft werden, ebenfalls „gerechter Weise getötet“64 werden müssen). Alle vier, sagte ich, haben eine theologische und politische Botschaft, eine andere Botschaft. Und, als zusätzliche Komplikation: Das Wesentliche dieser anderen Botschaft in der auf diese Weise eröffneten und bereits skandierten Geschichte finden wir in jeder Kulturgeschichte, jeder politischen Geschichte, jeder Rechts- oder Religionsgeschichte der Todesstrafe wieder, wir finden es auf beiden Seiten wieder, sowohl auf der Seite derer, die sehr bald schon, und dann auf eine ganz andere Weise, in der Moderne gegen die Todesstrafe gekämpft haben, als auch auf der Seite derer, die ihr Prinzip aufrechterhalten haben, bisweilen nur das Prinzip, bisweilen auch die grausamste Anwendung. Was unsere Lektüren, unsere Interpretationen, unsere Arbeit nicht erleichtern wird. Wir sind jedoch nicht hier, um die Dinge zu vereinfachen. Wir sind hier, erlauben Sie mir, dies noch einmal in Erinnerung zu rufen, denn das ist in diesem Zusammenhang wesentlich und entscheidend, wir sind hier weder in einem Tribunal noch auf der Anklagebank, weder an einer Kultstätte noch in einem Parlament, weder bei einer Zeitung [journal] noch bei einem Tele- oder Radiojournal. Wir befinden uns auch nicht in einem echten Theater. All diese Orte auszuschließen, all diese Orte zu verlassen, ohne Ausnahme, das ist die erste Bedingung, um die Todesstrafe zu denken. Und also zu hoffen, diesbezüglich irgendetwas zu ändern.
+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Oder eben: Es sieht sich selbst [il se voit lui-même]“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Denn als Frauen konnten sie nicht Zeugnis