Die Todesstrafe I. Jacques Derrida
Читать онлайн книгу.target="_blank" rel="nofollow" href="#ulink_53e58690-05de-5c8a-9963-301325c67bce">+Während der Sitzung führt Jacques Derrida weiter aus: „Dies sei kurz gesagt, um den Kurs anzuzeigen. Es ist evident, dass ich in meiner Argumentation und in dem Pathos, das Sie vernehmen werden, zugunsten der Abschaffung der Todesstrafe sprechen werde [tenir un discours abolitionniste], natürlich, Sie haben das bereits verstanden, das wird mich jedoch nicht daran hindern, kritische oder dekonstruierende Fragen zu stellen zu diesem Diskurs der Bewegung für die Abschaffung der Todesstrafe [discours abolitionniste], zur Logik, die den Abschaffungs-Diskurs gegenwärtig stützt, und die mir ihrerseits anfechtbar zu sein scheint.“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung führt Jacques Derrida aus: „Eine Synagoge, das ist ein Ort, wohin man gemeinsam geht; der syllogos, das ist ein Ort, an dem miteinander diskutiert.“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Dieser Tod ist kein Mord. Eine feine, aber wesentliche Unterscheidung, die natürlich die ganze Geschichte des Rechts und der Todesstrafe unablässig durchziehen wird.“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Die Souveränität des Staates ist also zunächst das Recht über den Tod, das Recht, die Todesstrafe zu vollziehen.“ (A.d.H.).
++Während der Sitzung fügt Jacques Derrida hinzu: „Mit anderen Worten: Der Bürger empfängt sein Leben vom Staat, und folglich hat er kein Recht auf sein Leben. Sein Leben wird ihm in gewisser Weise geliehen; das Leben ist ein bedingtes Geschenk des Staates. Eine außerordentliche Formulierung, nicht wahr! Das Leben ist nicht mehr nur eine Gabe der Natur, sondern ein bedingtes Geschenk des Staates. Der Staat behält ein Recht über Leben und Tod gegenüber dem Bürger, dem sein Leben geliehen wurde, als bedingtes Geschenk.“ (A.d.H.).
+++Weitere Hinzufügung während der Sitzung: „Ein Versicherungsvertrag: Wenn du in deinem Leben geschützt sein willst, dann musst du akzeptieren, dass du, falls du tötest, deinerseits getötet wirst.“ (A.d.H.).
+Während der Sitzung fährt Jacques Derrida fort: „Es ist also nicht auszuschließen, dass es Vertragsteilnehmer gibt, die nicht ausschließen, dass es ihr Wunsch ist, sich hängen zu lassen. Es stimmt, dass Rousseau noch minutiöser ist in seinem Ausdruck, denn er spricht davon, ‚anzunehmen‘, dass niemand ‚die Absicht hat, sich hängen zu lassen.‘ Es ist möglich, er nimmt an, es ist also eine Hypothese, es ist möglich, dass Leute unbewusst wollen, gehängt zu werden, das ist es [akustisch kaum verständlich: … criminel… ça veut dire…], nehmen und hängen [prendre et pendre]. Was Rousseau jedoch ausschließt, ist, dass sie die Absicht dazu hegen [le préméditent], das heißt dass sie es bewusst, im Voraus berechnen, usw.“ (A.d.H.).
+An den Rand des Typoskripts hat Jacques Derrida Folgendes geschrieben: „(Keine/Schritt der Philosophie [Pas de philosophie] gegen die Todesstrafe)“. Während der Sitzung entwickelt Derrida diese Klammer wie folgt: „Nachdem er zuvor gesagt hatte ‚Meine Vorstellungen hängen alle zusammen, aber ich kann sie nicht alle auf einmal vorbringen‘, erklärt er ‚Ich habe gefehlt, nur wer nie gefehlt hat, hat das Recht, zu sprechen.‘ Mit anderen Worten: Es gibt keine Metasprache, keine politische, politisch-juridische Theorie. Nur jemand, der über jeden Verdacht erhaben wäre, hätte das Recht, zu sprechen, aber niemand kann über jeden Verdacht erhaben sein. Er vermischt diesen Diskurs über die Todesstrafe also mit der Signatur des Bekenntnisses.“ (A.d.H.).
Erste Sitzung
8. Dezember 1999 (Fortsetzung)1
Sokrates, Jesus, Al-Halladsch, Jeanne d’Arc: Krieg, bisweilen bewaffnet, nicht zwischen dem Theologisch-Politischen und seinem Anderen, sondern zwischen mindestens zwei Geschichten und zwei Versionen des Theologisch-Politischen. Das heißt auch: der Souveränität.
Ich möchte jedoch, immer noch bevor wir anfangen, immer noch in der Morgendämmerung des Seminars über das Quasi-Theater der Todesstrafe, jemand anderen hierher kommen lassen – nicht auf die Bühne oder vor die Schranke des Gerichts, denn ich habe ja gesagt, dass dies weder ein Tribunal noch ein echtes Theater ist, sondern eben hierher. Ich möchte hier das Gespenst Jean Genets wiederkehren lassen, des großen dramatischen Dichters, des großen Zeugen und Theatersmanns dieser Zeit, des faszinierten Analytikers (und diese Faszination wird eines unserer Themen sein), des faszinierten Analytikers dieses legalen Mordes [assassinat], den man die Vollstreckung [exécution] einer Todesstrafe nennt, des großen Zeugen oder Akteurs, der großen Gestalt des Theaters, der – soweit gehend, sie zu vermengen oder uns ihre tiefgründige Ähnlichkeit in Erinnerung zu rufen – sowohl von der Waffe des Verbrechens als auch von der Waffe der kapitalen Exekution fasziniert war, die für ihn ein weiteres Verbrechen, eine andere Art von Verbrechen wäre. Durch ihn werden wir uns hier tatsächlich unserem Anfang nähern, werden wir anfangen, anzufangen. Oder so zu tun, als ob wir anfingen.
Aus mehreren Gründen. Gründen sehr verschiedener Art. Der erste zählt weniger, denn er ist nur persönlicher, autobiographischer Art, wie man so sagt. Beim ersten Mal, als ich, als Kind, vor dem letzten Weltkrieg, durch die algerische Presse davon erfuhr, dass es so etwas wie die Verurteilung zum Tode gibt, dass man den Verurteilten warten lässt, und dass man ihn auf den souveränen Gnadenerweis des Präsidenten warten und hoffen lässt, und dass man eines Morgens, in der Morgendämmerung, zu seiner Enthauptung schreitet, nun, da hieß der zum Tode Verurteilte Weidmann. Ich habe sein Bild noch vor Augen, das Bild seines Photos im Écho d’Alger. Nun ist Weidmann aber das erste Wort, das erste Wort und der erste Eigenname in Notre-Dame-des-Fleurs von Jean Genet, einem Buch, das unmittelbar nach dem letzten Weltkrieg veröffentlicht wurde – am Ende des Welt-kriegs [guerre mondiale], nach welchem eine breite, tendenziell weltweite Bewegung – deshalb hebe ich dieses Wort „mondial [Welt-/weltweit]“ stets hervor –, sowie zahlreiche weltweite Erklärungen mit universellem Anspruch gegen die Todesstrafe aufkamen, wir werden es noch sehen, Appelle, Erklärungen oder Beschlüsse, die die Verurteilung zum Tode verurteilen und die schließlich hier, zum Beispiel in Europa, Gehör fanden, nicht aber dort, in anderen Teilen der Welt, insbesondere in den USA. Ein Ausschnitt aus Notre-Dame-des-Fleurs war also unmittelbar nach dem Weltkrieg, 19442, veröffentlicht worden, das Ganze dann 1948, also an die vierzig Jahre vor der Abschaffung der Todesstrafe [peine de mort] in Frankreich: Notre-Dame-des-Fleurs, ein Buch, dessen imaginärer Held, Notre-Dame, zur Todesstrafe [peine capitale] verurteilt wurde; ich sage imaginärer Held, denn der erste Name und das erste Wort des Buches, eben Weidmann, dessen Namen und dessen Gesicht ich in den Zeitungen meiner Kindheit erscheinen sah, Weidmann benennt seinerseits eine reale Gestalt, wie man so sagt, die guillotiniert wurde und deren Name ganz Frankreich, bis nach Algerien hinein, das damals zu Frankreich gehörte, in den Ohren hallte.
Ich werde diese Passage von Genet gleich vorlesen. Sie werden in ihr andere Motive bemerken, die andere Gründe darstellen werden, ebenso viele Gründe, sie zu zitieren. Der eine betrifft die Theatralität und die Faszination für das Spektakel, für das unmittelbare oder das durch die Presse (die Printmedien oder heute die kinematographischen Medien) aufgeschobene [différé] Spektakel; der andere betrifft die Allegorie oder Metonymie Christi, die in unserer abrahamitischen Kultur aus dem zum Tode Verurteilten eine Art Wiederholung oder Parodie oder Komödie der Passion Christi macht, eine Imitatio Jesu Christi.
Bevor ich dieses incipit des Buches vorlese, lege ich einen anderen Grund dafür vor, so anzufangen, mit Literatur kurz gesagt. Warum, in