Die Kunst, sich zu verlieren. Rebecca Solnit

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Die Kunst, sich zu verlieren - Rebecca Solnit


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psychischer, mithilfe der Geografie erreichbarer Zustand.

      Dasjenige, wovon man gar nicht weiß, was es ist, ist gewöhnlich genau das, was man finden muss, und es zu finden ist eine Frage des In-die-Irre-Gehens. »Lost«, das englische Wort für »verirrt«, für »verloren«, kommt vom altnordischen »los«, was so viel bedeutet wie die »Auflösung eines Heeres«; so verbindet sich die ursprüngliche Wortbedeutung mit der Vorstellung von Soldaten, die sich aus ihrer Formation lösen, um heimzukehren – ein Waffenstillstand mit der weiten Welt. Ich befürchte, heutzutage lösen viele nie ihre Heere auf, gehen nie über das hinaus, was sie wissen. Alles wirkt darauf hin: die Werbung, alarmierende Nachrichten, Technologien, die ständige Geschäftigkeit sowie die Gestaltung des öffentlichen und privaten Raumes. Ein kürzlich veröffentlichter Artikel über die Rückkehr wilder Tiere in die Vorstädte beschreibt schneebedeckte Gärten, die zwar voller Tierspuren sind, wo sich jedoch keine Fußabdrücke von Kindern finden. Was die Tiere anlangt, so sind die Vororte eine verlassene Landschaft, in der sie voller Selbstvertrauen umherstreifen. Kinder dagegen streifen nur selten umher, selbst in den sichersten Gegenden. Da ihre Eltern Angst haben vor den ungeheuerlichen Dingen, die passieren könnten (und auch tatsächlich passieren, aber nur selten), werden sie der wunderbaren Dinge beraubt, die ganz selbstverständlich geschehen. Mir gab das Umherstreifen in der Kindheit Eigenständigkeit, einen Richtungssinn, ein Gespür für Abenteuer, Fantasie, den Willen, etwas zu erforschen, mich ein bisschen zu verirren und dann den Weg zurück zu finden. Ich frage mich, wozu es wohl führt, wenn man die heutige Generation unter Hausarrest stellt.

      In jenem Sommer in den Rockies, als ich Menons Frage hörte, wanderte ich mit den Studenten in eine Landschaft hinein, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Zwischen weißen Espensäulen wuchsen zierliche, kniehohe grüne Pflanzen, deren Blätter wie grüne Fächer, wie Hustenbonbons, wie Muscheln aussahen und deren Stängel sich mit ihren weißen und violetten Blüten im leichten Wind wiegten. Der Pfad führte zu einem Fluss hinunter, den die Bären gern besuchten. Als wir zurückkamen, wartete am Weganfang eine kräftige, sonnengebräunte Frau, die ich zehn Jahre zuvor kurz kennengelernt hatte. Dass sie mich erkannte und ich mich an sie erinnerte, war eine Überraschung; dass wir uns nach diesem zweiten Treffen anfreundeten, das war mein Glück. Sallie war schon lange Mitglied des Bergrettungsdienstes, und als wir sie an jenem Tag trafen, war sie auf einem Routineeinsatz – eine jener Suchaktionen nach verirrten Wanderern, die, wie sie sagte, normalerweise irgendwo in der Nähe der Stelle wieder auftauchen, an der sie auch verschwunden sind. Sie lauschte an ihrem Funkgerät und passte auf, wer den Weg heraufkam, einer der Wege, auf dem die verirrte Gruppe voraussichtlich auftauchen würde, und so fand sie mich. In jener Gegend sehen die Rockies aus wie zerknitterter Stoff, eine steile Landschaft aus Bergkämmen und Tälern, die in die verschiedensten Richtungen verlaufen, wo es leicht ist, sich zu verirren, und nicht allzu schwer, wieder herauszufinden, immer zu den Straßen hinab, die durch viele Talsohlen führen. Für die freiwilligen Mitarbeiter des Bergrettungsdienstes jedoch ist jede Rettungsaktion ein Ausflug ins Unbekannte. Sie können einen dankbaren Menschen finden oder eine Leiche, sie können die Gesuchten schnell oder erst nach wochenlangem intensiven Einsatz finden, oder aber sie finden die Vermissten oder lösen deren Geheimnis nie.

      Drei Jahre später fuhr ich zurück, um Sallie und ihre Berge zu besuchen und sie zu fragen, wie es mit dem Sich-Verirren sei. Im Laufe meines Besuches wanderten wir einmal entlang der Kontinentalscheide, auf einem Weg, der aus einer Höhe von 3600 Metern anstieg und über Grate führte und durch die alpine Tundra, die sich oberhalb der Baumgrenze wie ein Teppich ausbreitet. Während wir immer weiter emporstiegen, eröffnete sich uns ein Blick in alle Richtungen, bis unser Weg die Mittelnaht einer Welt zu sein schien, die am gesamten Horizont von gezackten blauen Bergketten gesäumt war. Der Begriff »Kontinentalscheide« ließ das Bild von Wasser entstehen, das zu beiden Ozeanen hinabfließt, von einem Rückgrat der Berge, das sich fast über den gesamten Kontinent erstreckt, es rief die Vorstellung von den vier strahlenförmig von dort ausgehenden Himmelsrichtungen hervor und vermittelte, wenn nicht im praktischsten, so doch im metaphysischsten Sinne, ein Gefühl davon, wo man gerade war. Ich wäre ewig weiter in diese Gipfelwelt hineingelaufen, doch ein Donnern in den zusammengeballten Wolken und ein langer Blitzstrahl ließen Sallie umkehren. Auf dem Weg hinunter fragte ich sie, welche Rettungsaktionen sie besonders deutlich in Erinnerung habe. Bei einem ihrer Einsätze hatten sie versucht, einen Mann zu retten, der, wie sich herausstellte, von einem Blitz erschlagen worden war, was dort oben keine ungewöhnliche Todesart ist, weshalb wir jetzt auch von diesem herrlichen Bergkamm hinabstiegen.

      Beim Abstieg erzählte sie mir von einem verirrten elfjährigen Jungen, der nicht nur taub war, sondern, da er an einer degenerativen Krankheit litt, die letztendlich sein Leben verkürzen sollte, auch langsam das Augenlicht verlor. Er war in einem Ferienlager gewesen, und die Betreuer hatten mit den Kindern einen Ausflug gemacht und dann Verstecken mit ihnen gespielt. Er musste sich zu gut versteckt haben, denn als der Tag vorüber war, konnte ihn niemand finden, und er selbst fand auch nicht zurück. Der Rettungsdienst wurde gerufen, als es bereits dunkel war, und Sallie brach mit einem unguten Gefühl in das sumpfige Gebiet auf und mit der Erwartung, dass sie in der fast frostigen Nacht nur noch eine Leiche finden würden. Sie durchkämmten die ganze Gegend, und gerade, als die Sonne über den Horizont kam, hörte Sallie schließlich ein Pfeifen und rannte los. Es war der Junge, der vor Kälte zitternd in eine Pfeife blies; sie nahm ihn in die Arme, und dann streifte sie die meisten ihrer Sachen ab und zog sie ihm über. Er hatte alles richtig gemacht – seine Pfeife war nicht laut genug gewesen, dass die Betreuer sie bei dem Rauschen des Flusses hätten hören können, aber er hatte bis zum Einbruch der Dunkelheit gepfiffen, sich dann zwischen zwei umgestürzten Bäumen zusammengerollt und, sobald es hell wurde, wieder zu pfeifen begonnen. Er strahlte, weil er gefunden worden war, und sie war in Tränen aufgelöst, weil sie ihn gefunden hatte.

      Rettungsmannschaften haben das Finden zu einer Kunst und das In-die-Irre-Gehen zu einer Wissenschaft gemacht, obwohl die Hälfte aller Einsätze, wenn nicht sogar mehr, zum Ziel hat, Verletzte zu bergen oder Gestrandete zu retten. Heutzutage ist die einfachste Antwort auf die Frage, warum Menschen sich im buchstäblichen Sinne verirren, die Tatsache, dass viele einfach nicht aufpassen, nicht wissen, was sie tun sollen, wenn sie merken, dass sie nicht zurückfinden, oder nicht zugeben, dass sie es nicht wissen. Es ist eine Kunst, auf das Wetter zu achten, auf den Weg, auf die Orientierungspunkte entlang des Weges, darauf, dass der Rückweg, wenn man sich umdreht, vollkommen anders aussieht als der Hinweg, es ist eine Kunst, die Sonne, den Mond und die Sterne zu lesen und sich an ihnen zu orientieren, auf die Richtung, in die das Wasser fließt, achtzugeben, auf die tausend Dinge, die aus der Wildnis einen Text machen, der von Lesekundigen entziffert werden kann. Die Verirrten können diese Sprache oft nicht lesen, diese Sprache der Erde, oder sie halten nicht inne, um es zu tun. Und es gibt auch noch eine andere Kunst, im Unbekannten zu Hause zu sein, sodass man, wenn man sich mittendrin befindet, nicht in Panik ausbricht oder Schaden leidet: die Kunst, in der Irre zu Hause zu sein. Diese Fähigkeit ist vielleicht gar nicht so weit entfernt von Keats’ Fähigkeit, »das Ungewisse, die Mysterien, die Zweifel zu ertragen«. (Heute wird diese Fähigkeit durch Mobiltelefone und das Globale Positionierungssystem GPS ersetzt, mit deren Hilfe immer mehr Menschen ihre eigene Rettung wie Pizza bestellen, auch wenn es noch immer viele Gegenden ohne Funksignale gibt.)

      Jäger verirrten sich in diesem Teil der Rockies oft, erzählte mir Sallies Freundin Landon, während sie an ihrem Schreibtisch saß, umgeben von Bildern von ihrer Familie und von den Tieren der Ranch, die sie mit ihrem Mann betrieb, denn bei der Jagd auf Wild kämen sie ständig vom Weg ab. Sie erzählte mir von einem Rotwildjäger, der sich auf einem Plateau, wo die einander gegenüberliegenden Gipfel identisch aussehen, umblickte. Dort, wo er stand, wurde eine dieser Gipfelgruppen von Bäumen verdeckt, weshalb er dann später genau in die falsche Richtung weiterging. Überzeugt davon, dass er hinter dem nächsten oder übernächsten Bergkamm am Ziel wäre, ging er den ganzen Tag und die ganze Nacht weiter, erschöpfte allmählich seine Kräfte, kühlte zunehmend aus und begann dann irgendwann, aufgrund von Wahnvorstellungen, die mit einer starken Unterkühlung einhergehen, sich heiß zu fühlen und seine Kleider abzuwerfen, was dazu führte, dass er eine Spur von Kleidungsstücken hinterließ, der man auf den letzten Kilometern folgen konnte. Kinder, meinte Landon, könnten sich gut verirren, denn »das Überleben hängt entscheidend davon ab, ob man weiß, dass man sich verirrt hat«: Sie irren nicht weit


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