Der graue Herr. Rudolf Stratz

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Der graue Herr - Rudolf Stratz


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      Rudolf Stratz

      Der graue Herr

      Roman

      Saga

      Der graue Herr

      Copyright © 1935, 2018 Rudolf Stratz und Lindhardt og Ringhof Forlag A/S

      All rights reserved

      ISBN: 9788711507377

      1. Ebook-Auflage, 2018

      Format: EPUB 3.0

      Dieses Buch ist urheberrechtlich geschützt. Kopieren für andere als persönliche Nutzung ist nur nach Absprache mit Lindhardt og Ringhof gestattet.

      SAGA Egmont www.saga-books.com und Lindhardt og Ringhof www.lrforlag.dk – a part of Egmont www.egmont.com

      Vorwort

      In meinen hier folgenden Aufzeichnungen und den sonstigen, auf meine Bitte von den anderen Beteiligten gelieferten Berichten habe ich, der damalige Erste Staatsanwalt Johannes Sigrist, noch einmal, nach einem Jahrzehnt, die Erinnerung an die einstigen zehn Stunden Margot Sandners zwischen Leben und Tod heraufbeschworen. Das Geheimnis jener blutigen Winternacht ist längst gelöst. Der graue Herr ist wieder dahin gegangen, woher er kam. Übrig bleibt für uns alle — und namentlich für mich, den Hüter des Gesetzes — der ewige Warnungsspruch: „Irren ist menschlich.“

      1.

      Niederschrift des Staatsanwalts Sigrist

      Draussen auf der Strasse riefen es die Zeitungsverkäufer immer wieder im ersten Dämmern des Frühlingsabends: „Margot Sandners letzte Stunden!“

      Es klang eintönig und aufreizend und fiel einem auf die sonst starken Nerven: Ihre letzten Stunden — die verdankt sie dir ...

      Ich bin der Staatsanwalt. Ich war der öffentliche Ankläger! Ich habe nur meine verfluchte Pflicht und Schuldigkeit getan, nach bestem Wissen und Gewissen! Ich habe das Todesurteil gegen Margot Sandner beantragt und durchgesetzt. Morgen früh ... um sechs ... ich sah auf die Uhr: es war jetzt acht Uhr abends. In zehn Stunden...

      Wieder aus der Ferne dies Gebell der Strassenhändler. Es war sonst in unserer Grossstadt gar nicht üblich, so wie in den Weltstädten, die Blätter öffentlich auszuschreien. Das war heute die allgemeine Aufregung in der ganzen Stadt. Man glaubte, die heisse Welle aus der Innenstadt bis in unser stilles Villenviertel hinaus in der Luft zu fühlen.

      „...Margot Sandners letzte Stunden ...“ Ich konnte es nicht mehr hören. Ich wollte nicht immer wieder daran erinnert werden. Ich trat in einer sonderbaren, mir selber unerklärlichen Unruhe vom Fenster in das Zimmer zurück.

      Da drinnen purzelten sich der Peter und das Paulemännchen auf dem Teppich herum, und auf der Kautsch sass Klara und hatte Evchen auf dem Schoss und las mit ihm aus dem Bilderbuch: „Was ist das für ein Bettelmann — er hat ein schwarzes Röckchen an ...?“ und Eochen krähte und tippte mit dem rosigen Zeigefingerchen längs der Zeilen hin, als ob es schon längst buchstabieren könnte ...

      Und wie so oft, wenn ich meine liebe Frau ansehe: Sie ist doch schon nahe an den dreissig — so alt wie Margot Sandner, ihre einstige Schulkameradin —, und hat doch noch in ihrem schlanken Wuchs etwas Mädchenhaftes — ein reines deutsches Gesicht mit klaren Augen und voll eines freien und frischen Friedens. Sie hat, was sie vom Leben wünscht. Und ich mit ihr und durch sie in unseren vier Wänden. Die letzte Abendsonne schien hell in einem schrägen Stäubchenstrahl in unsere kleine Welt. Und da draussen ist die Welt der Menschen und ihre Not.

      Und der Menschheit ganzer Jammer fasst mich an, wenn ich mein Haus verlasse, um anzuklagen, wo anzuklagen ist — um Strafe zu verlangen, wo Strafe not tut — um meine Pflicht zu tun — meine Pflicht — meine Pflicht! Aber so schwer wie diesmal habe ich meine Pflicht noch nie empfunden.

      Klara liess das Eochen auf den Boden gleiten. Sie schaute in ihrer heiteren Mütterlichkeit aus dem Kleeblatt der Kleinen um sie her zu mir auf. Sie sagte nichts. Sie wusste: Ich lasse mich in dem, was ich für meine Pflicht halte und tue, von niemandem beeinflussen und beraten — auch nicht von der eigenen Frau. Das muss der Mensch für sich allein mit Gott und seinem Gewissen abmachen. Aber ich wusste, was Klara dachte.

      Und nun warf sie doch ihren blonden Kopf in den Nacken. Das ist immer ein Zeichen der unbeirrten Selbständigkeit meiner guten Lebenskameradin. Sie hat ein viel stärkeres inneres Leben, als die meisten bei ihrer ruhigen und ausgeglichenen Aussenart ahnen, und ich habe nie daran getastet und merke: Jetzt bricht das durch und heisst Margot Sandner ...

      Ich suchte den Disput über Margot Sandner, den wir, Klara und ich, schon so oft in den letzten drei Monaten geführt hatten, heute zu vermeiden. Er war ja doch aussichtslos. Dort drüben stritt das Gefühl, hier bei mir der Verstand. Das einte sich so gut wie Feuer und Wasser. Ich fühlte den Drang, mit mir allein zu sein! Ich wollte dem Schatten der Margot Sandner entgehen, der ständig seit einem Vierteljahr, seit dem Urteilsspruch der Geschworenen, hinter mir her wandelte, als sei sie die Anklägerin, nicht die Verurteilte. Ich ging stumm und schnell aus dem Zimmer. Ich griff draussen auf der Diele nach Hut und Mantel. Ich war schon an der Flurtür. Da fühlte ich mich von hinten am Arm gepackt. Ich drehte mich um. Ich sah in die blauen Augen meiner lieben Frau. Ich sah auf ihrem vertrauten, sonst so klar in sich befriedeten Gesicht nicht nur einen Schmerz — eine Angst —, sondern eine Leidenschaft, die selbst mir, der ich sie doch, weiss Gott, wie mich selber kenne, fremd war. Sie zog mich in das Zimmer zurück. Die Kinder schauten, auf dem Teppich sitzend, aus grossen Augen zu Pappi und Mutti auf, wie Klara erregt vor mir stand und die Hände vor der Brust faltete und atemlos hervorstiess:

      „Du — höre — der Staatspräsident kann Margot Sandner noch im letzten Augenblick begnadigen! Besinne dich, ob nicht gerade du ihm etwas zu sagen hättest s...“

      „Nur das, was ich immer gesagt habe und sagen musste!“

      „Margot Sandner stirbt durch dich!“

      „Nein! Durch das Gesetz, das ich vertrete!“

      „Wenn sie schuldig wäre!“ rief Klara stürmisch. „Aber sie ist es nicht! Nach meiner heiligen, unumstösslichen Überzeugung ist sie es nicht!“

      Ich rang die Hände.

      „Klara — wenn ich nicht wüsste, was du für eine vernünftige Frau bist ... Ich könnte in diesem Fall hier wirklich an deinem gesunden Menschenverstand zweifeln. — Kind — überlege dir nur: Die Margot Sandner hat doch ...“

      „Ich kenne sie doch von klein auf!“ Die Worte meiner Frau überstürzten sich. „Wir stammen doch hier aus derselben Stadt. Wir haben schon als Kinder zusammen gespielt. Wir sind als Mädel zusammen in die Schule gegangen. Erst in den letzten Jahren, seit ich geheiratet habe, habe ich sie ein wenig aus den Augen verloren!“

      „Nun eben! Du weisst nicht, was inzwischen aus ihr geworden ist! Die Margot Sandner hat doch ...“

      „Der Mensch ändert sich doch nicht! Der bleibt doch, wie er ist! Die Margot war immer ein romantisches Geschöpf Gottes. Sie ist träumerisch. Sie ist phantastisch. Eine Künstlernatur. — Sie war ja auch Kunstgewerblerin, ehe sie geheiratet hat ...“

      „Die Margot Sandner hat doch selber ...“ begann ich wieder. Aber Klara liess mich nicht zu Worte kommen.

      „Die Margot war niemals so recht von dieser Welt! Die hat immer in einer Art Wolkenkuckucksheim gelebt! Irgendeine Riesendummheit aus reiner Schwärmerei — ja — die würde ich ihr eines schönen Tages unbesehen zutrauen! Aber eines Verbrechens ist sie unfähig! Und mm gar der Ermordung ihres eigenen Mannes! Stelle dir doch das nur vor, was das heisst! Man schaudert ja, wenn man nur daran denkt!“

      Mir riss der Geduldfaden.

      „Die Margot Sandner hat doch vor Gericht gestanden“, schrie ich, „dass sie ihren Mann mit vollem Vorsatz und Überlegung erschossen hat!“

      „Das hat sir erklärt!


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