Der graue Herr. Rudolf Stratz

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Der graue Herr - Rudolf Stratz


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sich die Bürgersteige mit einem immer dichteren Gedränge in der Richtung nach dem freien Platz, an dem das Amtsgebäude des Staatspräsidenten lag.

      Hier stauten sich die Leute viele Glieder tief, Kopf an Kopf, zu dunklen, unruhig bewegten, unbestimmt murmelnden Mauern. Vereinzelte Rufe wurden aus der Menge laut — Gassenjungen pfiffen — die Strassenbahn bimmelte und kam nicht weiter. Auch für uns war es unmöglich, die Masse zu durchbrechen und vor dem Ministerium vorzufahren. Wir mussten aussteigen. — Schutzmänner hielten eine schmale Gasse durch das Gewühl bis zum Portal frei. Depeschenboten, Briefträger, Reporter, Abgeordnete, Beamte, Notabeln der Stadt drängten sich da zum Eingang oder schoben sich uns von dort entgegen.

      Ich passierte eilig zu Fuss diesen Menschenhohlweg. Ich wurde von der Masse als der Staatsanwalt Sigrist erkannt. Erregte Rufe umbrandeten mich. „Mörder!“ schrie mir ein blasser, leidenschaftlicher junger Mann ins Gesicht. Und eine Dame noch erregter: „Nein... Mörderin!“ — „Gnade — Gnade!“ tönte es da wie in einem Sprechchor, und dann wieder ein tiefer Bierbass: „Nee — Kinder — Gerechtigkeit! — Wo kämen wir denn sonst hin?“

      Ich kümmerte mich nicht um die vox populi, obwohl die Leute mich am Ärmel fassten, mir in den Weg traten. Die Schutzleute schufen mir Bahn bis zum Eingang des Ministeriums. Dort harrte meiner ein Botenmeister. „Herr Staatsanwalt werden schon erwartet!“ meldete er und geleitete mich die Treppe hinauf, durch ein paar Vorzimmer voll Menschen, in den Empfangsraum des Staatspräsidenten.

      Dr. Nöldechen war allein in dem weiten, stillen, von der steifen Würde des Staats erfüllten und durchkälteten Gemach. Er stand vor einem mächtigen grünen Tisch, auf dem das gedämpfte Licht elektrischer Deckenlampen die Dinge beschien, mit denen Margot Sandner seit Monaten die Öffentlichkeit beschäftigte — die Stapel von Gerichtsakten, die Stösse von Zeitungen, die Bündel von Depeschen, Briefen, Eingaben von Privaten und Vereinen, die Haufen von Visitenkarten ihrer Freunde und Gegner in diesem Prozess. Sinnend nun davor der kleine Mann, in dessen Händen ihr Schicksal lag. Ich kannte den Dr. Nöldechen seit Jahrzehnten, und es schien mir, als sei er in dieser ganzen Zeit weder alt noch jung, sondern äusserlich immer derselbe geblieben. Der zart gebaute, etwas gebückte Herr mit dem schütteren grauen Vollbart, der mächtigen gebuckelten Stirn über der goldenen Brille hatte etwas Zeitloses. Immerhin: Er war jetzt ein Siebziger. Sein Gesicht gefurcht, in seinem seltsamen Widerspiel von amtlicher Strenge um den Mund und menschlicher Güte in den Augen. In denen lag ein tiefer Ernst der Verantwortung, wie er langsam den Gelehrtenkopf zu mir umwandte und mir stumn die Hand bot und auf einen Sessel wies. Er hüstelte bedächtig. Das war immer seine Art, seine Gedanken zu sammeln, ehe er sprach. Dann begann er mit seiner hohen, leisen, heute etwas matten Stimme.

      „Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind! Ich brauche heute Menschen. Ich werde allein nicht fertig! Sie wissen: Ich bin ein gläubiger Christ. Ich habe heute Nachmittag einen einsamen, einstündigen Spaziergang gemacht und über den Fall Sandner nachgedacht. Ich habe mir dann die Stiftskirche aufschliessen lassen und eine Viertelstunde gebetet, dass Gott der Herr mich erleuchten möge. Aber mein Gewissen ist noch nicht in Ruhe. Ich habe ja freilich da die Akten. Ich habe die Berichte und Gutachten der zuständigen Stellen. Ein anderer würde sich vielleicht mit dem, was er da schwarz auf weiss besitzt, zufrieden geben. Aber gerade diesmal kämpft in mir etwas dagegen. Das sind starre, unpersönliche Schriftsätze auf der Schreibmaschine. In anderen Fällen wären sie mir auch Richtlinien für meine Entschlüsse genug. In dem Dunkel, in dem wir im Falle der Margot Sandner tappen, ist zweimal zwei nicht einfach vier. Es fehlt mir der Schlüssel zu dem Menschlichen in diesem Rätsel!“

      „ — — — das höchstens in Frau Sandner’s Schweigen über die Gründe ihrer Tat liegt!“

      „Ich kenne diese Frau nicht. Ich habe als Staatspräsident selbstverständlich der Gerichtsverhandlung nicht beiwohnen können. Ich suche irgendwie den lebendigen Eindruck ihrer Persönlichkeit. Ich habe mich mit ihren damaligen Richtern und dem Vorsitzenden des Schwurgerichts über sie unterhalten. Ich möchte nun noch Sie hören, der damals Frau Sandners Tod, und dann ihren Verteidiger, Doktor Morell, der ihr Leben forderte.“

      „Ich weiss aus meiner Praxis wenig Fälle, in denen die Tatsachen so klar und einfach zutage liegen!“ sagte ich, bemüht, die Ruhe meines Amtes zu wahren. „Wir haben überhaupt nur zwei eigentliche Zeugen — die beiden Schutzleute Lemich und Neubert — beides erprobte, im Dienst ergrante, über jeden Verdacht erhabene Beamte. Herr Staatspräsident halten jetzt eben deren schriftliche Bekundungen in der Voruntersuchung in der Hand, wie sie nachher von den beiden in der Hauptverhandlung beschworen wurden!“

      „An diesen Aussagen ist kein Zweifel!“ Dr. Philipp Nöldechen nickte bedächtig und legte den Akt auf den Tisch.

      „Rekapitulieren wir uns doch den kurzen und simpeln Vorgang!“ fuhr ich fort. „Die beiden Schutzleute hatten in der Nacht vom fünfundzwanzigsten zum sechsundzwanzigsten Januar draussen an der Ecke der Elisenund Gartenstrasse in einem im Winter fast unbewohnten und daher von Einbrechern bedrohten Villenviertel Wacht. Eine Viertelstunde, nachdem es vom Turm elf Uhr nachts geschlagen, verlassen sie ihren Posten in der Elisenstrasse, um in der unweit gelegenen, wenig gut beleumundeten Wirtschaft ,Knolls Taverne’ den Vollzug der Polizeistunde zu kontrollieren, und biegen in die Gartenstrasse ein. Dies Eckhaus, um das sie herumgehen, ist die grosse, winters völlig leere, dem Grosskaufmann Leopold Sandner gehörige Villa, mit dem Vordereingang nach der Gartenstrasse. Gerade als sie auf drei Schritte an dem Haustor vorbeikommen, kracht innen ein Schuss durch die Nachtstille, in der sie jeden etwa vorhergegangenen Schuss hätten hören müssen. Es war also unzweifelhaft der erste und einzige Schuss, der überhaupt abgegeben wurde.“

      „Das Haustor ist unverschlossen —“, Dr. Nöldechen blätterte wieder stirnrunzelnd, in angestrengtem Nachdenken in dem Protokoll.

      „Der eine Schutzmann fasst sofort davor Posten, so dass niemand nach dem Schuss hier die Villa verlassen konnte...“, fahre ich fort. „Der andere dringt mit seiner Taschenlaterne in die dunkle Diele ein. Alles ist still. Nichts rührt sich. Ein Hinterraum ist erleuchtet. Auf der Schwelle, zwischen diesem Salon und der Diele, liegt Sandner tot. Noch warm. Nicht weit davon auf dem Teppich ein Revolver — sein eigener Revolver, wie festgestellt —, in dem ein Schuss fehlt. Der Schuss ging von hinten an der tötlichen Stelle zwischen Wirbelsäule und Hinterkopf ins Genick. Es ist, nach Aussage aller Sachverständigen, ganz unmöglich, dass ein Mensch sich selbst einen solchen Schuss beibringen kann.“

      „Und wenige Schritte davon, im Nebenraum...“

      „...sitzt Frau Margot Sandner in Hut und Mantel, völlig teilnahmslos, und lässt sich gleichgültig festnehmen...“

      „...und gibt nur die Tat zu, aber mit keiner Silbe jemals die Gründe!“ Der alte Nöldechen seufzte und warf das Protokoll auf das grüne Tuch.

      „Der Schutzmann an dem Haustor hat sofort mit der Trillerpfeife eine Streifrunde herbeigerufen!“ fuhr ich fort. „Das ganze Haus wurde in allen Winkeln durchsucht. Es fand sich keine Menschenseele ausser Frau Sandner und dem Toten. Der Hinterausgang nach dem Park war von innen so fest mit Sicherheitsschlössern und Vorlegstangen verwahrt, dass man eine Viertelstunde gebraucht hätte, um zu öffnen...“

      „Es gab noch eine Pforte aus dem Wintergarten ins Freie...“

      „Sie war fest verschlossen. Der Schlüssel hing innen an der Wand. Einen zweiten Schlüssel besass Sandner selbst. Er fand sich in seiner Tasche. Den dritten und festgestelltermassen letzten hatte der für den Winter mit dem Sandnerschen Haushalt in die Stadt gezogene Gärtner. Dieser Schlüssel befand sich laut seinem Eid diese Nacht über wie gewöhnlich an einem Nagel an der Tapete über seinem Bett.“

      „Und selbst wenn man von einem heimlich hergestellten Nachschlüssel reden wollte“, schloss ich, „so haben wir auch da einen klassischen Zeugen unter Eid dafür, dass während der kritichen Zeit niemand in der mondhellen Frostnacht, in der er weithin hätte gesehen werden müssen, von hinten heraus das Haus verlassen hat! Auch Fussspuren haben sich bekanntlich nirgends in der Umgebung gefunden.“

      Dr. Philipp Nöldechen nickte und schwieg. Ich hub noch einmal an:

      „Also müssen wir


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