Logotherapie und Existenzanalyse heute. Elisabeth Lukas

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Logotherapie und Existenzanalyse heute - Elisabeth Lukas


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Gleichgewichts und des gegenseitig Angepasstseins von Wirtstieren etc. – das ist ja gleichsam das „Erfolgsrezept“ der Natur: Zusammenarbeit und Ineinanderwirken.

      Aber das, was Sie mit der „samariterhaften Einstellung“ beschreiben, geht weit darüber hinaus. Es ist uns im Unterschied zum Tier stets nur als Möglichkeit, also im Freiraum, gegeben. Das Teilen und die Großzügigkeit ist beim Menschen eben nicht, wie beim Tier, triebhaft vorbestimmt. Nichts treibt uns zur Großzügigkeit an. Mit anderen Worten: Im Menschen ist Teilen nicht einfach ein biologisches Programm, das automatisch abläuft, sobald wir irgendwo ein Defizit erblicken. Es ist etwas viel Wertvolleres: nämlich Ausdruck genuinen Wohlwollens – also ein Akt in Freiheit und Verantwortung bzw. der Akt in der Freiheit, wohlwollend und Anteil nehmend zu leben – oder eben nicht.

      4. REAKTIVES GLÜCK UND UNGLÜCK

      Batthyány: Wir können ja beides: am Leid vorbeigehen oder im Rahmen unserer Möglichkeiten zu helfen versuchen. Denn das Gegenbild zu dem, was Sie „samariterhafte Haltung“ nennen, wenn ich Ihren Gedanken nochmals aufgreifen und weiterspinnen darf, ist auf der anderen Seite, dass Undankbarkeit und geringes Wohlwollen in sehr unmittelbarer Weise miteinander zusammenhängen: dass man in einer innerlich unreifen Anspruchshaltung für das eigene Glück ebenso erblindet („es steht mir ja zu!“) wie für die Not in der Welt („was geht mich das an?“). Ersteres wird als selbstverständlich hingenommen und Letztes geht einen dann scheinbar nichts an. Frankls Satz vom Glück als das, was einem erspart bleibt, und Ihre Worte über generalisierte Einstellungswerte und die samariterhafte Einstellung decken so gesehen beide Seiten der Medaille ab: Das eigene Glück ist ebenso wenig selbstverständlich wie die Not des anderen, an der man nicht schulterzuckend vorübergehen soll, sofern man Ressourcen hat, diese Not zu lindern oder zu beheben.

      Wobei wir es nebenbei gesagt dem Realismus schulden, dass wir nicht vergessen sollten, dass wir ja tatsächlich nie wissen, wann wir uns auf welcher Seite befinden werden: ob und wann und für wie lange wir also das Glück haben, teilen zu können, oder ob und wann wir darauf angewiesen sein werden, dass sich ein anderer unserer annimmt und uns aufrichtet.

      Der eine wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und entwickelt eine Hundephobie – der andere wird am Schulweg von einem Hund angesprungen und lernt, mit Hunden geschickt umzugehen. Die eine entdeckt, dass sie durch Vorgabe von Halsschmerzen oder Magengrimmen die zärtliche Fürsorge ihrer Mutter herbeirufen kann, und übt sich daraufhin im histrionischen Manipulieren ihrer Mitwelt ein. Die andere macht dieselbe Entdeckung, verzichtet aber auf weiteres „Theaterspielen“. Zahlreiche psychologische Krankheitsbilder sind von ihrer Entstehungsgeschichte her Kombipakete: nicht nur die psychosomatischen Krankheiten mit ihrer typischen Kombination von körperlicher Vorschädigung plus Auslösestressor, sondern auch viele Abhängigkeitsprobleme, bei denen auf kurzfristig erzeugbaren Emotionalgewinn mit „Mehr desselben“ statt mit vorsichtiger Zurückhaltung reagiert wird, oder iatrogene (also durch ärztliche Einwirkung erst entstandene) Störungsformen, bei denen unbedachte Äußerungen von Ärzten und sonstigen Autoritätspersonen zu ernst genommen bzw. als drohendes Unheil ausgelegt werden.

      In diese Aufzählung passt, was wir soeben diskutiert haben, nämlich die inadäquate (statt adäquate) Reaktion auf eigenes Glück und auf fremdes Leid.

      5. EINE FÜNFTE PATHOLOGIE DES ZEITGEISTS?

      Allerdings hat Frankl diese vier Daseinshaltungen vor mehr als 70 Jahren beobachtet und beschrieben; daher stellt sich die naheliegende Frage, ob der heutige Zeitgeist tatsächlich noch ganz deckungsgleich ist mit dem damaligen Zeitgeist, der ja unter ganz anderen historischen und sozialen Bedingungen gewachsen und in Erscheinung getreten ist.

      Mit Blick auf die Gegenwart untersuchen daher Studenten in der Forschungsabteilung des großen Moskauer Instituts unter meiner Leitung seit einigen Jahren, ob sich zu diesen vier Fehlhaltungen im Laufe der Zeit vielleicht noch andere hinzugesellt haben. Und tatsächlich kommt da – sowohl in Einzelgesprächen als auch in Gruppenerhebungen – immer wieder ein neues kollektivneurotisches Syndrom zum Vorschein, das die Vermutung, die Pathologie des Zeitgeists habe sich angesichts des geänderten sozioökonomischen Klimas entwickelt, bestätigt: nämlich eine Vermengung überragend vieler Möglichkeiten bei gleichzeitigem Schwinden des Verantwortungsbewusstseins. Anders ausgedrückt: Freiheit und Verantwortung sind in ein gehöriges Ungleichgewicht geraten.

      Wir beobachten insbesondere bei Menschen, die finanziell und auch sonst gut abgesichert sind, eine enorme Anspruchshaltung dem Leben und anderen Menschen gegenüber, zugleich aber auch eine mangelnde Anerkennung des Guten und parallel dazu einen Mangel an Bereitschaft, sich den unvermeidlichen Schattenseiten des Daseins zuzuwenden, ja, diese überhaupt zu akzeptieren. Mit anderen Worten: Diesen Menschen mangelt es an vernünftiger Ehrfurcht vor dem, was sie haben und ihnen eben erspart bleibt – und auch vor dem, was sie dem Leben oder anderen schuldig sind.

      Wenn man dieses neue Syndrom mit Frankls Pathologie des Zeitgeists vergleicht, dann fällt zunächst einmal auf, dass die vier von Frankl beschriebenen kritischen Daseinshaltungen allesamt durch ein Element der Angst gekennzeichnet sind: In der provisorischen Geisteshaltung etwa herrscht eine grundlegende Angst vor der Zukunft vor. Es wird der Zukunft so stark misstraut, dass die Betroffenen gar nicht erst einen Sinn darin erblicken können, etwas aufzubauen, von dem sie aufgrund ihrer Zukunftsängste befürchten, dass es ohnedies nicht von Bestand und Dauer sein wird. In dieser entmutigten Geisteshaltung scheint es den Betroffenen fraglich, ob und weshalb sie sich überhaupt noch für etwas oder jemanden engagieren sollten, wenn doch ohnedies nicht gewährleistet ist, dass das, wofür sie sich einsetzen, nicht schon im nächsten Augenblick wieder bedroht oder tatsächlich vernichtet wird. Daher richten sie sich im Provisorium ein – ängstlich und mutlos auf den nächsten Schicksalsschlag wartend. Das Angstmotiv hier lautet: Angst vor der Zukunft und Angst vor Bedrohung.

      In der fatalistischen Daseinshaltung hingegen überragt die Angst vor vermuteten und unerkannten Schicksalsmächten und unterminiert jegliche Initiative und freie und verantwortliche Lebensführung. Der Glaube an die Übermacht des Schicksals, das dem Einzelnen, so glaubt er, gar nicht erst die Möglichkeit der Entscheidungsfreiheit und Gestaltungsfähigkeit einräumt, ihn vielmehr zu einem hilf- und bedeutungslosen Rädchen im großen Schicksalswerk reduziert, untergräbt seine Gestaltungsmotivation:

      Das Angstmotiv des Fatalisten ist somit die Übermacht des Schicksals, nicht selten gepaart mit abergläubischer Furcht vor verborgenen Schicksalszusammenhängen (Unglückssymbolen, Horoskopen, schlechten Omen etc.).


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