Die schönsten Kinderbücher (Illustriert). Гарриет Бичер-Стоу

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Die schönsten Kinderbücher (Illustriert) - Гарриет Бичер-Стоу


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zu haben. In einer Nacht, nachdem er zehn Stunden lang über einem »blinden« Seehundloch gesessen hatte, kam er schwach und schwindlig dem Dorfe zugewankt. Um auszuruhen, lehnte er sich gegen einen Eisblock, der zufällig nur locker auflag; der Block kam aus dem Gleichgewicht und überschlug sich polternd. Kotuko sprang zur Seite, um ihm zu entgehen, aber der Block kam zischend und raschelnd den Hang hinab hinter ihm her gerollt.

      Das war genug für Kotuko! Er war aufgewachsen in dem Glauben an Geister; in jedem Fels, in jedem Eisblock lebte ein Bewohner (Inua), den man sich gewöhnlich als eine Art einäugigen weiblichen Wesens; Tornaq genannt, vorstellte. Wollte eine Tornaq dem Menschen beistehen, so rollte sie, glaubte man, hinter einem her im Innern ihres Steinhauses und bot sich als Schutzgeist an. (Eisumschlossene Felsen beginnen im Sommer, wenn die Hülle taut, über das Land dahinzurollen und zu tanzen – daher der Glaube an lebendige Steine.) Wie an allen Tagen hörte auch jetzt Kotuko das Blut in den Ohren pulsen und rauschen; aber nun meinte er, daß es die Stimme der Tornaq im Stein war, die zu ihm redete. Als er sein Haus erreicht hatte, stand für ihn fest, daß der Steingeist geheimnisvoll zu ihm gesprochen hatte, die anderen glaubten ihm ebenfalls, und keiner widersprach ihm.

      »Die Tornaq raunte mir zu: ›Ich springe herab, ich springe herab von meinem Platz im Schnee‹«, rief Kotuko, der vorgebeugt, mit hohlen brennenden Augen in der schwach erhellten Hütte stand. »Sie sagte: ›Ich will dir Führer sein‹; sie sagte: ›Zu den großen Robbenlöchern führe ich dich, folge mir‹; und morgen ziehe ich aus, denn die Tomaq wird mich führen.«

      Der Angekok, der Dorfzauberer, trat nun herbei; und Kotuko erzählte zum zweitenmal die Geschichte. »Folge den Tornait, den Geistern der Steine«, sagte der Zauberer, »sie werden uns wieder Nahrung zuwenden.«

      Schon seit Tagen hatte das Mädchen aus dem Norden in der Nähe der Lampe gelegen, wenig gegessen und noch weniger gesprochen. Als aber am nächsten Morgen Amoraq und Kadlu einen kleinen Handschlitten hervorzogen, ihn mit Kotuks Jagdgerät und mit so viel gefrorenem Seehundfleisch und Tran beluden, als sie entbehren konnten, da ergriff das Mädchen aus Ellesmereland wacker die Zugleine und stellte sich an die Seite des Knaben.

      »Dein Haus ist mein Haus«, sagte sie, indes der kleine knochenkufige Schlitten hinter ihnen knirschte und stieß durch die grauenvolle Dunkelheit der Polarnacht.

      »Mein Haus, dein Haus«, sagte Kotuko. »Wir beide zusammen, scheint mir, sind auf dem Wege zu Sedna.«

      Sedna ist die Herrin der Unterwelt; und der Innuit glaubt, daß jeder nach seinem Tode ein Jahr in ihrem finsteren Reiche wohnen muß, bis er nach Quadliparmiut eingehen kann, dem glückseligen Land, wo es niemals friert und fette Rens auf Anruf angetrottet kommen.

      Im Dorf aber riefen die Leute: »Die Tornait haben zu Kotuko gesprochen. Offenes Eis werden sie ihm weisen. Seehunde wird er uns heimbringen zu den Hütten.« Die Stimmen waren aber bald von der kalten, leeren Finsternis aufgeschluckt; und Kotuko und das Mädchen zogen Schulter an Schulter an dem Zugstrick oder schoben den Schlitten durch das Eis in Richtung auf das Polarmeer. Kotuko bestand darauf, die Tornaq im Stein habe ihm befohlen, nordwärts zu ziehen, und so wanderten sie nach Norden unter Tuktuqdjung, dem Ren – jenem Sternbild, das wir den großen Bären nennen.

      Ein Europäer hätte über den Eisschutt und das scharfkantige Geschiebe kaum fünf Meilen am Tag zurücklegen können; diese zwei aber kannten aus alter Erfahrung jede Drehung des Handgelenks, mit der man den Schlitten über den Eishügel hinwegbringt, jeden geschickten Ruck, der ihn aus einer Eisspalte herauszerrt, kannten, wenn der Weg hoffnungslos blockiert schien, das Maß der einzusetzenden Kraft, um mit ein paar Speerschlägen einen Pfad zu bahnen.

      Das Mädchen sprach kein Wort, hielt den Kopf gesenkt, und die langen Fransen aus Vielfraßfell an ihrer Hermelinkapuze wehten über ihr breites dunkles Gesicht. Der Himmel über ihnen war wie tiefschwarzer Samt, erhellt gegen den Horizont hin von düsterroten Streifen – dort, wo die mächtigen Sterne glommen wie Straßenlaternen. Zuweilen zuckten grünliche Wogen des Nordlichts über das Gewölbe des hohen Firmaments wie flatternde Fahnen und erloschen wieder; oder ein Meteor zog sprühend vorüber auf seiner Bahn aus der Nacht in die Nacht und zog einen Schauer glühender Funken hinter sich her. Später erstrahlten vor den Wandernden die Rippen und Furchen der Oberfläche des Eisfeldes in seltsamen Farben – verbrämt und betupft in Rot, Kupfer und Blau; bald aber wandelte das Sternenlicht alles wieder in froststarres Grau. Die Eisdecke war durch die Herbststürme zerspalten und zerpflügt worden und glich nun im Frost des Winters einem erstarrten Erdbeben. Risse, Spalten und Löcher klafften im Eis wie tiefe Schründe; Klumpen und Bruchstücke klebten festgefroren auf dem ursprünglichen Boden der Eisfläche; alte schwarze Eispusteln, vom Sturm unter die Eisdecke getrieben, stiegen wie Blasen wieder empor; große Blöcke ragten auf mit scharfen Kanten und Graten, vom Schnee geschliffen, der vor dem Winde her fliegt; eingesunkene Gründe erstreckten sich dreißig und vierzig Morgen weit, tief unter der Ebene der Eisfelder.

      Aus der Entfernung konnte man die Klumpen und Blöcke für Seehunde oder Walrosse halten, für umgekippte Schlitten oder Menschen auf der Jagd; ja, selbst der weiße Gespensterbär, mit den zehn Läufen, erstand aus den Umrissen eines gewaltigen Eisblocks. Aber wenn auch die phantastischen Formen wie von spukhaftem Leben erfüllt schienen, so war doch kein Laut, nicht der leiseste Widerhall eines Geräusches zu vernehmen. Und durch dieses allgegenwärtige Schweigen, durch diese Einöde, wo fahle Lichter flackernd aufzuckten und dahinstarben, kroch der winzige Schlitten mit den beiden dahin, die ihn zogen. Nachtalben schienen sie zu sein, die den Menschen im Schlafe schrecken – Phantome vom Ende der Welt, am Ende der Welt.

      Wenn sie müde wurden, machte Kotuko ein Halbhaus, wie die Jäger es nennen, eine kleine Schneehütte, in die sie krochen, und wo sie über der Reiselampe das gefrorene Seehundsfleisch aufzutauen versuchten. Wenn sie geschlafen hatten, begannen sie wieder ihre Wanderung – dreißig Meilen Marsch am Tage, um fünf Meilen nordwärts zu gelangen. Das Mädchen war immer sehr schweigsam; Kotuko aber führte Selbstgespräche oder stimmte Gesänge an, die er im Singhause gelernt hatte, Sommerlieder, Ren-und Lachslieder – alle in schreiendem Widerspruch zu ihrer Lage. Dann glaubte er wieder die Tornaq zu ihm reden zu hören, und er rannte wild und wirr einen Eishügel hinan, fuchtelte mit den Armen und sprach in lautem, drohendem Ton. In Wahrheit war Kotuko zu jener Zeit dem Wahnsinn nahe; das Mädchen aber glaubte sicher, daß ein Schutzgott ihn führte und alles gut werden würde. So erstaunte sie nicht, als am Ende des vierten Tagesmarsches Kotuko ihr mit glühenden Augen erzählte, daß seine Tornaq ihm über den Schnee folge in Gestalt eines zweiköpfigen Hundes. Das Mädchen wandte sich um, wohin Kotuko zeigte, und irgend etwas schien in einer Eisspalte zu verschwinden. Es war gewiß nichts Menschliches, aber jedem war es bekannt, daß die Tornaq gern Gestalten von Bären, Robben und dergleichen annahmen.

      Es mochte ebensogut der weiße, zehnbeinige Gespensterbär als sonst irgend etwas sein; denn Kotuko und das Mädchen waren so ausgehungert, daß ihre Augen versagten. Seitdem sie das Dorf verließen, hatten sie nichts gefangen, noch auch nur eine einzige Wildfährte gesehen. Ihr Vorrat reichte noch knapp eine Woche, und ein Sturm war im Anzug. Zehn Tage hintereinander tobt manchmal der Polarsturm, ohne nachzulassen, und jedem bringt er sicheren Tod, der sich während der Zeit im Freien befindet. Kotuko baute ein Schneehaus, groß genug, um auch den Schlitten mit hineinzunehmen (denn niemals soll man sich von seinem Fleischvorrat trennen), und als er den letzten Eisblock zurechthackte, der den Schlußstein des Daches bilden sollte, sah er auf einer niedrigen Eisklippe eine halbe Meile entfernt etwas kauern, das zu ihm herüberblickte. Diesig war die Luft; das, was dort kauerte, schien vierzig Fuß lang zu sein und zehn Fuß hoch, mit einem zwanzig Fuß langen Schwanz hinter sich, und die Umrisse der Gestalt schienen sich fortwährend zu ändern. Auch das Mädchen sah das Phantom, aber anstatt vor Schreck aufzuschreien, sagte sie gelassen: »Das ist Quiquern. Was wird nun kommen?«

      »Es wird zu mir reden«, erwiderte Kotuko; aber das Schneemesser zitterte in seiner Hand, als er sprach, denn so gern auch ein Mann glauben mag, mit fremdartigen häßlichen Geistern gut Freund zu sein, so ungern läßt er sich beim Worte nehmen. Quiquern nun gar ist das Gespenst eines gigantischen zahnlosen Hundes ohne ein Haar. Hoch im Norden soll er leben und erscheint immer im Lande am Vortage großer Ereignisse, seien sie nun froher oder trauriger Art. Aber selbst der Zauberer hütete sich, von


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