Eden. Tim Lebbon
Читать онлайн книгу.tiefer ging. Trotz ihrer Flugangst lehnte sie sich an Aaron vorbei, um besser durch das schmutzige, verkratzte Fenster sehen zu können.
Ein nahe gelegener Felshang war von toten Bäumen bedeckt. Die majestätischen Giganten waren nackt und die ausgebleichten Skelette ihres früheren Selbst ragten traurig und steif in den Himmel.
An den Rändern dieser Todeszone klammerten sich einige wenige Bäume noch an ihre Existenz. Ihre Blätter, gesprenkelt von blassem Tod und schwachem, verzweifeltem Leben, hinterließen einen weniger üppigen Gesamteindruck als jene in den angrenzenden gesünderen Wäldern. Es war, als hätte jemand einen Eimer grauer Farbe über dem Hang ausgekippt.
»Seltsam, wie es nicht alle Bäume erwischt«, sagte Cove. Dan Covington, vielleicht der eifrigste Sportler unter ihnen, war sich gleichzeitig am wenigsten der Veränderungen bewusst, die ihren Planeten heimsuchten. Ein neu entdeckter Wunsch, mehr darüber zu erfahren, war der Grund, warum er bei ihnen blieb, anstatt sich einer anderen Gruppe anzuschließen. Sie brachten ihn an Orte, die den meisten anderen verschlossen blieben, und jede Expedition lehrte ihn etwas Neues.
»Die Verschmutzung ist nicht selektiv«, erläuterte Selina. Sie saß hinter Jenns Vater und hatte den Großteil des Flugs so gewirkt, als hätte sie geschlafen. Nun betrachtete sie an Gee vorbei den traurigen Anblick zu ihrer Linken. Obwohl sie die einzige qualifizierte Wissenschaftlerin unter ihnen war und darüber hinaus eine leidenschaftliche Umweltschützerin und Dozentin, ließ sie sich nur selten Emotionen über die Zerstörung der Welt anmerken, deren Zeugen sie so oft wurden. Ihr Vater hatte Jenn erklärt, dass Selinas Seele ebenfalls zerstört sei und sie keine Tränen mehr übrig habe.
»Aber warum einige Bäume und andere nicht?«, fragte Cove.
»Könnte etwas mit der Art zu tun haben. Einige sind anfälliger für Verschmutzung und Klimaveränderungen als andere. Möglicherweise hat es auch etwas mit der Wasserversorgung zu tun. Vielleicht folgt der tote Bereich dem Verlauf eines Bachs, einem Riss im Unterboden oder den Bestäubungsmustern der einheimischen Bienenpopulation. In Malaysia habe ich mal zweihundertfünfzig Quadratkilometer toter Bäume mit fünf Flecken gesehen, an denen etwa fünfzig Bäume noch gediehen. Eines Tages wird jemand eine Abhandlung über die Gründe veröffentlichen. Spielt keine Rolle.« Selina lehnte sich zurück und schloss wieder die Augen. »Nur ein weiterer toter Wald.«
»Sieht fast hübsch aus«, sagte Cove.
»Hübsch wie ein Krebsgeschwür«, erwiderte ihr Vater. Jenn hielt die Luft an und spürte Schuldgefühle hochsteigen, wie immer, wenn sie an das dachte, was sie vor ihm geheim hielt.
»Unsere Frohnatur schlägt wieder zu«, kommentierte Aaron. »Du solltest Stand-up-Comedy machen, Dylan. Du solltest deinen eigenen Motivationskanal haben. Du könntest ihn Depri-Dylan und die …«
»Sagt der Mann, der mit meiner Tochter schläft.«
»Hey!«, schaltete sich Jenn ein. »Das ist für dich tabu.«
»Sagt Jenn zu Aaron. Nie«, scherzte Gee und alle begannen zu lachen. Selbst Selina schmunzelte, als sich Jenn nach hinten umdrehte, um Gee eine zu verpassen. Er hielt beide Fäuste hoch und ihr Schlag landete an seiner linken Prothese. Während sie sich die schmerzende Hand hielt, zeigte er ihr grinsend den Mittelfinger.
»Zumindest hat dich das kurz von unserem unmittelbar bevorstehenden Flammentod abgelenkt«, sagte Aaron.
»Ich weiß wirklich nicht, warum ich bei euch bleibe«, erklärte Jenn, während sie sich wieder zurücklehnte. Sie sah ihren schmunzelnden Vater an. »Ihr seid Teufel. Jeder Einzelne von euch. Ich bin die einzige nicht teuflische Person hier.«
»Vollkommen ohne Sünde«, pflichtete ihr Aaron bei.
Jenn verschränkte die Arme und tat so, als würde sie schmollen. Vor ihr zuckten Coves Schultern vor Lachen und ihre Angst ließ nach. Sie konnte sogar dem Piloten bei seinem hektischen Treiben zusehen, ohne jeden Moment zu befürchten, dass die Maschine sich überschlagen und in den Wald rasen würde.
Jenn mochte es, ein Problem zu analysieren, es auseinanderzunehmen und seine Bestandteile zu untersuchen, bis sie, wenn schon keine Lösung, so doch zumindest die Ursache gefunden hatte. Doch ihre Angst vor dem Fliegen blieb ihr ein Rätsel. Es war keine Höhenangst, denn sie war eine fähige Basejumperin, Kletterin und war vor zwei Jahren mit einem Mountainbike entlang einer Bergkammlinie in Mexiko gefahren, von der sogar Aaron hatte zugegeben müssen, dass sie ihn ziemlich nervös gemacht hatte. Sie hatte seine Zeit auch mit ziemlichem Abstand geschlagen. Es ging auch nicht um Kontrollverlust, denn sie gab ihr Wohlergehen regelmäßig in die Hand anderer Leute, nicht nur Mitgliedern ihres eigenen Kernteams. Sie wusste, dass es auch nicht daran lag, dass dieses alte Flugzeug wohl schon seit einem Großteil des letzten Jahrhunderts nicht mehr als neu gegolten hatte, ganz zu schweigen von diesem, denn sie hatte bereits hundert angsterfüllte Reisen in einer Vielfalt von Jets, Propellerflugzeugen, Helikoptern und sogar ein paar Heißluftballons gemacht.
Sie wusste nicht, woran es lag. Sie konnte aus dem Fenster blicken und Autos sehen, die sich wie Ameisen über Straßen bewegten, und erfreute sich an den unterschiedlichen Ausblicken, die einem ein solcher Flug bot. Und doch schlug ihr Herz doppelt so schnell wie gewöhnlich, wenn ein Flugzeug startete, ihre Hände wurden schwitzig und eine konstante Übelkeit breitete sich in ihr aus. Wenn sie die Augen schloss, machte es das nur noch schlimmer.
»Vielleicht bist du ja in einem früheren Leben bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen«, hatte Aaron mal zu ihr gesagt, als sie einen Tag vor einem Flug über ihre Angst gesprochen hatten.
»Ja, klar. Als Kampfpilotin.«
»Wohl eher in einem Schädlingsbekämpfungsflugzeug.«
»Oh Mann, das ist ja toll«, staunte Gee.
»Was?«, fragte Jenn.
»Schau mal nach links«, antwortete er mit dem Gesicht ans Fenster gepresst. »Jemand Lust auf ein Bad?«
Neben ihnen hatte sich ein schmales Tal geöffnet und erstreckte sich jenseits ihrer Flugroute. Der Fluss, der sich am Grund des Tals entlangschlängelte, war stellenweise blassgelb und hier und dort war ein Durcheinander aus unnatürlichen Farben zu sehen. Der Film aus Chemikalien flirrte wie gebrochene Regenbögen. Am Ufer sammelten sich Schaumkronen, die auf der sanften Strömung tanzten.
»Muss von hundert Kilometer flussaufwärts stammen«, sagte Lucy neben Cove. Sie studierte ihr Tablet und Jenn überlegte, wie ihre Freundin jemals ohne ihre Technik überlebt hatte. Sie arbeitete gerade an ihrer Doktorarbeit zum Thema Kommunikation zwischen menschlicher und künstlicher Intelligenz. Die näheren Einzelheiten waren Jenn zu hoch und Cove scherzte manchmal, dass sie in der Gesellschaft eines Computers am glücklichsten war. Die meisten Expeditionen kamen ohne komplizierte Technik aus und diese würde noch stärker als die anderen auf das absolut notwendige Minimum reduziert sein, sobald sie erst mal richtig unterwegs waren. Schlicht, optimiert, schnell. »Eine Chemiefabrik, offiziell seit siebzehn Jahren geschlossen.«
»Offiziell«, betonte Aaron.
»Geld kann Türen öffnen und Augen verschließen«, bemerkte Lucy. »Verdammte Arschlöcher.«
»So nah an Eden?«, fragte Cove. »Ich bin erstaunt, dass das erlaubt ist.«
»Ist es nicht«, erwiderte Lucy. »Wie ich schon sagte, verdammtes Arschloch.« Der Singular war nicht zu überhören. Sie zog sich ihr langes dunkles Haar ins Gesicht und drehte sich halb weg, einen Mundwinkel nach oben gezogen. Jenn unterdrückte ein Kichern. Die beiden hatten am gleichen Tag Geburtstag, auch wenn Jenn zwei Jahre älter war, und manchmal scherzte Cove, dass sie wie Schwestern waren, die sich gegenseitig Geheimnisse zuflüsterten. Nicht immer, wenn er das sagte, lächelte er.
»Wir lassen all das bald hinter uns«, sagte Aaron und Jenn fand, dass er gerade laut genug sprach, dass nur sie es hören konnte. Auf ihrer Reise hierher waren sie an vielen Orten vorbeigekommen, wo die Verschmutzung deutlich sichtbar gewesen war. Unter anderem an einer Küste, wo die globale Erwärmung und