Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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die scharf eingestellten Wünsche zusammen und halten dadurch die Ordnung im Reiseverkehr aufrecht. Es ist keine Kleinigkeit, das kannst du dir wohl denken, etwa tausend Reisen in der Minute zusammenzustimmen, denn viele Leute bewegen gleichzeitig dasselbe Ziel auf sich zu. Daß es zu keinen Zusammenstößen kommt, dazu ist schon wirklich eine höhere Mathematik vonnöten . . .“

      Obwohl die Spiegelfläche des Erdbodens nur in einem ganz schwachen Winkel nach oben anstieg, mußten wir uns vor dem Schilderhaus des Geoarchonten doch wie richtige Eisläufer in Schleifen und Bögen umeinander bewegen, damit wir vom Rande der Waagschale nicht wieder hinabglitten, dem Denkmal des Letzten Krieges entgegen. Die Menschenmauer hielt ziemlich weiten Abstand von unserer Hausgruppe, die sich nun um den Fremdenführer dieses Zeitalters und zwei oder drei Komiteemitglieder vermehrt hatte. Was mir als dem Kinde meiner Zeit sofort als sehr bedenklich auffiel, war der Umstand, daß des Erdballpräsidenten lächerliches Schilderhaus völlig unbewacht und ungesichert war. Weit stand die gestreifte Tür offen. Kein Leibgardist, kein Wachtposten, kein Detektiv, kein Schutzmann, kein Konfident, ja nicht einmal ein ordinärer Portier hätte einem präsumtiven Attentäter den Eingang verwehrt. Das Metier des Welthausmeiers schien demnach weder sehr beneidet noch auch umworben zu sein. Ich versuchte, auf meinen Schlittschuhen immer in B.H.s Nähe zu bleiben.

      „Wie ist der Name seiner Exzellenz, des gegenwärtigen Geoarchonten?“ fragte ich.

      „Er hat keinen Namen“, erwiderte B.H. leise.

      „Ich meine, wie er wirklich heißt, wie er bürgerlich heißt . . .“

      „Der Welthausmeier heißt überhaupt nicht. Weder wirklich noch bürgerlich. Bei der Investitur wird sein Name feierlich aus allen Dokumenten gelöscht. Sogar sein ,Io’ hat er aufzuopfern.“

      „Das muß aber sehr unangenehm sein“, entfuhr es mir.

      Der Hausweise, der meinen Ausruf gehört hatte, blieb dicht vor mir stehen:

      „Es gehört zu meinen Pflichten, Seigneur, Ihnen einen Abriß der Konstitution zu geben . . .“

      Er kam nicht weiter. Denn schon hatte ihn der jach heranstürmende Wortführer unterbrochen (welche Geschmeidigkeit im hohen Alter):

      „Ihre Pflicht ist die reine Spekulation, sonst nichts. Des Wortführers Pflicht hingegen ist die Darstellung der Dinge in Schrift und Rede . . .“

      „Nicht des Wortführers Pflicht, der nur ein Hausredner ist“, ertönte die heisere Oratorenstimme des Fremdenführers dieses Zeitalters, der plötzlich alle hoch überragte und genau so aussah wie eine unvergessene Lesebekanntschaft meiner Knabenzeit, ich meine den ägyptischen Isispriester Arbaces aus Bulwers „Letzten Tagen von Pompeji“.

      „Wessen Pflicht ist es, einen Fremden zu führen, der nicht nur einen Hausbesuch macht, sondern einen Weltbesuch?“

      Alle schwiegen beschämt. Die Autorität dieses hohen Bürokraten zu bestreiten, wagte niemand.

      „Die Wahl des planetaren Archonten“, begann der Fremdenführer trocken und doch auch hoheitsvoll, „erfolgt kraft unserer Verfassung auf dem Wege des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes . . .“

      Der genannte Begriff, „Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht“ klang meinen Ohren wohlvertraut, ja ich muß gestehen, allzu wohlvertraut. Die politischen Reden und Zeitungen meiner eigenen Jugendzeit waren von ihm erfüllt gewesen, und die Öffentlichkeit meines Heimatreiches hatte ihn hoch gefeiert, als er eines Tages, das alte Klassenrecht ablösend, zum Gesetz erhoben wurde. Wir freilich, die Studenten jener so ruhigen Zeit, jenes Weekends der Weltgeschichte vor 1914, ich verstehe darunter B.H., mich und alle unsre Freunde, hatten uns recht wenig um Politik und Politiker gekümmert, die uns allesamt als Vertreter der niedrigen, bierigen Unbildung und Geistlosigkeit verächtlich waren. Wir selbst waren das, was jene bierbäuchigen Politiker ihrerseits wiederum mit Verachtung „weltfremde Ästheten“ nannten. Wir waren’s in der festen Überzeugung, hoch über der gewöhnlichen Menschheit zu schweben, weil wir Gedichte für wichtiger hielten als Lohnkämpfe in der Industrie, als Zollgrenzen und die Sprachenfrage in nationalen Streitgebieten. Als nach dem Weekend der Weltgeschichte ihr blutiger Wochentag wieder anbrach, sollten wir nur allzubald eines Besseren belehrt werden. Als ich aber jetzt, unzählige Jahrhunderte nach jenen verrauschten Kämpfen um die Demokratie, welche immer wieder verloren und immer wieder gewonnen wurden, aus dem Munde des Fremdenführers die altvergilbte und vorvergangene Wortfolge hörte: „Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht“, empfand ich nicht nur vergleichsweise die Enttäuschung eines Touristen, der sich die Peterskirche in Rom größer und dunkel-heiliger vorgestellt hatte, sondern auch etwas von jener ästhetenhaften Spottsucht meiner Jünglingszeit wider den Ernst der Politik. Ich wurde aber sofort aufgeklärt, daß es um das Wahlgesetz dieses Zeitalters durchaus nicht so bierbäuchig altväterisch bestellt war wie der bloße Klang der Phrase es vermuten ließ.

      „Berechtigt zu wählen“, so setzte die radioartige Stimme des Fremdenführers die Belehrung fort, „ist jeder Mann, jede Frau, jeder Junggeselle, jede Junggesellin, kurz jegliches Io, welches das dreiunddreißigste Lebensjahr vollendet hat. Berechtigt, gewählt zu werden sind immerdar nur elf entpersönlichte Persönlichkeiten. Es sind die Seleniazusen, die Mondgeweihten . . .“

      Der Kürze wegen werde ich versuchen, die direkte Rede des Fremdenführers zu unterbrechen und diese sonderbare Sache mit eigenen Worten zu umschreiben. Ich muß zugeben, daß ich, außerstande irgendwelche Notizen zu machen, die ich freilich nicht hätte mitbringen können, mir von den einundzwanzig Bedingungen, welche die Selenezusia, die Mondgeweihtheit, ausmachen, zwar einen wichtigen Teil, nicht aber alle gemerkt habe. (In dem Worte „Mondgeweihtheit“ wird gar mancher einen Rückschritt bis zur mythologischen Epoche der Menschheit verspüren, bis weit hinters allgemeine Wahlrecht meiner eigenen Jugendzeit zurück — dieses Gefühl wird aber irrig sein und den Tatsachen durchaus nicht gerecht werden.) Die elf Seleniazusen, welche, ohne es selbst zu wissen, die Kandidatur für das oberste Weltvorsteheramt innehatten, wurden von einer geheimen Kommission nach gewissen gesetzlich geforderten körperlichen Merkmalen und geistigen Eigenschaften aufgestellt, und zwar erfolgte ihre Erkürung schon im zarten Alter von fünf Jahren.

      Von ihrem fünften Jahre an wurden sie unmerklich aber beständig überwacht. Die Zahl der auf diese Weise unbewußt zur Kandidatur Zugelassenen konnte bis auf einhundertzehn anwachsen, die erst im Bedarfsfalle — das war die Erledigung der Erdballpräsidentschaft — auf die verfassungsmäßig vorgeschriebenen Elf von der geheimen Kommission heruntergesiebt wurden. Diese Kommission war immerfort auf der Suche nach kleinen Kindern, welche die Eignung für das höchste Amt der geeinigten Menschheit besaßen. Im Hinblick auf dieses verschwiegene Suchen, Prüfen und Küren wurde das Wahlrecht „geheim“ genannt, und nicht etwa im Hinblick auf die Geheimhaltung des Wahlzettels, wie einst. Bei der Eröffnung dieser Dinge mußte ich B.H. anblicken, den Tibetaner, der vermutlich noch stärker als ich an die Suche nach dem kindlichen Dalai Lama, nach dem wiedergeborenen Buddha in der verbotenen Stadt Lhassa gemahnt wurde. So kehren alle Motive in der Geschichte wieder, ungeachtet der Zeiträume. Ich hielt aber den Mund.

      Folgende körperliche Eigenschaften habe ich mir gemerkt, an welchen die Kommission nach altüberlieferter Vorschrift die echten Seleniazusen und Erdballpräsidentablen zu konstatieren pflegte: Der Ringfinger der linken Hand mußte um mehr als einen Zentimeter länger sein als der Zeigefinger und womöglich auch noch den Mittelfinger überragen. Die Schilddrüse mußte langsamer als normal funktionieren, so daß viele der Präsidentablen, ohne freilich die Gesetze der allgemein erreichten Schönheit zu verletzen, oft zu leichtem Embonpoint neigten. Ferner mußte der Seleniazuse nicht nur mehr Fähigkeit zum Schlaf entwickeln als der gewöhnliche Mensch, er mußte überdies mit offenem Munde schlafen. Der Grund für letzteres sollte eine nach rechts verkrümmte Nasenscheidewand sein, welche den Sonnenatem behinderte, der durch die rechte Nüster eingesogen wird, während die offene linke Nüster dem Mondatem freien Raum läßt. Dies ein Teil der körperlichen Merkmale. Auch die geistigen und seelischen Eigenschaften, die ich hier anführe, sind mehr als unvollständig: Langsames, aber wenn nötig tiefschürfendes Denken. Hang zu Träumerei und Geistesabwesenheit. Menschenscheu, Schüchternheit, Einsamkeitssucht, Neigung zu generösen


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