Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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sich selbst nicht Identifizierbare unter den lebendigen Ios, ihr ungekrönt gekröntes Haupt. Er schlief, wie sich’s für einen Seleniazusen gebührte, gleichmäßig atmend, doch mit halboffenem Mund. Man sah sogleich, daß dieser Schlaf nicht die übliche Schwäche unsrer gefallenen Natur war, die Erholung und Erquickung braucht, sondern eine Art von amtlichem Schlaf, währenddessen ein Teil der für mich undurchdringlichen Regierungsgeschäfte erledigt wurde. Ich mußte an die Zusammenstimmer auf ihren Strecksesseln unter der dicken Glaskuppel denken, an jene hohen Beamten, welche den mentalen Reiseverkehr der Menschheit in Übereinstimmung zu bringen hatten. Auch sie taten’s im Schlaf, mehr als das, kraft ihres Schlafes, obgleich ihr Amt an Rang, Würde und Wert tief unter dem des Weltoberhauptes stand. „Die Verwendung des Schlafes für erhöhte geistige Lebenstätigkeit“, dies enthüllte sich mir jetzt als ein völlig unbekanntes und unerklärliches Gebiet, auf dem der Mensch einen seiner bisnun größten Fortschritte gemacht hatte. Wir, ich meine den Leser und mich, wir verschlafen von unsern durchschnittlichen siebzig Jahren ein Drittel, das sind ungefähr dreiundzwanzig Jahre, wodurch eine schon recht hoch gerechnete durchschnittliche Lebensdauer auf die unbeträchtliche Zahl von siebenundvierzig Jahren zusammenschrumpft. Diese hier jedoch hatten es gelernt, während ihres Schlafes mehr zu sein als bestenfalls die Beute irgendeines träumenden Scheinlebens. Sie wirkten durch ihren formenden Geist, während sie ohne Bewußtsein zu sein schienen, nicht minder auf das Geschehen ein, als würden sie wachen. Sie lebten daher die hundertachtzig oder zweihundert Jahre ihres Erdenwandels ohne Abzug.

      Ehrfurchtergriffen und kaum wagend zu atmen, vertiefte ich mich jetzt in das mondensanft leuchtende Gesicht des hohen Schläfers. Ureinst, in den Anfängen der Menschheit, einen Schläfer zu überraschen, das war stets eine sehr geschämige Sache gewesen. Davon gibt uns schon die biblische Geschichte Kunde, denn die Söhne Noahs überraschten diesen im weinbeschwerten, unruhigen Nachmittagsschlaf, wobei sie den Vater verspotteten und in unerhörtem, aber sehr charakteristischem Frevel seine Scham entblößten. Das soll bedeuten, daß der alte Schlaf (der Schlaf meiner Leser und der meinige) etwas war, in dem das Verhüllte aufgedeckt wurde, das uns so wohlbekannte „Unbewußte“, die wüste Vegetation, der Dschungel, das säuische Getümmel des inneren Lebens, über welches der Mensch nicht nur nicht Herr war, sondern das ihn jagte und hetzte durch das weglose Gestrüpp seiner selbst. Ach ja, jeder von uns antiken Schläfern glich dem um seine Achse bewegten noch jugendlichen Erdplaneten, im Inneren voll kochenden Magmas, außen übersät mit Millionen Pflanzenarten, über welchen Millionen Insektenarten hin und wieder taumelten, über welchen zehntausende Vogelarten sich wiegten, die hinabsahen auf bunt wogende Länder und Menschen. So reich an Vegetation, an unübersehbarem Formengewurle, an ungebahnter Unbewußtheit waren wir ureinst. — Wir sind es noch immer, meine Lieben, Gott sei Dank. Denn dieses Ureinst ist ja unser Jetzt. Wo meine Hand schreibt, da ist dieses Jetzt, wenn auch mein sich rückerinnernder Geist dem Jetzt um Jahrzehntausende vorausflügelt. — Dort aber, wo mein sich rückerinnernder Geist der Zeit vorausflügelt, hatte der Erdball selbst sich verändert. Er war eingeebnet und plan geworden. Es gab keine Berge und keine Vögel mehr. Es gab nur eine einzige Menschenrasse, und sogar die Hundeschaft hatte die Natur zu einer Generalsorte hinunterrationiert. Der Prozeß der Verkargung, den der Erdplanet, selbst ein belebtes Wesen, durchgemacht hatte, war zugleich ein Prozeß der Abstraktion, Abstraktion aber, Überwindung der Erfahrungsfülle durch den Begriff, ist Vergeistigung. Bei dem Prozeß der Abstraktion, der Vergeistigung des Erdplaneten, hatte auch der Mensch mitgehalten. Das heißt nicht gerade, daß er gescheiter geworden wäre; Sophistes Io-Sum und Io-Clap waren sogar viel weniger gescheit und auch denkschwächer als zum Beispiel Aristoteles oder der Aquinate. Das Reich des Unbewußten im Menschen aber war schmäler und gebahnter, und er schlief einen andern Schlaf.

      Der hohe Herr dort, der seinen Namen bei der Investitur hatte drangeben müssen, schlief einen Schlaf von Alabaster, so dünn und durchsichtig lag auf seinem Gesicht eine Schicht von anwesender Abwesenheit. Unter dieser diaphanen Schicht schien er in einem Höchstgrad gelassener Konzentration an der Seele der Welt und an seiner eigenen Seele zu arbeiten. Es ist noch jetzt, in der Erinnerung, ein unvergeßlich bewundernswerter Anblick für mich. Selbst Bräutigam Io-Do, der sich vor dem Denkmal des Letzten Krieges der Drohung vermessen hatte, er werde den Welthausmeier persönlich wecken, stand versunken da und schwieg wie auf Zehenspitzen. Aus einem solchen Schlafe voll tief- und weitblickendster Überwachheit mußte niemand geweckt werden, das sah man. Hinter dem Kopfende des Lagers standen zwei dienstbereite Mutarianer. Rechts neben dem Schläfer wartete, horchend geneigt, der spiegelnde Kahlkopf des Fremdenführers. Links vom Schläfer wartete, ebenso horchend geneigt, ein andrer spiegelnder Kahlkopf; vermutlich der Zeremonialdirektor vom Dienst.

      Plötzlich öffnete der Schläfer die Augen. Es waren herrliche dunkle, versunkene Geistesaugen, schöner als ich sie je gesehen hatte, doch bis zum Rande gefüllt von einer unbeschreiblichen Trauer. Wie? Diese von Trauer strahlenden Augen überwachten eine Welt, die im reinen zwecklosen Spiel ihr höchstes Ideal sah? Plötzlich fuhr ich zusammen, denn die Augen des Namenlosen sahen mich forschend unverwandt an, schon eine ganze Weile.

      „Euer Exzellenz“, begann der Kopf zur Linken, „die Stunde des Tagesorakels ist gekommen. Der Uranograph wartet . . .“

      Das Oberhaupt des Planeten gab keine Antwort. Das Wort hieß natürlich ebensowenig „Exzellenz“ wie es vorher „Professor“ geheißen hatte. Es ist nichts als eine schlechte Übersetzung.

      Nun ertönte die heisere Rednerstimme des Fremdenführers dieses Zeitalters:

      „Euer Exzellenz: Seigneur, aus den Anfängen der Menschheit, ist eingetroffen, um für seinen Preisspruch in der größten Streitfrage aller Zeiten das Ehrenzeichen aus den Händen von Euer Exzellenz zu empfangen.“

      Die Augen des Geoarchonten sahen mich unverwandt an, und als sprächen sie allein, und nicht die sanfte, etwas zu hohe Stimme, hörte ich:

      „Die Fremde, die in die Heimat kommt, macht sich selbst nicht heimisch, die Heimat aber fremd.“

      Dies war ein hübsches Tagesorakel, wie es verfassungsmäßig jeden Abend in den „Abendsternen“ veröffentlicht werden mußte. Es war so ziemlich im Stil der antiken Dunkelsprüche abgefaßt, doch recht leichthin und trocken gesprochen worden, so etwa wie ein königlicher Richter mit murmelnder Routine sprechen würde: „Ich eröffne hiemit die Verhandlung im Namen Seiner Majestät, des Königs.“ Noch ahnte ich nicht, daß es sich um keine leere Zeremonie handelte, sondern um eine Weissagung, welche über mich erging, und deren Richtigkeit ich an mir selbst erfahren sollte. Der Namenlose hatte ein Zeichen gemacht. Daraufhin leierte der Kahlkopf zur Linken ein Doppelverschen herunter:

      „ Der Schläfer verläßt sein Emporium.

      Feinfühliger Zeuge, drehe dich um.“

      Ich sah, daß alle sich umdrehten. Da ich etwas verwirrt war, mußte mir B.H. einen Schubs geben, damit ich dasselbe tue. Es gehörte nicht zur guten Sitte, hinzuschauen, wenn eine würdige oder gar bedeutende Persönlichkeit sich von ihrem Lager erhob. Der Übergang von einer körperlichen Haltung in die andre galt, außer im Falle frischester und unbedenklicher Jugend, für unschön und beschämend. Jetzt leierte der Kahlkopf zur Linken ein zweites Doppelverschen, das uns Seiner Exzellenz wieder zukehrte; ich müßte mir aber dieses Verschen, das ich vergessen habe, aus den Fingern saugen, und das will ich gerade in dieser Erzählung am strengsten vermeiden.

      Obwohl ich mich nach letzterem Doppelverschen wieder umgedreht hatte, hielt ich meinen Blick noch immer niedergeschlagen, um des hohen Seleniazusen tiefe Geniertheit und sein beklommenes Rührmichnichtan, von dem die Luft fühlbar zitterte, nicht zu verletzen. Als ich den Blick nun hob, sahen mich die wundertraurigen Augen noch gespannter und unverwandter an, denn die trotz ihrer Behäbigkeit zierliche Gestalt in violetter Schleierraffung hatte sich mir genähert. Ich wußte jetzt, daß mein Blick dem seinen standhalten mußte. Es war nicht leicht. Nach und nach aber fühlte und wußte ich, daß die überfüllten Wunderaugen zu mir sprachen. Dies ist nicht nur die übliche Romanphrase, die Augen des Erdoberhauptes sprachen wirklich zu mir in der Augen- und Gedankensprache. Da die Monolingua jedermann verstand, die stumme Augen- und Gedankensprache aber nur der jeweils Angesprochene, so schien sie im Laufe der Zeiten zur einzigen Möglichkeit ausgebildet worden zu sein, einander diskrete Mitteilungen zu machen und Geheimnisse


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