Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman. Franz Werfel

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Stern der Ungeborenen. Ein Reiseroman - Franz Werfel


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Plus an sich mehrendem Älterwerden ist der ganze „Fortschritt“ der Menschheit.

      Ich widerrufe die obige Erkenntnis nicht, obwohl ich am zweiten Tage meines Besuches aus dem Munde des Großbischofs eine ganz und gar gegenteilige Lehre zu hören bekam. Die Wahrheit ist ein und dieselbe. Die Sichtwinkel sind verschieden. Das Lebensalter der Menschen, in deren Kreis ich sogleich treten soll — wir stehen zur Beruhigung des Lesers schon jenseits der Gartenpforte ―, konnte ohne große Schwierigkeit bis zum zweihundertsten Jahre ausgedehnt werden. Die meisten Leute jedoch pflegten schon zwanzig oder dreißig Jahre früher „in Pension zu gehen“, obgleich ihnen das Alter keine Beschwerden brachte, sondern schlimmstenfalls eine gewisse Gelangweiltheit und Sättigung. Hier aber nähere ich mich bereits voreilig der zweitwichtigsten, wenn nicht der wichtigsten Erfahrung meiner Reise, und es wäre vom Standpunkte des Berichterstatters sowie des Romanschreibers mehr als ungeschickt, diese Erfahrung zusamt der Bedeutung des Wortes „Wintergarten“ (ein heuchlerischer Ausdruck) vor dem zweiundzwanzigsten Kapitel im dritten Teil dieses Buches preiszugeben. Die allgemeine Verlängerung und Verlangsamung des Lebens hatte noch andere Besonderheiten nach sich gezogen, die ich zum Teil erriet, zum Teil aus dem Munde B.H.s erfuhr (so scheint es mir wenigstens jetzt), noch ehe ich mit den Menschen in Berührung kam, die mich zur Hochzeitsfeier eingeladen oder richtiger „zitiert“ hatten. Die Verarmung des Lebens an Buntheit und Fülle, die erstaunliche Verringerung seiner Varietäten, die Abnahme seiner Leidenschaften, all dies zu erraten, dazu gehörte wahrhaftig nicht viel Scharfsinn. Ein Blick weit hinaus auf die glatte Trostlosigkeit des Erdenbildes bewies alles. Wir waren bisher noch keinem einzigen Menschen begegnet. Ich zog daraus, wie mir mein Freund bestätigte, keinen falschen Schluß: Die ehemalige Milliardenzahl gleichzeitig lebender Individuen war auf jenes Minimum zusammengeschrumpft oder zurückgeführt, welches für den Fortbestand einer Spezies unumgänglich notwendig ist. Auch das nächste Glied der Schlußkette ergab sich mit Notwendigkeit: Bei solch dünner Bevölkerung des eingeebneten Erdballs, die durch das Reise-Geduldspiel auf das schwereloseste verbunden war, konnten nationale und sprachliche Unterschiede nicht bestehen. Seit undenklichen Epochen war die Menschheit geeinigt.

      Gewiß, B.H. hatte den Ehrgeiz, mich in Erstaunen zu setzen. Zugleich aber wollte er nicht, daß ich mich blamiere und als ein völlig Unwissender und Ungebildeter meinen neuen Zeitgenossen erscheine. Dem hatte ich es zu verdanken, daß ich rasch einige Aufklärungen darüber erhielt, was eine Hochzeit in der mentalen Welt bedeutete, und warum es eine hohe gesellschaftliche Ehre war, diesem Feste zugezogen zu werden.

      Das Gebiet, auf dem sich der durch die „Transparenz“ hervorgerufene Wandel am schärfsten spiegelte, war, wie nicht anders zu erwarten, das Gebiet der Fortpflanzung: Paarung, Zeugung, Empfängnis, Schwangerschaft, werdendes und hervortretendes Leben. Es seinicht wahr, gestand B.H., daß alle Frauen nur einer einzigen Schwangerschaft im Leben fähig wären. Dies stimmte nur für die adeligste und verfeinertste Klasse unter ihnen. Gleich den edlen Bäumen im Märchen war es ihnen gegeben, nur einmal Frucht zu tragen. Hingegen war die Verfeinerung der Natur allgemein, die in dem Umstand lag, daß die Dauer der Gravidität sich von neun auf beinahe zwölf Monate erhöht hatte.

      War die Monopädie, das Einkindsystem, auch die Regel, so waren, wie B.H. mit bedenklicher Miene erklärte, die Ausnahmen zahlreicher als diese Regel. Wie hoch sich freilich die Verhältniszahl jener Ehepaare belief, die zwei oder drei Kinder großzogen, das konnte ich während meiner ganzen Anwesenheit nicht erforschen. Jenes statistische Bedürfnis, das mein eigenes Zeitalter gekennzeichnet hatte, schien der mentalen Epoche völlig abhanden gekommen zu sein. Eines aber wurde mir schon jetzt aus den Andeutungen des Wiedergeborenen klar: Von „Familie“ konnte derjenige nicht sein, welcher zu einer „kinderreichen“ Familie gehörte, die zwei Sprößlinge daheim zu hüten hatte. Die kinderreichen Familien bildeten somit die „untere Klasse der Gesellschaft“, obwohl dieses Wort „untere Klasse“ recht sinnlos klang für eine Welt, von der B.H. im selben Atemzuge behauptete, sie kenne keine ökonomischen noch sozialen Unterschiede. Immerhin verschwieg er mir nicht, daß sich das monopädische Patriziat mit den „Kinderreichen“ nicht vermische.

      Ich hatte rasch kapiert, welche hohe Bedeutung der Ehe in dieser Welt innewohnen mußte. Sie schien sich beinahe zur Höhe der sakramentalen Heiligkeit zu erheben, wie sie die katholische Kirche lehrte, die eine von den zwei Erscheinungen aus den Anfängen war, denen ich hier begegnen sollte. (Die zweite wird zur rechten Zeit verraten werden.) Was die Vereinigung von Mann und Weib betraf, so blieb viel weniger der freien Liebeswahl überlassen als in dem liberalen Zeitalter meines früheren Lebens. Wieder einmal berührten sich die äußersten Gegensätze, indem die Mentalen dieser fernsten Zukunft in dieser Hinsicht es nicht anders hielten als die mythischen Bauern des verschollensten Altertums. Schon dem zehnjährigen Knaben wurde die rechte Braut zugeordnet. Die Wahl war im hohen Grade vorherbestimmt durch gewisse äußere Zeichen und innere Eigenschaften der Kinder. Unter äußeren Zeichen verstehe ich auch jene Hinweise, welche von den Sternen herabgelangten. In den abgelaufenen Weltepochen hatte sich das Verhältnis des Menschen zum Sternenall radikal verändert. Ich muß mich energisch zurückrufen, um nicht schon an dieser frühen Stelle von der gewaltigsten meiner Reiseerfahrungen zu sprechen, welche auf dem neuen Verhältnis der astromentalen Menschen zum Sternenall beruht. Sie verstanden genauer, als wirs uns erträumen können, wie sehr sich jeder Punkt im Kosmos auf jeden Punkt im Kosmos bezieht, und wie unbedingt von diesem lückenlosen Beziehungsgewebe alles Irdische abhängt. Das Wort „Horoskop“ ist viel zu plump, es klingt in unsern Ohren viel zu sehr nach mechanisch-dilettantischer Wahrsagerei, um jene sideralen Subtilitäten und Finessen auch nur anzudeuten, unter deren Hut man die heranreifenden Gatten körperlich, seelisch und moralisch stellte. Ihr Aufenthalt wurde danach geregelt, ihr Unterricht, ihr Spiel, ihr Vergnügen, ja ihr Schlaf. Nur dreimal durften Jüngling und Jungfrau einander an bestimmten Lebenswenden begegnen, ehe das Verlöbnis geleistet wurde. Es waren drei Proben, um zu ermitteln, ob etwa ein heimliches Widerspiel, eine verborgene Antipathie, eine unvermutete (sternbedingte) Wegwendung das feine Verbindungswerk zu stören drohe. Solche Mißverhältnisse traten dann und wann zutage, worauf die Bindung sofort gelöst wurde, und die Welt etwas zu klatschen hatte. Besser, sie hatte jetzt etwas zu klatschen als später, was soviel heißen will, daß trotz aller Vorsichtsmaßnahmen auch in der astromentalen Welt Liebestragödien, Ehebrüche, ja sogar Scheidungen vorzukommen pflegten, wenn sie auch unvergleichlich tieferes Leiden verursachten als in der unseren. Ging jedoch alles gut, so mußte nur der dreiunddreißigste Geburtstag des Bräutigams abgewartet werden, an welchem der Mann das gesetzlich vorgeschriebene Reifealter erreichte. Die Stunde der Vermählung war gekommen. Dieser Stunde gingen freilich Monate der inneren Vorbereitung voraus. Sie bestanden aus Belehrung, Betrachtung, Selbstprüfung, kurz aus psychologisch-moralischen Exerzitien, denen die Brautleute, jedes für sich, unterworfen wurden, um sie für das Opfer an Persönlichkeit geschmeidig zu machen, ohne das eine echte Ehe nicht zu denken ist. Waren diese Exerzitien zur Zufriedenheit der Prüfenden und Geprüften beendet, so folgte die eigentliche Festeszeit, die hohe Zeit im wahren Wortsinne, die drei Tage umfaßte, von denen der weit größere Teil im Brauthause, der kleinere in der Öffentlichkeit gefeiert wurde. Die Trauung fand zur Mittagsstunde des dritten Tages statt.

      Die Erwähnung dieses Stundenplans ist unerläßlich, bildet er doch den Rahmen meines kurzen aber ertragreichen Aufenthaltes in einer Zukunft, von der ich mir nie hatte etwas träumen lassen. Um seinetwillen war ich gezwungen, den annoch dürftigen Fluß dieser Erzählung so nahe der Quelle zu unterbrechen. Ich verspreche aber bereits hier, daß ich ungleich andern reisenden Pedanten, weder durch Karten, Kroquis noch sonstige Abbildungen der freien Auffassung meiner phantasievollen Leser den geringsten Zwang antun werde.

      „Es ist heute der erste Tag des Hochzeitsfestes von Io-Do und Io-La“, sagte B.H., indem er die Gartenpforte vorsichtig hinter sich schloß. „Den Vormittag hast du leider schon versäumt.“ Nach diesen Worten setzte er sich langsam in Bewegung. Ich stand noch immer breitspurig still auf meinen unsichtbaren, aber festen Beinen. Nicht ohne Trotz stellte ich die Frage:

      „Was habe ich eigentlich bei dem Hochzeitsfest des ausgezeichneten Paares Io-Do und Io-La zu suchen?“

      „Du bist doch eine besondere Ehrengabe, F.W.“, versetzte mein Freund, ohne sich umzudrehen, „verstehst du das nicht?“

      Ich verstand. Die Erscheinung eines


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