Die Sache, die man Liebe nennt. Lise Gast
Читать онлайн книгу.also etwas »Richtiges«. Er verdient so viel, daß er jederzeit heiraten kann. Er war für mich immer der Typ des Mannes, den man nicht heiratet: bieder, zuverlässig, älter als ich, in keiner Weise aufregend, aber auch nicht langweilig. Sehr lobenswert in seiner Bemühung, meine Interessen zu teilen, jedenfalls solange sie sich in einem Rahmen halten, den er akzeptieren kann. Wenn ich fand, daß man ohne Schilaufen nicht leben könnte, schaffte er sich Schier an, und als ich plötzlich zu einer eifrigen Konzertbesucherin wurde, weil ich den hiesigen Dirigenten so hinreißend finde – aus der Ferne, versteht sich; wann hätte ein Dirigent sich je für eine kleine Fotojournalistin interessiert –, so entdeckte er gutmütig sein musikalisches Gehör. Nur beim Reiten – also da konnte er nicht mit und wollte auch gar nicht.
»Man muß nicht von allem haben wollen«, erklärte er rundheraus und in einem, wie ich zugeben muß, durchaus männlichen und überraschend unwiderruflichen Ton. »Pferde sind gefährliche Tiere, die dem Reiter nach dem Leben trachten, so steht es in mancher Reithalle angeschrieben, und ich möchte weder mich selbst noch meine Frau eines Tages gelähmt oder verkrüppelt erleben. Schilaufen genügt mir. Diskussionen erübrigen sich. Basta.«
Diese kurze Ansprache an sein Volk, das in diesem Augenblick von mir verkörpert wurde, imponierte mir mehr, als ich im Augenblick zugeben mochte. Jochen ist ein Mann, nehmt alles nur in allem. Na schön.
Vom Schilaufen hat er übrigens einmal einen Satz geprägt, über den ich so lachen mußte, daß ich kopfüber in eine Schneewehe fiel, wo es gar nicht nötig war: »In der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts erfanden die Menschen eine Selbstfolterung. Sie banden sich lange Hölzer unter die Füße und fuhren damit so lange bergab, bis sie Nasen- und andere Beine brachen und in der Sonne – und in Gips – liegen mußten, bis der Urlaub vorbei war. Warum eigentlich nicht gleich ohne Gips in die Sonne?«
»O Jochen, das verstehst du nicht«, sagte ich, während ich mir den Schnee aus dem Pulloverkragen grub, erst hinten und dann vorne, wobei Jochen Stielaugen bekam vom Zusehen, soweit man bei ihm von solchen reden kann. Jochen ist überaus korrekt. »Du bist ein Mensch, zu dem Hugo Wolf und Fontane passen, Kremserfahrten und eine Badeanstalt ohne Familienbad. Kein Wort gegen solche Menschen. Sie sind liebenswerte Fossilien. Gib mir einen Kuß, Fossil!« Das tat er, und gar nicht einmal ungeschickt.
»Was verstehe ich nicht?« fragte er hinterher. Ich hatte schon wieder vergessen, worüber ich doziert hatte – Grund: dieser überraschend geschickte Kuß. Daran erinnert, murmelte ich, er werde es schon noch einsehen, und begab mich zum Lift. Es war mein letztes Geld, das für das Abonnement dieser Himmelfahrt draufging, aber wenn man doch nun einmal hier war! Und außerdem gab es ja Jochen, der einen nie verließ.
Nicht etwa, daß ich ihn ausnützte. Aber man könnte ihn anpumpen, schon das beruhigte. Man kann auch bei ihm heulen, wenn einem ein Streifen oder eine Liebe oder ein ganz großer Plan schiefgegangen ist. Er lädt einen dann in ein Café oder ins Kino ein, anschließend ans Tränentrocknen, und dann berappelt man sich wieder, bedankt sich und geht aufs neue an die Arbeit oder zum nächsten Rendezvous. So hatten wir es immer gehalten, nicht nur ich, sondern auch Renate und Carla und Tanja, die eigentlich Trude heißt, aber Trude darf man ja heute nicht mehr heißen, wirklich nicht.
»Bei Jochen kann man so schön feensen«, hatte Carla einmal gesagt, deren Eltern aus Sachsen stammen – dort nennt man es also so. Ich habe auch schon bei Jochen gefeenst.
»Lex, sei vernünftig! Mal den Deubel nicht an die Wand«, mahnte Uli.
Diese ganzen Gedankensprünge waren rasend schnell durch mein Herz und Hirn galoppiert, ich hatte gar nicht wahrgenommen, wie schnell. Mein Satz »Ich heirate!« stand, fünfmal unterstrichen, sozusagen noch im Zimmer. »Wer spricht hier von Teufel. Jochen ist keiner, Jochen ist ein Engel!« sagte ich wütend, sie absichtlich falsch verstehend. »Jochen ist der Inbegriff eines Mannes, der einen glücklich machen kann.«
»Eines Mannes – eben«, sagte Uli und machte die Kerze auf ihrer Couch, um ihr morgendliches Hundertmal-Radfahren-in-der-Luft zu beginnen. Sie macht das, um den Kreislauf anzuwerfen. »Männer sind keine Teufel. Sie sind etwas viel Schlimmeres: eben Männer. Völlig ichbezogen. Und daher langweilig. So langweilig, daß du lieber im Beruf bleibst oder dahin zurückkehrst. Oder bist du der Meinung von Lieschen Müller: ›Mann ist Mann, und wenn er im Bett sitzt und hustet‹? Dann hättest du dich aber stark verändert auf –«, sie stoppte ab.
»Auf meine alten Tage, wolltest du sagen«, vollendete ich betrübt. »Sprich es nur aus. Mein kleiner Neffe – wenn man schon von kleinen Neffen erzählt! – sagte neulich zu mir, als ich mit guter geschauspielerter Spannung über sein Kasperltheater hinüberguckte: ›Tante Lex, du hast einen Hals wie eine Schildkröte, so lang und so neugierige.‹ ›Und so faltig‹, hat er taktvoller Weise weggelassen. Ich stellte es selbst fest, als ich kurz danach in den Spiegel guckte, allein gelassen von ihm einer jüngeren weiblichen Spielkameradin wegen. Und da soll man nicht heiraten, ehe es zu spät ist?«
»Nein, du sollst nicht heiraten, weil«, beharrte Uli, erbittert in der Luft radfahrend. »Alle Weil-Heiraten gehen schief. Weil er fertig ist, weil ich es satt habe, mich mit Zeitungsonkels herumzuschlagen, weil wir jetzt eine Wohnung kriegen könnten, weil Carla am zehnten heiratet, und sie ist doch nur halb so hübsch wie ich. Weil –«
»Weil ich ihn liebe?« vollendete ich ihren angefangenen, abrupt abgebrochenen Satz. »Ist das auch ein Grund dagegen?«
»Wer hat hier von Liebe gesprochen?« fragte Uli und zählte weiter. »Zweiundsiebzig, dreiundsiebzig –«
»Du. Oder doch beinah.«
»Eben. Beinah nur. Weil ich ihn liebe, das ist ein Grund zu heiraten. Der Grund. Der einzige. Für die Dummheit zu heiraten gibt es nur eine einzige Entschuldigung – diese. Die Sache, die man Liebe nennt. Verstehst du? Hundert.« Sie ließ die Beine in die Waagerechte fallen.
»Hm. Aber die Liebe ist ja da. Bei ihm jedenfalls«, sagte ich.
»Schön. Für ihn also ein Grund. Und bei dir?«
»Bei mir? Also, ich könnte mir sehr gut vorstellen –«
»Wenn du schon so anfängst. Du könntest dir vorstellen, daß jemand, der ganz anders ist als du und anders denkt und anders handelt und anderes anstrebt, ihn lieben könnte. Und – so sagten wohl unsere Urgroßmütter, wenn es ums Heiraten ging: Warte nur ab, die Liebe kommt mit der Ehe. Stimmt’s?«
»Ungefähr.«
»Du liebst ihn also nicht? Oder noch nicht? Oder hast ihn sehr gern? Oder schätzt ihn? Herrje, wie viele Vokabeln gibt es, um die eine, wichtige auszustechen –«
»O Ulrike, du legst auch immer den Finger auf die wundeste Stelle, geradezu brutal«, murrte ich.
»Du liebst also, im besten Falle, seine Eigenschaften«, beharrte Uli unbeirrt.
»Mag sein.«
»Dann laß die Finger davon.«
»Aber diese Eigenschaften behält er doch –«
»Wahrscheinlich. Hoffentlich. Nehmen wir es einmal an. Trotzdem – liebe Lex, ich will durch ein Gleichnis mit dir sprechen. In Gleichnissen kann man vieles klarmachen. Du hast also bereits Neffen und Nichten. Da man diese zu beschenken pflegt, wirst du wohl einigermaßen darüber informiertsein, was der heutige Wohlstandsstaat im Jahrhundert des Kindes zu bieten hat. Ich spreche von Spielsachen. Neulich sah ich mich in einem einschlägigen Geschäft um. Da entdeckte ich amerikanische Puppen. Sie konnten weinen, sprechen, essen und sogar naßmachen. Sie besaßen also sozusagen alle Eigenschaften eines Babys. Kannst du dir vorstellen, daß du solch ein perfektes Abbild auch nur annähernd so lieb haben könntest wie ein warmes, süßes, eigenes lebendiges Baby? Sag!«
»Natürlich nicht. Ich bin ja auch kein Kind. Kinder –«
»Kinder lieben bekanntlich die primitivsten Puppen, denen ihre eigene Phantasie und ihre phantasiereiche Liebe Leben einhaucht, mehr als solche Ansammlungen von Eigenschaften. Jeder Mensch bleibt in einem Punkt ein Kind. In dem nämlich, wo sein Herz sitzt. Da ist er unlogisch, leidenschaftlich, eigensinnig,