Annke - Kriegsgeschichte eines ostpreussischen Mädchens (1914-1918). Alfred Hein
Читать онлайн книгу.hier „Russki“ wären.
Die Kinder schrien auf, flüchteten aus ihren Bänken hinter die Tafel, der Vater aber strich sich ruhig wie immer seinen Bart und schüttelte mit dem Kopf.
Der Kosak lächelte. Wie ein guter Mensch! Annke, die hinter dem Schrank hervorschielte, sah es mit Verwunderung. Bisher hatte sie in ihrer kindlichen Vorstellung geglaubt, dass diese Kosaken ebensowenig lächeln können wie jene Wölfe, die manchmal im Winter sich aus dem ewigweiten Russland über die Grenze verirrten. Nun wusste sie, auch diese waren Menschen. Und ihr kleines Hirn wollte es nicht fassen, warum sich Menschen, die im Grunde ihrer Seele gutmütig lächeln können, hassen und zerfleischen.
Als sie den Vater beim Mittagbrot fragte, sagte er: „Das versteht ein kleines Mädchen nicht. Krieg ist Männersache.“
„Wo mögen die Kosaken sein?“
„Hoffentlich haben sie die Badenser Dragoner abgeknallt, die gleich hinterher kamen,“ sagte Bernhard mit Genugtuung. Und der Bruder machte mit kriegerischem Gesicht nach, wie man das Gewehr an die Backe reisst und zielt.
„Auch den, der gelächelt hat?“
„Was das Mädel bloss für Sorgen hat — da verwüstet die Bande unsere ostpreussischen Wälder, vertreibt Hunderttausende von Haus und Hof, und sie sorgt sich um einen Kosaken.“
Annke schwieg. Sie fühlte sich nicht verstanden. Niemals vergass sie den lächelnden Kosak.
So kam langsam Weihnachten heran. Lange lagen schon die bösen unruhigen Wochen zurück, in denen einer dem anderen voll Sorge zuflüsterte, dass die deutsche Armee hinter die Weichsel zurückgegangen war. In wenigen Tagen hatte sie Hindenburg wieder vorwärts geführt, und während das grosse Heer des Generals Rennenkampf kurz vor Königsberg sich zur Belagerung der ersten Forts anschickte, vernichtete er, seinen Gegner fest in die Zange seiner kühnen, gegen dreifache Übermacht vordringenden Regimenter nehmend, zwei russische Armeen mit einem Schlag.
Das war ein Siegesjubel auch in Rosillen, dem kleinen Dorf am Kurischen Haff, als es hiess: die Russen waren geschlagen und vertrieben. Ja, das Bild des grossen Generals, der in jenen Tagen, da man Ostpreussen verzagt der Übermacht der russischen Dampfwalze preisgab, bewies: nur Mut, Entschlossenheit und ein klarer Kopf führen den, der auf Gott vertraut, zum Ziel, und das Bild dieses geraden, schlichten ostpreussischen Heldenführers hing nun auch in der Schulstube von Rosillen. Die Kinder standen oft davor, der Vater konnte nicht genug von dem Retter Ostpreussens erzählen. Dass ihn der Kaiser schon pensioniert hatte und erst wieder zum Heerführer machte, als man in höchster Not einen entschlossenen General brauchte. Dass es nur zwei Schlachten noch in der deutschen Geschichte gäbe, die ebenso kühn und vernichtend dem Gegner die Entscheidung abrangen: Leuthen und Sedan.
Als der Vater fragte, wer in diesen beiden Schlachten gesiegt hatte, da waren die grossmäuligen Jungens, die sich alle schon als kleine Hindenburgs zu fühlen schienen, plötzlich kleinlaut. Nur eine wusste zu antworten:
„Friedrich der Grosse und Generalfeldmarschall von Moltke.“
Und das war Annke. Der Vater lobte sie zwar, doch als Sachverständige in Kriegsdingen wurde sie trotzdem nie angesehen. Was sie oft tief kränkte. Sie beklagte sich bei der Mutter. Doch die meinte, ob Krieg oder Frieden, eine Frau gehört ins Haus. Da ist ihr Reich, da ist ihr Feld der Ehre.
Zwei Tage vor Weihnachten — Bernhard und die beiden jüngeren Brüder waren, Axt und Säge geschultert, in den Wald ausgezogen, um mit Erlaubnis des Gutsbesitzers einen Weihnachtsbaum zu holen — bekam Vater zwei Briefe. Der eine war von Onkel Adalbert, der in Masurens Wäldern Förster war und von seiner Rückkehr berichtete. Auch er hatte mit seiner Familie flüchten müssen, sie wurden bis nach Pommern transportiert.
„— wie sieht alles furchtbar aus. Die Wälder verbrannt, viel hundertjährige Eichen sind nun auch ein Opfer des Krieges, die Wege zerfurcht von den Rädern der schweren Kanonen, fortgeworfene Waffen liegen noch da und dort im Strassengraben, manchmal ragt aus einem Ackerfeld spitz eine nicht explodierte Granate heraus — als wir durch die Stadt Ortelsburg fuhren, erkannten wir sie nicht wieder.
Die Hauptstrasse entlang reiht sich Ruine an Ruine. Fast alle ohne Dächer. Die Vorderwände aufgerissen. Hier steht einsam ein von den Granaten und Feuersbrünsten verschontes Kinderbett, dort hängt zum Fenster hinaus ein durch den Luftdruck der Explosion geschleuderter Tisch. An einem anderen Haus weht hoch droben am geborstenen Giebel eine Decke oder ein Laken oder sonst etwas, das in dem Aufruhr der Zerstörung sich hier verhakte.
Als wir heimkamen, da fanden wir unser schönes stilles Forsthaus zwar noch unzerstört, aber besudelt und unordentlich wie ein Zigeunerlager vor. Ich will es nicht näher schildern. Nur eines: Im kriegerischen Übermut hat man uns sämtliches Geschirr zerschlagen, auf die Bilder an der Wand wie nach einer Zielscheibe geschossen, und die Puppen unserer kleinen Lisa, die die Flucht gut überstanden hat, lagen von vielen Kugeln durchbohrt auf dem Rasen unseres Gärtchens, wo natürlich auch alles zertrampelt ist. Doch diesen Übermut im ersten Siegesrausch hat Hindenburg an den Russen ja für immer gerächt. Wir sind gleich an die Arbeit gegangen, hilfreiche Hände steuerten das Notdürftigste an Gerät und Möbeln wieder bei, und so hoffen wir auf eine gesegnete Kriegsweihnacht —“
Die Mutter stöhnte leise auf, als der Vater den Brief vorgelesen hatte: „Morgen kann es uns so gehen —“
„Aber, Mutter, wer wird solche Grillen haben —“ wehrte der Vater ab, der immer guten Mutes in die noch so dunkle Zukunft schaute. „Nun wollen wir hören, was Kurt in Frankreich macht.“ Der Bruder schrieb, dass es ihm im Schützengraben gut ginge und dass sie hoffen, es wird die erste und letzte Weihnacht im Felde sein. Freilich kämen sie seit Wochen, da sie sich eingegraben hatten, nicht mehr vorwärts. Aber nirgends gelänge es auch den Franzosen, sie zurückzudrängen. Das Kampfziel Paris sei allerdings vorläufig unerreichbar.
„Was ist das — ein Schützengraben, Vater?“ fragte Annke, die in einer grossen Schüssel Kuchenteig rührte und zugleich mit dem Fuss den Wagen hin und her schob, in dem Peterli, das jüngste Brüderchen, lag.
„Im Westen haben sich die Franzosen und Engländer mit den Deutschen so fest im Nahkampf verbissen, dass es weder vorwärts noch rückwärts geht. Keiner will weichen. In solcher Lage graben sich die Soldaten in die Erde ein. Von der belgischen Küste bis zu den Alpen ist heute quer durch Nordfrankreich ein Netz von Wehr- und Laufgräben gezogen, in denen die Soldaten aus sicheren Deckungen einander beschiessen.“
„Und wenn es nie mehr vorwärts geht? Wird dann gekämpft, bis der letzte Soldat in seinem Versteck getötet ist? Dann dauert dieser Krieg hundert Jahre —“
„Mädel —“ erschrak der Vater. „Wie schwarz du immer siehst — aber mir gefällt dieses Erstarren der Front im Westen auch nicht — das deutet auf einen längeren Kampf, als wir erwartet haben —“
Nun war Weihnachten da. Und wenn sie Bruder Kurt nicht im Felde gewusst hätten, wäre es ein unbekümmert seliges Fest wie immer gewesen. Denn rundum erfüllte seit Wochen wieder Friedensstille das Land. Der Landsturm, die ostpreussische Grenzwacht, stand viele Kilometer weit auf russischem Gebiet.
Der Lichterbaum erglänzte, die schönen, heiligen Lieder erklangen, und als der Vater die Weihnachtsgeschichte vorlas, da hatte diesmal das „Friede auf Erden“ einen besonders beschwörenden und wiederum auch sehnsüchtigen Klang.
Annke nahm das Babybrüderchen auf den Arm und hielt es in den Kerzenglanz des buntbeflitterten, silberglitzernden Weihnachtsbaumes.
Da lächelte das Brüderchen zum erstenmal in seinem Leben. Ein so von allen Sorgen und Nöten der Welt unbekümmertes Lächeln —
Die Mutter rief an den Gabentisch. Für die Jungens war natürlich ein ganzes Bataillon Bleisoldaten aufmarschiert mit einem richtigen Hindenburg als Anführer.
Auch Kosaken hatten sie. Und Annke musste wieder an das Lächeln des einen, der zum Schulfenster fragend hereinschaute, denken. Wo mag der jetzt auf seinem kleinen Schimmel dahinrasen oder ruhen — in einem Massengrab?
Annke bekam Andersens Märchen