"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer

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      Danach gab es noch Nachtisch, eine Portion süßen, dampfenden Gugl.

      »Ein königlicher Guglhupf«, sagte Großmutter stolz.

      »Und du bist die Königin«, hörte ich meine Mutter murmeln.

      Der Guglhupf war mit Rosinen und Walnüssen gespickt. Zu Pessach wurde er mit Äpfeln und Matze serviert. Meine Großmutter goss noch Honig über die Masse. Es schmeckte einfach köstlich.

      Als wir fertig waren, nahm Großvater wieder sein Gebetbuch und begann, Psalmen zu lesen und zu singen. Die Kinder aber baten Großmutter, ihnen eine Schabbat-Geschichte zu erzählen. An eine kann ich mich lebhaft erinnern:

      Es war einmal ein Jude namens Nachum, der an einem Freitagnachmittag über den Markt ging. Neugierig schaute er nach allen Seiten, nichts entging seinen Blicken. Er kannte jeden, und alle kannten ihn. Man erkundigte sich nach seiner Gesundheit, und Nachum antwortete, dass es ihm – »Gott sei Dank« – gut gehe. Dabei wandte er den Kopf ab, denn er wollte nicht, dass man sein Gesicht sah. Alle wussten, dass er eine schwere Krankheit hinter sich hatte. So schlenderte er über den Platz und beobachtete das lebhafte Treiben. Als er am Fischladen vorbeikam, rief der Händler: »Nachum, warte einen Augenblick!«, und schon war er im Laden verschwunden. Nachum blieb stehen und wartete. Bald kam der Fischhändler zurück und drückte ihm ein Päckchen in die Hand.

      »Gut Schabbes«, wünschte er Nachum und ging in seinen Laden zurück.

      »Gut Schabbes. Gott vergelte es dir«, sagte Nachum. Er schämte sich. Jetzt hatte er es eilig, nach Hause zu kommen. Als er beim Bäcker vorbeikam, kaufte er sich mit den letzten Groschen zwei Schabbat-Brote. Dann rannte er nach Hause. Als er in die Stube trat, saß seine Frau mit gefalteten Händen wartend auf der Bank.

      »Ich bring dir Fisch und Challa. Bereite den Schabbat vor«, rief er glücklich.

      »Gott ist barmherzig«, sagte seine Frau und rang die Hände.

      »Beeil dich, Frau! Der Schabbat steht vor der Tür«, sagte Nachum.

      Beile, so ihr Name, machte sich sofort an die Arbeit. Der Fisch war ein Hecht. Beile entschuppte ihn, schnitt ihn auf und nahm die Eingeweide heraus. Da fiel ein Stein auf den Tisch. Sie nahm ihn und betrachtete ihn. »Nachum, ein Brillant!«, rief sie.

      »Ein Brillant?«, rief er ungläubig. Er mochte seinen Augen nicht trauen. Sprachlos starrten sich die beiden an.

      »Beile, mach weiter. Wenn der Schabbat vorbei ist, bringe ich den Schatz zum Fischhändler«, sagte Nachum zu seiner Frau. Sie war einverstanden, und sie feierten einen glücklichen Schabbat.

      Die größeren Kinder verstanden die Moral der Geschichte und klatschten, die kleineren machten es ihnen nach.

      Inzwischen war es Zeit für die Hawdala, die Trennungszeremonie, die den Schabbat abschließt. Ich wusste, dass jetzt eine ganze Woche, sieben lange Tage, bevorstanden, bis ich meinem Großvater wieder so nah kommen würde.

      Unvergessen sind mir Pessach und die Sederabende geblieben, die bis spät in die Nacht dauerten. Die Inbrunst, mit welcher Großvater die Gebete sprach, den Wein segnete und den erwarteten Propheten Elijahu begrüßte, prägten mein kindliches Gemüt. Es nahm das alles auf, als wäre es etwas, das mit dem täglichen Leben unmittelbar zusammenhängt und keineswegs ins Metaphysische entrückt war. Ich liebte Pessach nicht nur wegen des köstlichen Essens, sondern besonders wegen der unterhaltsamen Zeremonie voller Geheimnisse und Märchen, wegen des erhofften Besuchs des Propheten Elijahu (der natürlich nie kam), und nicht zuletzt wegen der Freude über den Sieg über die Ägypter. Auf dem Tisch stand immer ein volles Glas Rotwein für den Propheten, das bis zum Schluss der Zeremonie voll blieb und am Ende von Großvater ausgetrunken wurde. Pessach war auch ein Fest, an dem wir Kinder teilnehmen konnten und sollten, insbesondere um die versteckte Matze zu suchen. Und vor allem war es ein Fest, das zu Hause gefeiert wurde und nicht in der Synagoge.

      Es gibt für Juden kein schöneres, emotionaleres und gemütlicheres Fest als Pessach. Man begann mit den Vorbereitungen schon einige Tage vor dem ersten Festtag, dem Sederabend, mit der Aussonderung aller für Pessach nicht geeigneten Lebensmittel. Wir Kinder durften dabei helfen. Die verpackten Lebensmittel, auf denen »Kosher für Pessach« stand, verblieben in der Küchenkammer, alle anderen wurden »verkauft«. Nicht alles, was sonst als koscher gilt, ist auch zu Pessach koscher. Da gelten andere Vorschriften, die so kompliziert sind, dass sie ein nicht religiöser Jude meist nicht versteht.

      Das mit dem »Verkaufen« war natürlich ein Trick, ein Schwindel. Jede Familie hatte ihren Goi, der für einen Groschen alles, was Pessach nicht erlaubt war, aufkaufte. Somit gehörte es nicht mehr uns und konnte bleiben, wo es lag. Nach dem Fest wiederholte man diesen Handel in umgekehrter Folge. Man gab dem Goi den Groschen zurück und war wieder im Besitz seiner Lebensmittel.

      Nachdem diese merkwürdige Zeremonie vorüber war, mussten wir sämtliche Küchenutensilien, Teller, Tassen, Messer, Gabel, Löffel, Kochtöpfe, Pfannen und sonstigen Gefäße, die wir im täglichen Leben benutzten, in den Keller schaffen, wo auch das gesamte Schabbat-Geschirr untergebracht war. Ein strenggläubiger Haushalt hatte von allem jeweils drei Exemplare, für die Wochentage, für den Schabbat und für Pessach. Das für Pessach vorgesehene Geschirr wurde gereinigt und in die gute Stube geschafft, was von Großmutter alles genauestens überwacht wurde. Das Pessach-Geschirr durfte – Gott behüte! – unter gar keinen Umständen mit dem gewöhnlichen Geschirr und auch nicht mit dem Schabbat-Geschirr in Berührung kommen.

      Als das erledigt war, was in der Regel zwei Tage beanspruchte, wurde das ganze Haus gereinigt, um auch das allerkleinste Körnchen Chamez zu entfernen. Danach begann man mit dem Backen der Matzen, die man bei der Sederabend-Zeremonie und auch während der sieben Tage des Festes verzehrte, bis sie einem zum Halse raushingen und man sich nach einem echten Roggenbrot sehnte. Heute kauft man, wenn man in Israel oder in einer jüdischen Umgebung lebt, die Matzen im Supermarkt. In Deutschland, wo nach dem Krieg nicht mehr so viele Juden lebten, haben die jüdischen Gemeinden das Verteilen von Matzen in Paketen organisiert. Als ich noch Kind war und im Haus meines Großvaters lebte, oblag es jeder Familie, die benötigten Matzen selbst zu backen. Bei einer so großen Familie wie der unsrigen hat es zwei, manchmal drei Tage gedauert. Die fertigen Matzen wurden dann vorsichtig herausgeholt, damit sie ja nicht brechen, in einer trockenen Ecke der Wohnung gestapelt und dort mit einem Leinentuch zugedeckt. Alle diese Arbeiten wurden in einer feierlichen Atmosphäre verrichtet, wie sie in allen jüdischen Häusern der Stadt herrschte.

      Endlich kam der ersehnte Tag, und nach dem Abendgebet begann der Seder, das Abendmahl. Auf Hebräisch bedeutet Seder übrigens Ordnung, und genauso verläuft auch der Abend, nach einer seit Jahrhunderten festgelegten Ordnung, in vorgeschriebenen Schritten. Bevor es losgeht, muss der Sederteller gedeckt und die anderen Zutaten vorbereitet werden: Matzen und sechs weitere Bestandteile in einer im Hinblick auf ihre mystische Bedeutung und ihre Beziehung untereinander vorgegebenen Anordnung. Dann legt man drei ganze Matzen übereinander und bedeckt sie mit einem Tuch. Darauf wird ein gebratener Hähnchenknochen gelegt, von dem das Fleisch entfernt war. Er soll das Pessachopfer symbolisieren und wird natürlich nicht gegessen. Drum herum legt man ein hart gekochtes Ei, geriebenen Meerrettich, Charosset – eine aus Äpfeln, Birnen und Wein hergestellte Paste –, ein Stück Gemüse und weitere bittere Kräuter, die an das bittere Leben der Israeliten in Ägypten erinnern sollen. Jeder der Anwesenden benötigt einen Weinbecher und eine Schale mit Salzwasser. Wenn ich sage »jeder«, dann meine ich nur die Erwachsenen. Die Kinder waren mit anderen Aufgaben beschäftigt. Zu den Erwachsenen gehörte aber auch jedes Jahr ein Gast, den Großvater von der Synagoge mitgebracht hatte.

      Fremde Juden, die in der Stadt hängen geblieben waren, warteten vor dem Bethaus, um von einheimischen Hausbesitzern eingeladen zu werden, und es war eine religiöse Pflicht, sozusagen eine gute Tat, einen Gast zum Seder mitzubringen. Auch in Deutschland pflegte ich, die Sederabende für meine Familie zu zelebrieren und nahm auch die Tradition auf, Gäste einzuladen. In der Regel waren es nichtjüdische Kontakte aus meiner verlegerischen Arbeit oder auch Freunde meines Sohnes Abraham. Diese


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