"Ich habe neun Leben gelebt". Joseph Melzer

Читать онлайн книгу.


Скачать книгу
konnte die Zeremonie beginnen. Mein Großvater füllte den Weinbecher bis zum Rand mit süßem Rotwein und sprach den Segen, den Kiddusch. Danach ging er die Hände waschen. Sie müssen gesäubert sein von den Unreinheiten eines Lebens in der materiellen Welt. Danach nimmt er ein kleines Stück Gemüse aus der Schale, tunkt es ins Salzwasser und spricht dabei den Segen für Gemüse. Alle erwachsenen Teilnehmer machen es ihm gleich. Er nimmt die mittlere der drei Matzen vom Sederteller, bricht sie entzwei und lässt das kleinere Teil liegen. Das größere Stück bricht er in fünf Teile und wickelt sie in ein Tuch. Laut der Kabbala wurde die Welt durch fünf Aspekte des Lichts erschaffen, und darauf bezieht sich dieser Brauch. Das Päckchen mit den fünf Stücken wird bis zum Ende des Seders versteckt. Das machen die Kinder, und sie freuen sich und rennen mit Geschrei in alle Richtungen. Die Erwachsenen mussten später das Paket suchen. Jedenfalls hielt uns die Spannung, wer die Matzen finden würde, bis zum Ende des Mahls wach, denn die Zeremonie dauerte noch lange.

      Der zweite Becher wurde gefüllt, und wir Kinder wurden aufgefordert, die Frage zu stellen und die vier Antworten zu geben. Das war für uns Kinder der Höhepunkt des Seders. Es konnten nur fünf Enkel mitmachen. Einer, der die Frage stellte, und vier, die die Antworten gaben. Es gab aber mehr als doppelt so viele Enkel. Großvater bestimmte, wer die Frage stellen und wer die Antworten vortragen durfte. Ich, als Lieblingsenkel, war immer dabei.

      Meistens stellte ich die Fragen: »Warum ist dieser Abend anders als andere Abende?«, lautete die erste Frage.

      Und die Enkel antworteten einer nach dem anderen.

      »An allen Abenden essen wir entweder Brot oder Matze, heute nur Matze«, sagte der erste. »An allen Abenden essen wir alle möglichen Kräuter, aber an diesem Abend nur bittere«, sagte der zweite. Und der dritte folgte: »An allen anderen Abenden stippen wir gar nicht, an diesem Abend gleich zweimal.« Dann kam der vierte dran: »An allen anderen Abenden essen wir entweder sitzend oder angelehnt, aber an diesem Abend nur angelehnt. Früher durften nur die Freien so essen. Indem wir heute Abend auch angelehnt essen, zeigen wir, dass wir freie Menschen sind.«

      Nach dieser Unterhaltung begann die eigentliche Haggada, die Erzählung des Auszugs der Israeliten aus Ägypten, der aber in Wirklichkeit eine Flucht war. Und da mein Großvater sich nie wörtlich an den Text der Haggada hielt, sondern immer auch Anekdoten aus dem Leben der Juden in der Gegenwart erzählte, erinnere ich mich an Pessach 1948, kurz bevor wir das Lager in Admont in Richtung Palästina verließen, als ich – Mitglied des Vorstands und Herausgeber der Lagerzeitung – die Ehre hatte, am gemeinsamen Sederabend aller Lagerinsassen, im Beisein von Gesandten aus Palästina, eine Rede zu halten, sozusagen im Rahmen der Liturgie der Haggada, was jedem erlaubt und sogar erwünscht war. Ich sagte: »Meine Brüder und Schwestern, wir lesen die Haggada und erinnern uns an das Wunder des Auszugs aus Ägypten vor 3 000 Jahren. Aber, liebe Anwesende, uns geschah dieses Wunder erst jetzt, vor wenigen Jahren. Auch wir waren Sklaven, einige wie ich bei den Russen und die meisten von euch bei den Nazis. Noch vor kurzem habt ihr nicht daran geglaubt, dass ihr befreit sein würdet. Und dennoch, das Wunder geschah, und heute sitzen wir hier frei und unabhängig, und, so Gott will, werden wir in wenigen Tagen in unser Land aufbrechen, in das gelobte Land Israel. Wir kommen aus der Unfreiheit und marschieren in die Freiheit. So geschehen auch in unseren Tagen noch Wunder.«

      Die Anwesenden weinten. Es war eine traurige Freude. Still und würdevoll saß man im großen Saal und verzehrte die Köstlichkeiten, die uns Juden in Amerika gespendet hatten. Man dachte an die Jahre des Hungers, als jeder von uns für einen Laib Brot bereit gewesen wäre, seinen Nachbarn zu verraten. Und man dachte an die vielen Verwandten und Freunde, die es nicht geschafft haben, diesen Augenblick zu erleben. Danach tranken die Erwachsenen schließlich den zweiten Becher Wein.

      Es wurde eine Schüssel mit Wasser gebracht, und Großvater wusch sich wieder die Hände. Er trocknete sie sorgfältig und nahm dann die übrigen Matzen vom Teller, hob sie hoch und sprach den Segen: »Gesegnet seist Du, Gott, unser Herr König des Universums, der Du Brot aus der Erde hervorbringst.« Matze ist die wichtigste Speise beim Seder, und sie zu essen ist das Hauptgebot bei der Pessach-Zeremonie. Großvater bricht für sich und alle anderen Tischnachbarn ein Stück von der Matze ab und reicht sie herum.

      Es geht weiter: man lobt die Hühnersuppe mit den Matzeknödeln, eine Köstlichkeit. Ich habe den Geschmack noch heute auf der Zunge. Manche Kinder sind schon längst eingeschlafen, und auch die Erwachsenen haben Mühe, ihre Augen offen zu halten. Groß­vater hält aber tapfer durch. Er liest die Liturgie bis zur letzten Zeile. Am Schluss heißt es »Nächstes Jahr in Jerusalem.« Mancher Erwachsener ist inzwischen auch eingeschlafen, und so geht der Abend ruhig und friedlich zu Ende.

      Vor allem hat diese Pessach-Zeremonie mein Dasein als Jude geprägt. Von den religiösen Pflichten habe ich nicht viel gehalten, aber die Feiertage habe ich als Kind geliebt und als Erwachsener respektiert. Das war die eine Seite. Die andere Seite war mein Vater. Im Gegensatz zum Großvater, dessen Bücherregale rabbinische und talmudische Schriften füllten, waren sie bei meinem Vater mit Büchern einer ganz anderen Welt gefüllt, an der ich als Kind keinen Anteil hatte. Ich wurde in diese beiden gegensätzlichen Welten hineingeboren, von der meines Großvaters angezogen, von der meines Vaters verwirrt. Bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges fand ich mich in einer völlig neuen Welt ohne jeden Bezug zur Religiosität meines geliebten Großvaters wieder.

      Als Kind nahm ich das Judentum in erster Linie visuell wahr. Ich sah fast täglich meinen über einen großen Folianten gebeugten Großvater an seinem Tisch, wie er melodisch skandierend den Talmud las, immer wieder, jahrein, jahraus. Ich beobachtete, wie er mit peinlicher Genauigkeit die rituellen Gesetzesvorschriften an sich vollzog, wie er sich am Vorabend des Jom Kippur durch den Synagogendiener 40 Stockschläge als Sühne für etwaige Sünden verabreichen ließ, die er vielleicht unwissentlich begangen haben konnte. Ich erlebte betroffen, wie er das Kol-Nidre-Gebet vortrug und dabei bitterlich weinte und die ganze Gemeinde mit ihm. Er tat dies jedes Jahr. Ich sah, wie er sich den weißen Totenkittel anlegte und in Pantoffeln in die Synagoge ging, denn ein besohlter Schuh hätte seine Demut verringert.

      Es nahte das unheilvolle Jahr 1914. In Kuty verspürte man von der bevorstehenden Katastrophe noch nichts. Zu Hause hielt Großvater die Zeitung in der Hand und sagte: »Der Thronfolger ist ermordet worden. Das bedeutet Krieg.« Großmutter meinte: »Der alte Kaiser Franz Joseph ist 84 Jahre alt, da ist man nicht mehr kriegslustig. Du kannst beruhigt sein.«

      Der Krieg kam aber dennoch.

      Bald nach der Kriegserklärung standen die russischen Kosaken vor der Grenze Galiziens, die an das zaristische Russland reichte. Panischer Schrecken ergriff die Juden Galiziens bei dem Gedanken, den wilden Horden der Kosaken ausgeliefert zu sein. Die Erinnerung an die Pogrome des Kosakenführers Chmielnicki war tief im Gedächtnis fast aller Juden verwurzelt. Ein jeder suchte nach Möglichkeiten, um zu entkommen. Die Reichen benutzten eine Droschke, die weniger Bemittelten Pferde und Leiterwagen, die Armen wanderten zu Fuß los.

      Mein Vater verfügte über einen blinden Klepper, den ihm ein gewitzter Pferdehändler angedreht hatte. Mit letzten Kräften zog das arme Tier den Leiterwagen mit der kinderreichen Familie und den wenigen Habseligkeiten, die man in Eile zusammengepackt hatte. Der vollbeladene Wagen kam nur schrittweise vorwärts, er schlängelte sich zwischen den Kanonen, den Pontons und den marschierenden und reitenden Truppen durch, die in die Gegenrichtung an die Front zogen.

      Mit den flüchtenden Juden zog auch das österreichische Militär teils vorwärts, teils rückwärts, die armen Juden in der Mitte. Mein Vater, ungeübt, mit Pferden umzugehen, schwang die Peitsche und schrie »Wiau, wiau«. Aber das arme Pferd konnte oder wollte nicht vom Fleck. Berittene Offiziere an der Spitze der nachfolgenden Soldaten, denen Pferd und Wagen im Wege standen, schrien und fluchten und versuchten ihrerseits mit gutem Zureden das Pferd zum Weitergehen zu bewegen – auch ohne Erfolg, und so gaben sie auf. Ein diensthabender Offizier verlor schließlich die Geduld, entriss meinem Vater die Peitsche, gab dem Tier einen kräftigen Schlag – und das Pferd setzte sich in Bewegung.

      Es dauerte mehrere Tage, bis wir eine Bahnstation erreichten, wo eine Sammelstelle für die Flüchtlinge eingerichtet


Скачать книгу