Die Faust des Riesen. Band 1. Rudolf Stratz
Читать онлайн книгу.hatte ganz recht. Es war für sie nicht leicht, zu fliehen! Wenn er nicht wollte, wurde kein Pferd aus dem Stall gezogen, um sie und die Kinder auf die Station zu bringen. Es wurden wenigstens tausend Vorwände gemacht und alles so lange verzögert, bis das Unternehmen missglückte.
Um draussen um die Grenzen von Seddelin herumzugehen, brauchte man Stunden um Stunden. Martine sah von ihrem Zimmer aus nur Brakesches Land und Brakeschen Forst, Brakesche Windmühlen und Brüche. Aber sie selber hatte oben im Kästchen ihres Schreibtisches nur noch einige Markstücke liegen. Mehr war nicht da. Man lebte von den Vorräten des Gutes. Brauchte man durchaus Geld, so musste sie Eltern oder Geschwister anborgen, stets in einem neuen Brief das Elend ihrer Ehe enthüllen ...
Ihr Auge fiel auf die zerbrochene Türe. Sie sagte gleichgültig zu der Mamsell, die gerade kam: „Man muss das reparieren! Der Herr hat es in der Eile kaput gemacht!“ Dann ging sie, äusserlich wieder ruhig geworden, hinüber in das Wohnzimmer, wo die andern Damen waren.
Die alte Frau von Brake, Diethers Mutter, sass da am Fenster im Lehnstuhl, schwarz gekleidet, wie immer seit dem Tod ihres Mannes. Sie wandte der Schwiegertochter ihr kummervolles Gesicht zu und frug: „Was war denn das vorhin für ein Lärm?“ Es klang müde, so als sei sie eigentlich teilnahmslos gegen alles, was hier und anderwärts geschah, und ebenso antwortete die junge Frau nur: „Er ist fort! Wieder nach Berlin!“
„Und er fährt mitten durch den Forst,“ sagte Agnete, Diethers Schwester. Sie war schon über die erste Hälfte der Dreissig und vor der Zeit verwelkt. Nur wenn sie einmal lachte, was selten vorkam, konnte man erkennen, dass sie früher mit ihren dunklen Haaren und braunen Augen ein hübsches Mädchen gewesen war.
Die dritte im Zimmer, Frau Hauptmann von Klützow, eine heitere, rosige und elegante Frau, die nur auf ein paar Tage bei ihrer Schwester Martine sich zu Besuch aufhielt, schüttelte den Kopf und meinte:
„Ja, ‚er‘ ...“
Es klang so, als wolle sie als Gast nichts weiter äussern. Sie sah dabei Martine an. Die nahm neben ihr Platz und sagte plötzlich: „Nein, ihr habt nicht recht an mir gehandelt! Ihr hättet mir alles sagen müssen ... damals, ehe ich ihn heiratete ...“
Sie wandte sich an die alte Dame am Fenster.
„Du hättest es mir sagen müssen, Mama! ... Hier in dem Hause — vielleicht gerade in dem Zimmer — hat sein Vater gesessen und hat einen Wechsel in der Hand gehabt, und die Unterschrift war nicht von ihm — die war von Diether gefälscht —, und er hat den Wechsel doch gezahlt und seinen Sohn in der Armee gelassen und ist an den Gewissensbissen krank geworden und gestorben und liegt drüben begraben, und Diether hat den Steinsarg, glaub’ ich, jetzt noch nicht bezahlt. Wenn man mir das erzählt hätte ...“
„Du hättest ihn doch genommen!“ sprach Frau von Klützow resigniert ... „so wie du damals warst ...“
Martine hörte nicht darauf. Sie drehte sich zu ihrer Schwägerin.
„Und wovon ist der Wechsel bezahlt worden? Von deiner Mitgift, Agnete! Und du hast keine mehr gehabt und den nicht kriegen können, den du hast haben wollen, und nun sitzt du da! Dein Leben hat er auch auf dem Gewissen! Warum hast du denn nicht damals gegen mich den Mund aufgemacht und nur ein Wort gesprochen?“
Das verkümmerte blasse Fräulein von Brake antwortete ihr nichts. Auch die anderen Frauen schwiegen und sahen vor sich hin. Mitten in die beklommene Stille klang von ferne her ein schwacher Knall, der Widerhall eines Schusses aus dem Walde, und sie schraken zusammen. Keine sprach ein Wort, alle dachten dasselbe. Endlich versetzte Agnete: „Das muss einer von den Berliner Herren gewesen sein!“
Die „Berliner Herren“ waren die Jagdpächter der Brakeschen Gemarkung. Sie kamen oft herüber. Jetzt im Herbst fast täglich. Der Schuss war gar nichts Ungewöhnliches. Aber ein leises Zittern in den Seelen blieb: „Wenn die Kugel nun ihm gegolten hat!“ ... Die alte Frau von Brake erhob sich unruhig und mühsam, auf ihre Tochter gestützt. Es war die Zeit, wo sie, von einem langen schwarzen Schleier umweht, einen Männerstock in der Hand, ein paar hundert Schritte im Park von Seddelin auf und ab zu gehen pflegte. Jetzt erst beantwortete sie die Frage ihrer Schwiegertochter von vorhin.
„Du sagst immer, ich hätt’ damals reden sollen, Martine, — und ich sag’ immer wieder: ich hab’ eben noch gehofft, du würdest ihn besser machen! Man hofft doch immer bei einem Sohn! Man versucht doch alles ...“
Schon halb an der Türe, fügte sie hinzu: „Und wenn es nicht recht war, glaub mir, Kind: ich bin selber genug gestraft! ... Ich hab’ hier in Seddelin dreissig so glückliche Jahre verbracht ... und nun ... komm, Agnete!“
Die Türe schloss sich hinter den beiden. Gleich darauf sprang Frau von Klützow auf beide Füsse, breitete die Fäuste aus und rief: „Donnerwetter ja ... da wollte ich, ich wär’ ein Mann, um mal in die Wirtschaft hier hereinzufahren! Na ... seien wir vernünftig! Setz dich mal, Martine, und hör zu! Ich muss nämlich morgen früh wieder fort!“
„Nein, Guste ... noch nicht!“
„Muss! ... Ich bitte dich, Schatz: eine Generalstabsfamilie mitten im Umzug. ... Mein Mann in Berlin ... die Kinder bei unsern Eltern, die Möbel unterwegs ... Pferde und Bursche Gott weiss wo — wir schlafen ja schon bald im Möbelwagen ... mit den ewigen Versetzungen! — Ich wär’ in dem Trubel wahrhaftig nicht zu dir herausgekommen, wenn ich nicht einen bestimmten Auftrag gehabt hätte. Ich sitze hier als Abgesandte von Papa. Der war dieser Tage wieder von Wismar in Berlin und hat mich zu sich bestellt und lange mit mir geredet, und lässt dir zum unwiderruflich letzten Mal sagen, du möchtest mit den Kindern zu ihm zurück ...! Wenn dein Kleinstes noch pimplich ist nach dem Scharlach, dann meinetwegen in ein paar Wochen — darauf kommt’s nicht an! Aber ich kann dir nur sagen: Papa hat die Geschichte jetzt dick bis dahin! Er hat auf das entschiedenste erklärt: Wenn du jetzt nicht kämst, dann wolltest du eben dein Schicksal, und dann kümmere er und Mama sich aber auch rein um gar nichts mehr ...“
„Er lässt mich doch gar nicht mit den Kindern fort!“ sagte Martine.
„Dein Mann! Den werden wir lange fragen! ... Was? Die Leute widerspenstig? Keine Pferde? Jesus, was bist du hier schon kleinmütig geworden! Schäme dich! Ein ausgewachsenes Frauenzimmer, wie du, wird doch schliesslich noch mit zwei Kindern am hellichten Tag den Weg bis zur Station finden, wenn dir jemand hilft. Wir sind ja alle bereit!“
Die elegante junge Hauptmannsfrau legte energisch ihre Hand auf die Schulter der andern.
„Ich wag’ es zu sagen, Tine, und sag’ damit auch nichts, was nicht schon jeder Schusterjunge weiss: Dein Mann ist ein Lump! Und bleibt’s! Also Schluss! Man hat doch auch gegen sich selber Pflichten! Und vor allem: du hast Pflichten gegen deine Kinder! Die müssen hier raus! Das ist ja alles hier Gift! Und je älter sie werden, desto mehr! ... Also gib mir ein Versprechen an Papa mit: ‚Ich komme.‘ Er will nur noch vier Wochen warten! Das hat er ausdrücklich gesagt!“
In die Wangen der jungen Frau vor ihr war eine leichte Röte gestiegen. Ihre Augen wurden unruhig. Sie stand auf.
„Ja, nicht wahr?“ sagte sie. „Ich darf doch fort! Ich hab’ das Recht dazu! Ich hab’ meine Pflicht an ihm bis zum Äussersten getan! Es war umsonst!“
„Ganz umsonst.“
„Ich wollt’ seiner Mutter näher kommen! Es geht nicht. Sie ist wie versteinert. Ich wollt’ seiner Schwester was sein. Man kann es nicht. Sie ist geknickt. Ich hab’ ihn mit seinem Bruder versöhnen wollen ... du weisst, ich hab’ mir seinerzeit noch dessen Freund hier herauskommen lassen ...“
„Den Leutnant von Malchow? ... Den hab’ ich erst dieser Tage gesehen! Er steht jetzt in Berlin ...“
„Nun, und es wurde auch nichts! Herr von Malchow war ja ganz vernünftig und nett — aber er sagte gleich: ‚Das ist ganz aussichtslos! Das wollen wir nicht erst versuchen! Der Hass zwischen den Brüdern ist viel zu gross!‘ So kommt’s, dass ich jetzt noch meinen eigenen Schwager nicht kenne! Ich kann hier nichts ausrichten und nichts bessern. Was mach’ ich denn hier! Was bin ich meinem Mann? ... Alles leidet hier an ihm! Alles geht zugrunde! ...