Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann. Jakob Wassermann

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Gesammelte historische Romane von Jakob Wassermann - Jakob Wassermann


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nur, wenn man den inneren Blick von allem Gewußten reinigt, auch von allen schematischen Prägungen, den Verfälschungen der Ideen und Zusammenhänge. Um unbetrogen zu bleiben, müßte man als Wiederauferstandener aus der Geistesstimmung und den Begriffen der Epoche heraus sehen und zugleich über die Zeitferne hinweg das einander Widerstrebende zur Einheit bringen können. Da sich der Ehrgeiz so hoch nicht versteigen darf, hat man sich mit Geringerem zu begnügen, mit dem Versuch der möglichsten Annäherung.

      Wenn heute ein tollkühner Pilot sich entschlösse, nach dem Mars zu fliegen, die Reise auch anträte, auf dem Weg aber einen bisher unbekannten Planeten entdeckte und mit der Kunde von diesem neuen Stern zurückkehrte, von fremdartigen Menschenwesen und nie gesehenen Tieren und Pflanzen Nachricht brächte, die in einer fremdartigen Atmosphäre gedeihen, von Ausmaßen und Größenverhältnissen, die alles, was das Auge bisher gewohnt gewesen, zwerghaft erscheinen ließe, so wäre die Revolution der Menschheitsphantasie ungefähr die nämliche, die damals die Entdeckung des Columbus hervorrief. Denn das und nichts anderes ist es, was sie zunächst bewirkte: Revolution der Phantasie.

      Neue Welt; heute ein geographischer Begriff; dem Menschen vom Ende des fünfzehnten Jahrhunderts ein abergläubisch-religiöser. Kraft eines Zaubers, von dem er noch nicht wußte, ob er gut oder böse war, verschwanden die Wände seines Hauses, des altbewährten Hauses Europa, das er sich nach jahrtausendelangen Plagen halbwegs wohnlich eingerichtet hatte. Unheimlich genug war ihm schon Asien, das dem endlich vertraut gewordenen Besitz anhing wie einem Garten eine gefürchtete Wildnis, mit sehr fernen Lockungen allerdings; Afrika, von dem er, seit Urzeiten, nur die nördlichen Randgebiete kannte, war jenseits dessen, was man zu benennen vermochte, tödliche Wüste und bedrohliche Finsternis. Die Botschaft von neuer Welt erschütterte das Gerüst der alten. Was man vernahm, war schauerlich; ein unendliches Meer, von dem man nichts gewußt, das zu durchfahren die Schiffe Monate unterwegs waren, ohne seine Grenzen zu erreichen; namenlose Völker, die nackt gingen und namenlose Gottheiten verehrten; unzählbare Inseln, unermeßliche Länder mit barbarischen Königen und wilden Sitten: war es nicht einfach Sinnentrug, so war es das Vorzeichen des längst prophezeiten Untergangs der Welt. Die Angst, von der die europäische Menschheit erfaßt wurde, konnte nur aufgehoben werden durch eine ebenso intensive Begierde. Das Wort, das sie auslöste und bis zur Raserei hinauftrieb, hieß: Gold.

      Freilich war der Glaube an den angenommenen Bestand der Welt schon gelockert gewesen. Die Entdeckung war in der Gemütsverfassung des alten Kontinents durch Ahnung wie durch sagenhafte Überlieferung vorbereitet. Die Reisen kühner Missionare und waghalsiger Kaufleute, die Unternehmungen italienischer und portugiesischer Seefahrer hatten sie in traumgleiche Nähe gerückt. Zudem hatte der weitschauende Geist einzelner Forscher denen die Bahn geebnet, die es drängte, Annahme und Erratenes zur Tat zu machen.

      Es scheint immer mehr, daß die ägyptische Sage von der Atlantis, die schon Plato erzählt, keine bloße Fabel war, sondern auf der dunklen Erinnerung an eine gewaltige Erdkatastrophe beruhte. Zweifellos gibt es ein Generationengedächtnis, das den Eindruck großer Ereignisse durch die Jahrtausende trägt und in welchem jene Kraft wurzelt, die die mit ihr begabten Männer befähigt, den Kerker wenn nicht zu öffnen, so doch Schritt für Schritt zu erweitern, worin das menschliche Geschlecht gefangen liegt.

      So rüsteten sich die phönizischen Schiffer zur Fahrt nach der Ultima Thule, die, ob man sie fand oder nicht, letztlich nur ein Symbol der schwebenden Sehnsucht war; so segelten, vom Urinstinkt des Wanderns getrieben, skandinavische Normannen in frühhistorischer Zeit nach den Küsten Neufundlands; so suchten die Araber, die mutigsten Seefahrer des Mittelalters, den Ozean bis zu den Azoren und Kanarischen Inseln nach neuen Ländern ab.

      Doch es war das Chaos, das die weiten Gewässer begrenzte, keine Vermutung konnte da vordringen, eine Art Geisterfurcht lähmte schon die Absicht. Xerif al Edrizi, ein maurischer Schriftsteller, sagt sehr ausdrucksvoll: »Dieses Meer umgibt die letzten Ränder der bewohnten Erde, und alles dahinter ist unbekannt. Niemand war noch imstande, etwas darüber ins Klare zu setzen wegen der schweren und gefahrvollen Schiffahrt, des großen Dunkels, der häufigen Stürme und der gefährlichen Raubfische. Die Wellen, wiewohl sie sich hoch wie Berge türmen, tragen sich, ohne zu bersten, denn bersteten sie, so wäre es den Schiffern gar nicht möglich, sie zu durchfurchen.«

      Aber das Unbekannte lockte ohne Unterlaß und verschlang die Verlockten, Tausende in jedem Jahrhundert. Von wenigen sind die Namen erhalten. Um 1290 verließen die Brüder Vivaldi auf zwei Galeeren den Hafen von Genua, um das unerforschte Afrika zu umschiffen. Sie kamen nicht mehr heim. Alle romanischen Völker nannten die Italiener ihre Lehrer im Seewesen; der Genuese Porsagno war portugiesischer Admiral, der Venezianer Cadomosto erforschte Senegambien. In vergessenen Chroniken geschieht bisweilen solcher unerhörten Fahrt Erwähnung, die das bewundernde Grauen der Zeitgenossen erregte; die mittelbaren Wirkungen zeigten sich, wie vorher bei den Kreuzzügen, in Dichtung und Märchen, die sich in Motiven und ganzen Motivenkreisen vielfach um die abenteuerlichen Reisen bewegten.

      Religiöser Eifer war ein Antrieb, kaufmännischer Handelsgeist ein anderer. Da der Ozean unwegsam blieb und die Nautik noch ohne wissenschaftliche Befehle war, kannte man doch vor dem Jahr 1200 den Kompaß noch nicht, erzwangen sich furchtlose Pioniere den Weg über Syrien und Indien bis zum äußersten Osten Asiens. Um 1250 zogen der Dominikaner Aszelin und der Franziskaner Piano Carpini als Glaubensboten in den Orient. Bis zum Sturz der mongolischen Dynastie im fünfzehnten Jahrhundert bestand eine regelmäßige Verbindung genuesischer und venezianischer Firmen mit China. Einige betrieben sogar auf den Molukken ihre Geschäfte, und da ging es natürlich um praktischere Dinge als um die Verbreitung christlicher Lehre; sie erhandelten Pfeffer, Ingwer, Zimt, Kardamom und Indigo, begehrte und hochbewertete Ware, die schon das Wagnis des Erwerbs teuer machte.

      Ja, es ging um Gewinn, aber nicht allein um Gewinn. Es war da auch ein Stück Romantik im Spiel. Die Zeit brachte den Typus des romantischen Händlers und Kaufmanns hervor, dessen charakteristischeste Verkörperung Marco Polo ist. Die phantasievolle Beschreibung seiner Reise und des jahrzehntelangen Aufenthalts in den Reichen des Groß-Chans gehört zum unveräußerlichen Gut der europäischen Literatur. Das Buch hat, in seiner Weise, eine ebenso tiefe Wirkung geübt wie die Schriften des Aristoteles oder wie Ariosts rasender Roland, es ist in die untersten Schichten des Volks gedrungen, wandernde Erzähler verbreiteten seinen Inhalt bis in das Herz des Kontinents, bis ans nördliche Meer, und Jahrhunderte hindurch hat es wie eine beglückende Fiktion in allen an die Scholle Geketteten wirklichkeitslose, wirklichkeitserlöste Bilder von fremden Ländern und Menschen erzeugt. Die Geschichte kennt nicht viele geistige Ereignisse dieser Art, Defoes Robinson Crusoe war eines.

      Bei der Rückkehr der Poli von ihrer zweiten Reise wollte sie niemand in Venedig erkennen. Sie waren ziemlich entstellt, trugen schmutzige und abgerissene Kleider, und die Verwandten weigerten sich, ihnen ihre eigenen Häuser aufzuschließen. Erst nach Wochen gelang es ihnen, die Freunde zu überzeugen, daß sie die waren, für die sie sich ausgaben. Um jeden noch übriggebliebenen Verdacht zu zerstreuen und zugleich eine feine Rache zu nehmen, veranstalteten sie ein Fest, zu dem sie die vornehmsten Familien der Stadt einluden. Das Haus war prächtig geschmückt, silberne und goldene Gefäße zierten die Tafel, reichgekleidete Diener servierten köstliche Speisen und die edelsten Weine. Die Wirte erschienen zuerst in langen Schleppkleidern aus karmoisin Atlas, dann entfernten sie sich und kamen zum Erstaunen der Gäste in noch schöneren Gewändern aus karmoisin Damast wieder, dies wiederholten sie abermals und zeigten sich in karmoisin Samt. Jedesmal wurden die abgelegten Gewänder zerschnitten und der Stoff unter die Dienerschaft verteilt. Am Schluß des Abends schickten sie alle Diener hinaus, und Marco holte aus dem Nebenzimmer seine schäbigen Reisekleider von grobem Wollenzeug herbei. Als die Damen darüber die Nase rümpften, reichte Marco einer von ihnen, der herzhaftesten, eine Schere und forderte sie auf, den weiten Ärmel, den unsauberen Kragen, den geflickten Gürtel aufzuschneiden. Als die andern sahen, daß aus den geöffneten Stellen Perlen und Edelsteine herausrollten, ließen sie sich nicht mehr bitten; keine Naht blieb unaufgetrennt, denn alles was herausfiel durften sie behalten. Von da an genossen die Polos hohe Achtung, und Marco, der mit so unvergleichlicher Beredsamkeit von den Palästen und Schätzen des Groß-Chans zu erzählen wußte, wobei er mit dem Wort Million äußerst freigebig war, wurde überall der Messer Millioni genannt; sein in der Straße San Chrysostomo


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