In Fesseln. John Galsworthy

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In Fesseln - John Galsworthy


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dazukommen würde. Wer sich mit Statistik auskennt, dem müsste hierbei aufgefallen sein, dass sich die Geburtenrate zusammen mit der Zinsrate verändert hatte.

      Anfang des neunzehnten Jahrhunderts hatte Großvater ›Meister Dosset Forsyte‹ zehn Prozent für sein Geld bekommen, dementsprechend zehn Kinder. Diese zehn, wenn man die vier weglässt, die nicht geheiratet hatten, und Juley, deren Ehemann Septimus Small natürlich quasi sofort verstorben war, hatten im Durchschnitt vier bis fünf Prozent für ihr Geld bekommen und die dementsprechende Zahl an Kindern gezeugt. Diese einundzwanzig Kinder bekamen nun kaum drei Prozent von den Staatsanleihen, in die ihre Väter größtenteils ihre Hinterlassenschaften angelegt hatten, um Erbschaftssteuern zu umgehen, und die sechs von ihnen, die sich fortgepflanzt hatten, hatten siebzehn Kinder oder eben die angemessenen zwei und fünf Sechstel pro Hauptzweig.

      Es gab auch noch andere Gründe für diese gemäßigte Fortpflanzung. Zweifel an ihrer Ertragskraft, ganz natürlich, wo hinreichendes Vermögen garantiert ist, und das Wissen, dass ihre Väter nicht starben, ließen sie vorsichtig sein.

      Hatte man Kinder und kein hohes Einkommen, musste der Standard für Geschmack und Komfort notgedrungen herabgesetzt werden. Was für zwei ausreichte, reichte nicht für vier, und so weiter – da wollte man lieber abwarten und mal sehen, was der Vater tat. Außerdem war es schön, ungehindert Urlaub machen zu können. Anstatt eigene Kinder zu haben, zogen sie es lieber vor, sich auf den Besitz der eigenen Person zu konzentrieren, gemäß der zunehmenden Tendenz des Fin de Siècle, wie es genannt wurde. So ging man wenig Risiko ein und würde sich ein Automobil leisten können. ­Eustace hatte tatsächlich schon eines, doch es hatte ihn schrecklich durchgeschüttelt und ihm dabei einen Eckzahn abgebrochen. Es würde also besser sein, zu warten, bis sie ein wenig sicherer waren. Bis dahin keine Kinder mehr! Selbst der junge Nicholas zog den Schwanz ein und hatte seit knapp drei Jahren seinen sechs Kindern keine weiteren mehr folgen lassen.

      Der Niedergang der Forsytes als Gemeinschaft, oder besser gesagt, ihre Auflösung, wofür all dies symptomatisch war, war noch nicht so weit fortgeschritten, dass es nicht eine Zusammenkunft gegeben hätte, als Roger Forsyte 1899 starb. Es war ein traumhafter Sommer gewesen, und nach ihrem Urlaub im Ausland und am Meer waren sie fast alle wieder zurück in London, als Roger mit einem Anflug seiner alten Originalität plötzlich in seinem Haus in Princes Gardens sein Leben aushauchte. Bei Timothy wurde traurig getuschelt, dass der arme Roger ja beim Essen immer exzentrisch gewesen sei – habe er nicht etwa zum Beispiel deutschen Hammel allen anderen Sorten vorgezogen?

      Wie dem auch sei, seine Beisetzung auf dem Highgate Cemetary war perfekt gewesen, und von ebendieser kommend, machte sich Soames Forsyte fast automatisch auf den Weg zu seinem Onkel ­Timothy in der Bayswater Road.

      Die ›alten Damen‹‒ Tante Juley und Tante Hester – würden gerne hören, wie es gelaufen ist.

      Sein Vater – James – hatte sich mit achtundachtzig der Anstrengung der Beerdigung nicht gewachsen gefühlt, und Timothy selbst war natürlich nicht hingegangen. Nicholas war also der einzige Anwesende der Brüder gewesen. Dennoch waren einige zusammengekommen, und es würde die Tanten Juley und Hester aufmuntern, das zu erfahren. Dieser nette Gedanke war nicht frei von dem unvermeidlichen Verlangen, bei allem, was man tat, auch einen Nutzen für sich selbst zu ziehen, dem Hauptcharakteristikum eines Forsyte und eigentlich aller praktisch denkenden Menschen einer jeden Nation.

      Mit dieser Gewohnheit, Familienangelegenheiten bei Timothy in der Bayswater Road zu besprechen, folgte Soames nur in den Fußstapfen seines Vaters, der stets mindestens einmal die Woche seine Schwestern bei Timothy besucht hatte und erst damit aufgehört hatte, als ihm mit sechsundachtzig die Kraft dafür ausging und er nur noch mit Emily das Haus verlassen konnte. Mit Emily irgendwo hinzugehen machte keinen Sinn, denn wer konnte sich schon wirklich im Beisein der eigenen Frau mit irgendwem unterhalten?

      Wie James in alten Zeiten fand auch Soames fast jeden Sonntag die Zeit, dorthin zu gehen und in dem kleinen Empfangszimmer zu sitzen, das er zur Weihnachtszeit mit seinem unbestrittenen Geschmack ordentlich dekoriert und mit Porzellan ausgestattet hatte, das nicht ganz seinem eigenen anspruchsvollen Geschmack entsprach, und mit mindestens zwei recht fragwürdigen Gemälden der Barbizon-Schule. Er selbst war außerordentlich erfolgreich gewesen mit den Barbizon-Bildern, hatte sich vor einigen Jahren dann mehr auf die Maris-Brüder, die Israels und Mauve konzentriert und hoffte, damit noch besser zu fahren. In dem an der Themse gelegenen Haus in Mapledurham, in dem er nun wohnte, hatte er eine wunderschön bestückte und beleuchtete Galerie, die nur wenigen Londoner Kunsthändlern unbekannt war. Sie diente auch als Sonntagnachmittagsattraktion bei jenen Wochenendpartys, die seine Schwestern, Winifred oder Rachel, hin und wieder für ihn organisierten. Denn obwohl er nur ein schweigsamer Aussteller war, verfehlte seine ruhige, gefasste Bestimmtheit selten ihre Wirkung auf seine Gäste, die wussten, dass sein Ruf nicht auf bloßem ästhetischen Geschmack beruhte, sondern auf seiner Fähigkeit, zukünftige Marktwerte einschätzen zu können.

      Wenn er zu Timothy ging, hatte er fast immer eine kleine Geschichte zu berichten, wie er über einen Händler triumphiert hatte. Und er liebte das stolze Gegirre, mit dem seine Tanten diese Geschichten aufnahmen. An diesem Nachmittag war er jedoch in anderer Stimmung, als er in seinem schicken dunklen Anzug von Rogers Beerdigung kam – er war nicht ganz schwarz gekleidet, denn schließlich war sein Onkel eben doch nur ein Onkel gewesen, und er verabscheute übertriebene Zurschaustellung von Gefühlen. Während er zurückgelehnt in einem Marketerie-Stuhl saß und mit in die Höhe gestreckter Nase von oben herab auf die himmelblauen, mit Goldrahmen zugepflasterten Wände blickte, war er auffallend still. Ob es nun daran lag, dass er auf einer Beerdigung gewesen war, oder nicht, seine typisch Forsyte’schen Gesichtszüge kamen an diesem Nachmittag besonders vorteilhaft zur Geltung – ein konkaves und langes Gesicht mit einem Kiefer, der ohne Fleisch übertrieben gewirkt hätte; insgesamt ein kinnbetontes Gesicht, jedoch alles andere als schlecht aussehend.

      Er hatte mehr denn je das Gefühl, dass alle bei Timothy ein hoffnungslos komischer Haufen waren, und seine Tanten im Herzen in der Mitte des Viktorianischen Zeitalters hängen geblieben waren. Über das einzige Thema, über das er reden wollte – seinen eigenen Stand als Nicht-Geschiedener ‒, konnte man nicht sprechen. Und doch nahm es sein Denken so sehr in Anspruch, dass kein Platz für irgendetwas anderes mehr war. Das war erst seit dem Frühling so. Und ein neues Gefühl war in ihm herangewachsen, das ihn in eine Richtung trieb, die, wie er wusste, bei einem Forsyte von fünfundvierzig Jahren durchaus töricht sein konnte. Er war sich in letzter Zeit immer mehr bewusst geworden, dass er ›vorankam‹.

      Sein Vermögen, das bereits beträchtlich gewesen war, als er die Idee mit dem Haus in Robin Hill gehabt hatte, das letztendlich seine Ehe mit Irene gänzlich ruiniert hatte, war erstaunlich stark angewachsen in den zwölf einsamen Jahren, in denen er sich kaum etwas anderem gewidmet hatte. Er besaß inzwischen weit über einhunderttausend Pfund und er hatte niemanden, dem er es vermachen konnte – kein wirkliches Ziel, für das er weiter ausüben konnte, was seine Religion war. Selbst wenn er seine Bemühungen etwas herunterschrauben würde, Geld heckte Geld, und er hatte das Gefühl, dass es, ehe er sich’s versah, hundertfünfzigtausend sein würden. Soames hatte schon immer eine sehr häusliche, nachwuchsorientierte Seite gehabt. Aufgrund von Hindernissen und Enttäuschungen war sie versteckt geblieben, doch nun, in seinem besten Mannesalter, war sie wieder hervorgekrochen. Durch die Anziehungskraft der unanfechtbaren Schönheit eines Mädchens hatte sie sich in letzter Zeit konkretisiert und gefestigt, sodass er nun regelrecht darin befangen war.

      Und dieses Mädchen war eine Französin, die kaum den Kopf verlieren oder irgendwelche ungesetzlichen Verhältnisse akzeptieren würde. Außerdem gefiel auch Soames selbst diese Vorstellung nicht. Er hatte während jener langen Jahre der unfreiwilligen Ehelosigkeit die schäbige Seite der Sexualität kennengelernt, heimlich, und er hatte immer Abscheu dabei empfunden, denn er war penibel und hatte einen angeborenen Sinn für Recht und Ordnung. Er wollte nichts Anrüchiges mit diesem Mädchen. Eine Heirat in der Botschaft in Paris, ein paar Monate Reisen, und er konnte Annette schön gelöst von einer Vergangenheit mit heimbringen, die in Wahrheit nicht allzu distinguiert war, sie machte nämlich nur die Buchführung für das Restaurant ihrer Mutter in Soho.

      Er würde sie als etwas ganz Neues und Schickes mit heimbringen, mit ihrem französischen Geschmack


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