Reni. Lise Gast
Читать онлайн книгу.Kinder heim, für erholungsbedürftige Kinder, natürlich“, sagte Tante Mumme. „Aber sieh mal, der Onkel Doktor kommt doch hier zu keiner Erholung. Immerfort kommen Leute, auch wenn er das Telefon abstellt ...“
„Ist er etwa schon fort?“ fragte Reni. Ihr ahnte das Schlimmste. Aber Tante Mumme beruhigte sie.
„Nein, nein, Reni, er ißt heute nochmal mit uns, nachher gleich.“
Gottlob. Das wenigstens blieb ihr noch — es war immer so hübsch, wenn sie einmal allein zu dritt aßen, unten im Hof, am Ende eines der langen Tische, mit einem weißen Tischtuch und dem guten Geschirr. Und Tante Mumme kochte dann immer etwas besonders Gutes.
Aber über die schreckliche, vielleicht wochenlange Trennung konnte nicht mal ein Fischfilet mit grünem Salat hinwegtrösten, — Reni verließ die Küche leise und trat hinaus in den Hof. Wie stumm alles war — kein Gekribbel von kleinen Kindern am Sandkasten unter der Henriette, kein Gespritze und Geschrei von den größeren am Planschbecken. Dabei war es so herrlich heiß heute ...
Reni trug ein weißes Kleid mit roten Tupfen, einem roten Gürtel und rotem Kragen. Sie hatte, als sie zur Stadt hinuntergefahren war, ihre Halbschuhe angehabt, sie aber jetzt ausgezogen und im Flur stehen gelassen. Barfußlaufen gehörte hier zum guten Ton, der Onkel Doktor sagte immer, daß viele, viele Krankheiten einfach nicht da wären, wenn die Menschen mehr barfuß liefen. Besonders früh auf der Wiese, wenn sie noch taunaß war — Tautreten nannte man das. Reni war immer sehr dahinter her, daß alles befolgt wurde, was der Onkel Doktor sagte.
Er war so gut und so lustig — und bestimmt ganz einzigartig. Schon oft hatte sie beobachtet, daß Kinder, die neu hier waren und ihren Onkel Doktor nicht kannten, sich fürchteten, wenn es hieß: der Arzt kommt. Sie konnte das nicht verstehen. Niemand war so lieb, so sanft und zärtlich und feinfühlig wie dieser große, dicke Mann mit dem kleinen schwarzen Bärtchen auf der Oberlippe und der schwarzgeränderten Hornbrille. Niemand konnte so herzlich lachen, so wunderbar erzählen, so munter und muntermachend zum Spielen anregen — niemand vermochte so entzückend zu zeichnen, wenn man einmal im Bett lag und sich langweilte. Gewiß, Tante Mumme war auch lieb, wenn sie abends kam, nachsah, ob auch alle Kinder gut zugedeckt waren und keins weinte, weil es nun doch ein bißchen Heimweh bekommen hatte. Aber sie war eben ein bißchen wie das tägliche Brot — man kam nicht ohne sie aus, aber man hatte sie schließlich immer. Der Onkel Doktor dagegen ... Er war wohl noch gar nicht so alt, wie Reni glaubte — jedenfalls viel jünger als Tante Mumme. Tante Mumme hatte schon graue Haare, er nicht ein einziges. Er war ihr „kleiner“ Bruder, wie er manchmal aus Spaß sagte.
Reni war hier im Kinderheim aufgewachsen und ging von hier aus in die Schule in der Stadt, vormittags. Aber die Schule spielte keine allzu große Rolle in ihrem Leben; sie kam ohne Mühe mit, und Schulfreundinnen hatte sie eigentlich keine. Dazu war ihr Leben im Heim viel zu bunt und lebendig — im Heim war sie zu Hause, wie andere Kinder bei ihren Eltern. Warum — sie hatte nie danach gefragt, bis es ihr der Onkel Doktor einmal in einer Pause erzählt hatte — im Winter, als draußen der Schnee stöberte und das Heim so unglaublich still dalag. Da hatte er in seinem Zimmer ein Kaminfeuer gemacht und sie dazu eingeladen, sie ganz allein, denn Tante Mumme war müde und ging lieber ins Bett — „weil Kaminabende ja doch nie ein Ende nehmen!“ Da hatte er ihr erzählt, warum sie immer hier blieb, während die andern Kinder doch stets zu ihren Eltern zurückfuhren, wenn sie sich erholt und rote Backen angefuttert hatten.
Reni hatte auch Eltern, aber ihr Vater war gestorben, als sie noch ganz kleinwinzig gewesen war. Er war sehr jung, als er Renis Mutter heiratete, und er hatte noch keinen richtigen Beruf. Vielmehr, einen hatte er schon, er war Lehrer gewesen, aber er wollte so sehr gern ein Onkel Doktor werden, weil er da vielen Menschen helfen und sie gesund machen könnte, genau so wie er selbst es tat. Die Mutter hatte auch ja dazu gesagt, sie war einverstanden, auch damit, daß sie trotzdem mit dem Heiraten nicht warten wollten, bis der Vater fertig mit dem Studieren war. Ihre Eltern aber, Renis Großeltern also, waren durchaus nicht einverstanden gewesen ...
„Verstehst du das, Reni, ja? Sie sorgten sich um deine Mutter“, sagte der Onkel Doktor und sah in die großaufgerissenen, ernsten Kinderaugen hinein, in denen sich das Feuer spiegelte und Funken darin weckte wie ein Abendhimmel in einem Gebirgssee, „und sie wollten, daß deine Eltern noch warten sollten mit dem Heiraten. Dein Vater sollte erst so viel verdienen, daß er deiner Mutter ein Haus bauen könnte und Möbel kaufen, und eine ganze Herde Kinder satt machen — denn deine Eltern wollten nicht, daß sie nur ein einziges Kind hätten, eins ohne Geschwister, verstehst du. Aber deine Mutter meinte, warten wollte sie nicht, sie wollte lieber mitverdienen und deinem Vater helfen und gleich seine Frau werden.
Viele tapfere Frauen denken und handeln so, aber viele Eltern in ihrer Liebe und Güte sind zu ängstlich dazu, es zu erlauben, denn sie denken, es wird ein zu schweres Leben für ihr Kind. Deine Mutter bekam es auch wirklich schwer, siehst du, denn dein Vater starb, ehe er fertig mit Studieren war, und du warst nun schon auf der Welt und deine Mutter mußte dich ganz allein großziehen.
Deine Großeltern hatten es ihr sogar verboten, hatten ihr gedroht, wenn sie nicht gehorchte, würden sie ihr gar nicht helfen, wenn sie einmal in Not käme. Nun war sie in Not — die Großeltern hätten ihr sicher geholfen, wenn sie zu ihnen gekommen wäre, aber nun wollte sie nicht. Sie ging auf ein Gut und wurde dort Sekretärin, und dich gab sie zu uns, zu Tante Mumme und mir. Sie hatte die Anzeige und das Bild von unserm Heim in einer Zeitschrift gesehen und kam nun und sprach mit Tante Mumme, und Tante Mumme hat dich gern hier aufgenommen, weil sie ja selbst nicht verheiratet ist und keine Kinder hat.“
„Und da gehöre ich nun euch“, sagte Reni befriedigt, als er so weit gekommen war. „Nicht wahr, ich gehöre euch — ich bin nicht so ein Kind wie die andern, die hier bloß für ein paar Wochen zur Erholung sind!“
Der Doktor lachte.
„Nein, so ein Durchgangskind bist du nicht“, bestätigte er und klopfte sie auf die Backen, lachend und vergnügt. Dann aber wurde er wieder ernster.
„Trotzdem gehörst du deiner Mutter, nicht uns“, sagte er freundlich, „wenn wir auch wünschen, du wärst unser Kind.“ Das letzte sagte er leiser und wie zu sich selbst. Reni sah das nicht ein.
„Aber wieso denn? Tante Mumme gibt mir zu essen und macht mir die Kleider, und ...“
„Aber deine Mutter bezahlt das alles“, hielt der Doktor dagegen. „Tante Mumme schreibt alles auf und —“
„Nein, Onkel Doktor“, sagte Reni unbefangen, aber durchaus ihrer Sache sicher, „das macht sie nicht. Sie hat mir neulich erst ein Kleid gemacht, das war aus einem alten von ihr selber.“
Der Doktor lachte, diesmal ein bißchen unsicher.
„Hat sie? Sie soll doch lieber neuen Stoff kaufen, die alte Morchel“, brummte er. „Aber sie denkt immer, sie muß sparen!“
„Und alle ihre alten Bilderbücher hat sie mir geschenkt und ihre Puppen, die sie selbst als Kind gehabt hat. Das macht sie doch mit den andern Kindern nicht — ich glaube, das weißt du nicht so. Ich gehöre doch viel mehr zu euch als zu meiner Mutter. Von ihr habe ich noch gar kein Kleid, und keine Puppe, und nicht mal ein Bilderbuch ...“
„Na, und das große Schaukelpferd zum Beispiel, das du bekamst, als du drei Jahre alt wurdest?“ fragte der Doktor, beinah ärgerlich. Er suchte in seinem Gedächtnis — mein Himmel, man hatte doch weiß Gott genug im Kopf zu behalten. Nun sollte er auch noch wissen, was Frau Jahnecke ihrer Tochter alles Gutes getan hatte ... „Und der Pferdestall mit den vier Boxen nebeneinander, war der nicht großartig? Also: Hat dir Tante Mumme oder ich jemals was so Schönes geschenkt?“
„Nein, der war schön. Schöner als Puppen“, sagte Reni nachgiebig, „aber er war doch nicht von Mutter, ich meine, von ihr von früher her!“
„Gewiß. Das kommt aber wahrscheinlich davon, daß deine Großeltern noch immer böse sind auf deine Mutter, so daß sie nicht zu ihrem alten Spielzeug kann“, erklärte der Doktor. „Du gehörst aber trotzdem deiner Mutter. Wir sind nur froh,