Reni. Lise Gast

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Reni - Lise Gast


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heiratete sie bestimmt.

      Reni liebte am meisten die Tante Thea, die süße Tante Thea, die Turntante, an der aber auch alle andern Kinder immer am meisten hingen. Sie war klein und schlank und so biegsam wie eine Gerte, und es störte bei ihr nicht einmal, daß sie eine Brille trug. Ihre buschigen Haare flogen, wenn sie am Reck die Riesenwelle machte oder wenn sie wie ein Gummiball vom Trampolin wippte. Jetzt im Sommer waren alle Fenster in der Turnhalle heruntergelassen, so daß man dort wie im Freien spielte, wenn man an den Geräten war, und wieviel Bodengymnastik gab es draußen auf dem Hang, nur so zum Zeitvertreib und gar nicht in den „Stunden“!

      Reni war um diese Zeit — wie immer, wenn Neue gekommen waren — so schwer beschäftigt, daß der Vormittag in der Schule eigentlich eine Erholung, ein Ausruhen bedeutete. Zu Hause, also im Heim, kam sie, außer beim Essen, keine Zehntelsekunde zum Sitzen. Die vielen neuen Kläuse und Peters, Lieselotten und Ingen zu behalten fiel ihr, da sie darin Übung hatte, gar nicht schwer; sie wußte auch immer, wohin jedes gehörte. Es gab drei Schlafsäle im Haus, einen für Mädel, einen für Jungen und einen für Kranke. Zuerst verliefen sich die Neuen sämtlich wie auf einem großen Schiff, und Reni mußte den Lotsen spielen. Sie kam die ersten Tage aus einem beständigen Schweinsgalopp nicht heraus.

      Sie selbst hatte ein kleines Zimmer im andern Haus, in dem, das auf der linken Seite vom Hof stand, wo auch Tante Mumme und der Onkel Doktor wohnten. Es war nicht viel anders eingerichtet als ein winziger Schlafsaal, denn Reni wollte vor den andern nichts voraus haben — ein schmaler weißer Schrank stand darin, das Bett, ein Bücherregal — das allerdings war ein Sonderbesitz, aber doch nötig — und ein kleiner runder Tisch am Fenster. Oft wurde sie auch „eingeladen“, wenn sie sich mit einem Mädel besonders angefreundet hatte, und dann durfte sie für eine oder mehrere Nächte mit in einem Schlafsaal schlafen. Tante Mumme war darin großzügig und freundlich, seit Reni etwas größer geworden war. Dann wieder lud Reni die andern ein, zu ihr ins Zimmer zu kommen, und sie bewunderten dann ihre Bücher und Bilder, und erzählten von ihren eigenen Zimmern zu Hause, von ihren Freundinnen und Geschwistern.

      Auf dem Tisch am Fenster stand ein schönes Bild, eine vergrößerte Photographie in einem schmalen, glatten Silberrahmen. Sie zeigt ein junges Mädel im Dirndlkleid und Spenzer, das auf einem großen Stein sitzt und sich gerade den einen derben, hohen Bergstiefel zuschnürt. Und daneben steht, nur im Halbprofil zu sehen, ein junger Mann, der über das Mädel hinweg nach den Bergen guckt, die gleich dahinter aufsteigen. Er ist auch in Trachtenzeug gekleidet, in kurzer Hose und Janker, aber sein Gesicht ist kein Jungengesicht mehr, sondern ernst und ruhig — wie die Berge sind. „Das sind meine Eltern“, sagte dann Reni immer, wenn die fremden Mädel bewundernd davor standen, und jedesmal fühlte sie, wie ein glücklicher Stolz in ihr aufstieg. Die andern hatten Freundinnen und Geschwister, aber solch großartige und wunderschöne Eltern hatte bestimmt keins von ihnen.

      Alle Erholungskinder beneideten Reni stets, daß sie hierbleiben durfte, für immer. Sie fanden das wundervoll und begeisternd — dann konnte sie doch immerfort am Rundlauf turnen und an den so sehr begehrten Ringen schaukeln — und im Schlafsaal ringsum in allen Betten schlafen, wenn sie allein war — sie nickte und lachte. Gerade jetzt war so eine wilde und lustige Liselotte da, die ihr tausenderlei vorschlug, was sie allein hier treiben würde — so als reichten die sechs Wochen, die sie hier wäre, nicht aus.

      „Nein, aber nun müssen wir wieder rüber, die Tante Thea wartet sicher schon“, sagte Reni endlich, „wir haben doch heute nachmittag noch mal freiwilliges Turnen. Und hinterher spielen wir noch ein bißchen Anschlagverstecken im Dustern, wollen wir? An der Henriette ist Anschlag, und ins Haus laufen gibt’s nicht ...“

      „O ja, o ja!“ riefen die andern und liefen hinter ihr her. Am Abend saß sie dann allein in ihrem Stübchen und schrieb einen Bericht an den Onkel Doktor. Er mußte doch alles wissen. Dann fiel sie todmüde ins Bett.

      Es zeigte sich, daß der Onkel Doktor, obwohl er doch beileibe nicht immer da war, doch die Seele des Kinderheims darstellte. Jetzt, wo er verreist war, fehlte er überall. Er hatte natürlich einen Vertreter da, aber der war jung und kannte so einen Betrieb überhaupt nicht, er wurde nur zu Krankheitsfällen gerufen. Und Tante Mumme ging es im Augenblick gar nicht gut, sie war durch die Hitze matt und viel nervöser als sonst. Fast jeden Tag passierte etwas Unvorhergesehenes.

      Vielleicht lag es auch an den Kindern. Es waren dieses Mal besonders wilde und unbändige Exemplare, die zwar gut zusammenpaßten, aber doch mehr Unfug anstellten, als so leicht wieder gutzumachen war. Die Allerwildeste und Allerlustigste war wohl Liselotte, und gerade sie hatte sich mit Reni sehr zusammengetan.

      An einem krachheißen Sonnabend erbarmte sich die Tante Thea, die sah, daß Tante Mumme ein Aufatmen nötig hatte, mitsamt einer andern jungen Helferin und schlug vor, mit allen Kindern einen Ausflug in die Berge zu machen. In die Blaubeeren — da konnte Tante Mumme sich erholen und Kraft sammeln für den Sonntag.

      Die Kinder waren einverstanden, und Tante Mumme versprach ihnen bei ihrer Rückkehr eine große Menge rote Grütze mit Vanillesoße. Es wurde also gepackt, Brote mußten gestrichen und eingewickelt werden, und Reni überwachte wie immer deren Ausgabe und steckte für Liselotte und sich selbst vorsorglich noch zwei zusätzliche Päckchen ein. Schließlich ging es auch wirklich los. In den Bergen war es durchaus erträglich, denn die Bäume hielten die Luft kühl, und Tante Thea wußte herrliche Blaubeerflecke. Sie war ja hier aufgewachsen und kannte das Gebirge wie ihre Tasche.

      Es ging alles glatt wie immer, wenn die junge Turnlehrerin das Kommando hatte. Sie ließ die Kinder sich erst einmal richtig satt tollen, dann jagte sie diese in die Blaubeeren, und gegen Abend sammelte sie alle um sich und erzählte ihnen, während sie ihre Brote aßen, eine lange Geschichte. Das war fast das Allerschönste.

      Alle waren eigentlich ziemlich müde, nur Liselotte blitzte der Übermut noch so richtig aus den Augen. Sie hatte zu Hause nur Brüder und war selbst ein halber Junge. Die andern waren alle ein bißchen klein geworden und wollten nach Hause.

      Nun konnten sie sich aber über den Heimweg nicht recht einigen. Reni und Liselotte behaupteten, sie wüßten einen Abschneider, sie wären erst vor kurzem hier gewesen und dann ganz schnell nach Hause gekommen, durch eine Schneise und dann durch Gebüsch — sie wollten es den andern zeigen. Tante Thea war nicht sehr für Abschneider.

      „Meistens verläuft man sich und muß dann erst recht lange laufen und suchen, bis man die richtige Straße wieder hat“, sagte sie aus Erfahrung. Reni aber lachte.

      „Ich kenn den Weg schon!“

      „Dann gehen wir ihn alleine — und zu Hause helfen wir die Tische decken, damit ihr gleich losessen könnt, wenn ihr heimkommt“, schlug Liselotte vor. Tante Thea lachte.

      „Oder ihr verlauft euch und kommt erst spät an, hungrig und durstig, und wir haben euch alles weggegessen.“

      „Jaja!“ Die andern lachten und jubelten.

      „Wir finden aber wirklich — wollen wir wetten? Wir sind bestimmt eher da als ihr!“ beteuerte Reni, und nun waren die andern dafür, daß die Wette gelten sollte. Die beiden konnten ja ruhig mal sehen, wie sie allein durchkamen, und waren sie erst später daheim, so bekamen sie nichts von der ersehnten roten Grütze, auf die sich alle schon mächtig freuten. Damit sie sich endlich einmal ihre Großsprechereien abgewöhnten, jawohl!

      „Wer spricht denn hier groß?“ lachte Liselotte, die immer das letzte Wort behielt. „Ich etwa?“

      Tante Thea hatte Reni zugeblinzelt. Sie mochte die kecke und selbstbewußte Liselotte gern und flüsterte deshalb mit Reni. Ob sie den Weg wirklich sicher wüßte? Ja? Dann sollten sie doch die Wette ruhig abschließen, aber gewinnen müßten sie diese. Reni nickte mit glänzenden Augen. Sie war ihrer Sache sicher.

      So trabten sie also, nachdem noch einmal alles genau besprochen worden war, allein los, Reni und Liselotte, während die andern, die nun darauf brannten, loszugehen, den richtigen, markierten Weg einschlugen, den sie auch hinzu gegangen waren. Reni konnte Liselotte kaum folgen, sie sprangen über eine Lichtung, zwängten sich dann durch Gebüsch und rannten, als gälte es ihr Leben.

      Reni


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