Reni. Lise Gast
Читать онлайн книгу.Ende gesehen. Erika konnte gar nicht so schnell folgen. Aber Erika hatte auch Schuhe an.
Erika durfte so vieles nicht. Nicht barfuß gehen, nicht im Luftkittel laufen, nicht im Bach waten und erst recht nicht schwimmen gehen, wenn es ihr paßte. Sie hatte zwar Schwimmen gelernt, aber das nützte ja nicht viel, wenn man nicht ins Wasser durfte.
„Wart ihr wieder bei den Fohlen?“ fragte die Mutter.
Reni nickte:
„Aber bloß geguckt!“
Sie sprach die Wahrheit. Gerade, als sie wieder ihr Lieblingsspiel mit den jungen Pferden beginnen wollte — rechts und links eins an der Mähne fassen und dann heidi los über die Koppel! — hatte sie Mutter gesehen und war zu ihr hingelaufen, ohne Fohlen. So konnte sie Mutters fragenden Augen ehrlich standhalten.
Mutter hätte ihr das Fohlenrennen auch nicht verboten. Aber Frau Niethammer hatte Angst, wenn Erika es tat, ein Fohlen könnte sie treten oder über sie weglaufen oder so etwas. Dabei gehen doch Pferde nie über Menschen, daß weiß jeder ...
„Ihr könnt in die Mühle fahren, ein paar Zentner Äpfel abholen, mit dem Dogcart. Seid aber pünktlich zum Essen wieder da!“
Die letzte Ermahnung war unnötig. Reni war vom Heim her an genaueste Pünktlichkeit gewöhnt, denn dort ging es ja einfach nicht, wenn jeder zu den Mahlzeiten kam, wann es ihm gerade paßte. „Komm, Erika!“ rief sie und winkte der Mutter zu. Allein mit dem Pferd zu fahren gehörte zum Allerschönsten, was es gab.
Es war schon eingespannt, die alte, dicke Jule, die bestimmt keine Dummheiten mehr machte. Herr Niethammer stand dabei und ermahnte die Mädel noch ohne Ende, vorsichtig und verständig zu sein. Reni nickte und versprach, sie würde bestimmt auf Erika gut achtgeben. Dann nahm sie die Zügel.
Es war heiß, und die Jule nahm sich Zeit. Trotzdem fand es Reni herrlich, zu kutschieren. Sie fuhren den Wiesenweg nach der Mühle, und als sich der Bach ein bißchen der Straße näherte — er lief an sich in Windungen durch die Wiesen — meinte sie, sie könnten sich doch rasch ein wenig abkühlen. Niemand war zu sehen, so hatte auch Erika keine Bedenken, und gleich darauf platschten sie in den Bach hinein. Oh, es war herrlich, das kühle Wasser um die Beine zu spüren bei dieser Backofenglut!
„Aber die Jule muß auch was davon haben, sie hat sicher Durst“, sagte Reni eifrig, „warte, ich spann’ sie aus, mit dem Wagen kommen wir nicht rüber!“
Sie lief, nur mit dem Schlüpfer bekleidet, den sie als Badehose anbehalten hatte, zum Dogcart zurück und befreite die Jule von ihrem Geschirr. Nur den Zaum ließ sie ihr, womöglich bekam sie sonst die Trense nicht wieder in das Pferdemaul hinein. Die langen Zügel wickelte sie zusammen, wollte dann das Pferd hinüberführen, besann sich aber eines anderen. Sie schob und drückte es neben den Wagen, kletterte auf diesen hinauf und ließ sich auf den Pferderücken hinübergleiten.
„Los, Jule!“ rief sie und schnalzte mit der Zunge, und als das nichts half, puffte sie dem Pferd tüchtig mit den Fersen in die Seiten. Wirklich, die Jule setzte sich in Bewegung, Erika schrie vor Schrekken und Begeisterung, als sie Reni so angeritten kommen sah.
„Fein! Nachher komm ich dran, ja?“
„Erst muß die Jule aber trinken“, bestimmte Reni und trieb das Pferd an den Bach heran. Dann rutschte sie herunter. Die Jule trank, und Reni sah ihr andachtsvoll zu. „So, jetzt kannst du mal!“
„Wie komm ich denn rauf?“ fragte Erika zweifelnd.
„Hier! Tritt hier rein!“ befahl Reni eifrig und hielt ihr die verschlungenen Hände hin. Erika war etwas zaghaft, aber Reni ermunterte sie energisch. „Los, los, gleich bist du oben!“ Sie behielt vorsichtshalber die Zügel in der Hand und führte das Pferd; aber Erika fand es auch so wunderschön.
„Nun müssen wir aber wieder einspannnen“, sagte Reni schließlich. Erika rutschte, halb bedauernd, halb erleichtert, daß alles gut abgelaufen war, wieder herunter, und nun machten sie sich daran, wieder anzuspannen. Das war gar nicht so einfach. Alles will gelernt sein. Als sie schließlich so weit waren, daß sie meinten, sie könnten abfahren, rutschte beim Anziehen des Pferdes das ganze Gurtzeug nach hinten. Sie hatten vergessen, den Bauchgurt richtig festzuziehen. Reni sprang schnell vom Wagen und holte es nach. Nun ging es.
In der Mühle mußten sie erst eine Weile warten, weil die Müllersfrau gerade Wäsche aufhängte.„Ihr bekommt die Äpfel gleich! Kostet nur erst mal!“ sagte sie freundlich und warf ihnen einige zu. Das war nicht dumm. Sie setzten sich an den Rand der Wiese und aßen, bis die Frau fertig war. Dann wurde der Korb Äpfel umständlich geholt, gewogen, verstaut, ein Sack dazu — es war dreiviertel zwölf, als sie losfuhren. Reni sah es am Uhrtürmchen der Mühle und erschrak.
„Wir müssen schnell machen, Mutter sagte extra ...“ meinte sie und versuchte, Jule zu einem gelinden Trab zu bewegen. Aber die Jule machte nicht mit. Sie ging Schritt, soviel sie auch mit dem Zügel auf ihr dickes Hinterteil klatschten. Eine Peitsche hatten sie nicht mit und hätten sie auch nicht benutzt. Sie hatten eben vorhin zuviel Zeit vertrödelt, und nun kamen sie sicher zu spät.
„Zu Fuß wären wir schnell zu Haus“, sagte Erika, „wenn man dort drüben durch den Bach geht und quer über die große Wiese — hier macht der Weg einen großen Bogen und wir müssen dann noch durchs ganze Dorf. Dortherum kämen wir sofort ins Gut hinein!“
„Da fahren wir eben so, wenn dort eine Furt ist“, sagte Reni und bog sogleich in den Seitenweg ein.
„Wenn die Jule nur durchgeht“, meinte Erika bedenklich, aber Reni hatte keine Sorge. Warum denn nicht!
Es stellte sich jedoch heraus, daß Erika doch besser Bescheid wußte, wenigstens manchmal. Kaum war die Jule bis zu den Fesseln im Bach, als sie stehen blieb, es schien ihr darin sehr zu behagen. Das kühle Wasser an den heißen, müden Füßen — mochten die beiden Mädel da hinten Hü! und Hott! rufen, soviel sie wollten.
Sie riefen ausgiebig. Dann sprang Reni vom Wagen und watete vor, faßte die Jule am Zaum. „Los, du alte faule Schatulle!“ schimpfte sie, aber es war ein Stück Arbeit, das große schwere Pferd zum Anziehen zu bringen. Und mehr als ein Anziehen wurde es auch nicht, der Wagen stand ja im Bach und die Räder waren bereits vom Sand überspült, so daß es sicher schwer ging, den Wagen zu bewegen. Mit jeder Minute schwerer ...
Reni zog, schrie und schimpfte. Nach einer Weile kam auch Erika dazu, aber es war nichts zu machen. Der Wagen versandete immer weiter, und die Jule stand wie ein Block. Dabei wurde es immer später.
Schließlich wurde ihnen klar, daß sie allein, ohne Hilfe, hier nichts ausrichten würden. Also los, einer mußte sich entschließen, einen Erwachsenen zu holen.
„Willst du laufen oder soll ich?“ fragte Reni. Erika sah so bedenklich drein, daß Reni gleich hinzufüge: „Bleib mal, ich geh schon, ich hab’s ja schließlich auch angezettelt.“
Sie rannte los. Kaum war sie in den Gutshof gekommen, da sah sie schon Frau Niethammer stehen, die nach der andern, der Dorfseite zu, ausspähte, bestimmt nach ihnen.
Sie huschte ungesehen von ihr ins Haus, suchte die Mutter. Zum Glück war sie in ihrem Zimmer.
„Ihr dummen Mädel!“ schalt sie erschrocken. „Wenn das Frau Niethammer erfährt! Dann läßt sie euch doch nie mehr allein fort. Na, wollen mal sehen, ob wir ihr den Schreck ersparen können.“
Es gelang ihnen tatsächlich, ein zweites, angeschirrtes Pferd abzufangen, das gerade von draußen kam. Mit ihm trabten sie zur Furt. Reni war schon wieder ganz getröstet, seit Mutter sich ihrer angenommen hatte, und genoß den kurzen Ritt. Mutter machte eins, zwei, drei den Retter. Sie spannte das Pferd vor die Jule, Frau Jahnecke nahm es am Zaum, und mit Holla Hopp! ruckte der Wagen an. Gott sei Dank, er ruckte nicht nur, sondern kam ganz heraus. Und nun zog ihn die Jule brav allein nach Hause.
Sie hatten das ganz große und unverdiente Glück, in den Hof zu kommen, ohne daß jemand sie sah. Frau Niethammer war inzwischen in der Unruhe ihres Herzens die Dorfstraße ein Stück hinuntergegangen.