Reni. Lise Gast

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Reni - Lise Gast


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wärst, könntest du das nicht verstehen. Aber so! Und Leute erschrecken soll man nie, das ist genau wie bei Pferden. Ein Schreck kann fürs Leben schaden ...“

      Gottlob, daß sie bei den Pferden angelangt ist, dachte Reni ein klein bißchen erleichtert. Wenn Mutter auf dieses Thema kam, wurde sie sanfter, das wußte sie aus Erfahrung, schon weil man eben mit Pferden immer sanft sein muß. Trotzdem mußte sich Reni noch eine ganze Weile anhören, wie ein Schreck auf dieses oder jenes Pferd schädlich gewirkt hatte. Sie schlief schließlich darüber ein, ohne Absicht, sie war sehr müde ... Mutter merkte es erst viel später. Sie seufzte. Es war nicht so leicht, eine kleine Tochter bei sich und doch nicht genug Zeit für sie zu haben.

      Neues vom alten Doktor Schon wieder geht etwas schief

      In der Frühstückspause — Fräulein Sonneson war von ihren Ferien zurückgekehrt und unterrichtete die Mädel jetzt wieder — lief Reni ins Büro hinunter. „Sicher ist ein Brief für mich da“, hatte sie Erika zugerufen. Gleich darauf erschien sie wieder, einen weißen Umschlag schwenkend. „Ich hab’s ja gewußt! Hurra!“

      Erst aber suchte sie sich doch noch mit genießerischer Ruhe eins von den Broten vom Teller, der immer, wunderbar in seiner verschwenderischen Auswahl, den Studierenden aus der Küche heraufgeschickt wurde. Katri, das Küchenmädel, machte ihn täglich fertig, und bei ihr hatten die Mädel „Stand“. Außer den Brotschnitten bekamen sie auch noch herrlich kalte Milch oder Buttermilch, manchmal auch, wenn es kühler war, eine Tasse Fleischbrühe. Fräulein Sonneson ging mit ihrem Frühstück meist auf den Balkon hinaus, während die Mädel im Lernzimmer blieben. Das Lernzimmer war überhaupt so gemütlich, mit dem großen Tisch und der niedrigen Decke und den vielen Bücherregalen ringsum.

      Reni schlitzte den Brief mit dem Löffelstiel auf, gab Erika einen Zettel, der für sie eingelegt war — der Onkel Doktor dankte ihr für den schönen Brief, den sie unbekannterweise geschrieben hatte — und hockte sich dann mit dem ihren ans Fenster. Sie las, während sie aß, bald aber vergaß sie, zu beißen und zu kauen, Erika sah es deutlich. Sie wurde unruhig, mochte aber nicht fragen. Was hatte Reni denn? Reni las:

      „Liebe Reni! Dein liebevoller Brief mit dem zweifellos vollendet gelungenen Portrait meiner schönen Figur auf der letzten Seite —“ Reni wußte erst gar nicht, was er meinte, bis sie sich an ihren verschönten Klecks erinnerte und lachen mußte — „hat mein Herz erwärmt. Trotzdem mußte ich ein bißchen weinen. Nicht in Wirklichkeit — sei beruhigt — aber im Innern. Ich erfuhr es schon durch Tante Mumme, daß der Vogel ausgeflogen sei. Treulose Du! Wer soll mir denn von nun an die Sorgenfalten von der Stirn streicheln, wie Du das bisher mit Deiner schlohengelweißen Hand so erfolgreich besorgtest? Hast Du denn gar nicht an Dein vornehmstes Amt gedacht???

      Ich werde also von jetzt an rettungs- und hemmungslos verrunzeln. Nun, sei es drum, wenn Du nur glücklich bist! So sagt jeder, der seinen Nächsten mehr liebt als sich selbst. Bist Du glücklich? Wenn nicht, werde ich Dir postwendend Deinen besten Teil versohlen. Ein Kind, das endlich bei seiner Mutter gelandet ist, hat glücklich zu sein, verstanden?

      Liebe kleine Reni, in Deinem Leben hat sich so ganz plötzlich viel geändert, in meinem tut es das auch. Ich wollte Dir das alles mündlich erklären, alles erzählen, wenn ich wiederkomme und wir am Kamin sitzen, und nun bist Du fort, so muß ich es also schreiben. Sicher weißt Du nicht, daß ich, ehe ich zu Tante Mumme ins Haus zog, verheiratet war, wir haben nie davon gesprochen. Meine Frau war sehr anders als ich und langweilte sich oft, weil ich immer und immer zu tun hatte und fortgeholt wurde. Da haben wir uns dann getrennt, schon vor vielen Jahren. Jetzt ist sie gestorben. Ich gehöre ja nun schon so lange dem Heim und Euch, Ihr kleinen, frechen, ungezogenen und geliebten Kerle, daß ich wohl traurig, aber nicht untröstlich bin wie vielleicht ein anderer Mann, dem die Frau genommen wird. Es ist etwas anderes, sehr Wichtiges, was sich nun in meinem Leben ändert: wir haben nämlich einen Sohn, einen großen Jungen, der bisher bei der Mutter war und nun zu mir kommen wird. Er ist schon fünfzehn Jahre alt, der Christian, und mir doch noch ganz fremd. Den will ich nun ins Heim nehmen, und da habe ich an sich mit Dir gerechnet und mit Deinem Beistand, kleine, liebe Reni, daß Du ihn liebgewinnen und ihm eine recht gute, tapfere kleine Freundin werden würdest.

      Damit ist es nun nichts. Und jedes Kind gehört nun einmal zu seiner Mutter oder seinem Vater. Und Tante Mumme wird auch lieb zu Christian sein. Aber vielleicht schreibst Du ihm auch mal einen solch lieben und lustigen Brief wie mir neulich? Ich bin, offen gestanden, ein bißchen bange, wie er sich bei uns einrichtet. Wenn Du da wärst, wär das leichter.

      Nun sieh zu, daß Du Deiner kleinen neuen Freundin ein rechter guter Kamerad durch dick und dünn wirst! Weißt Du, es kommt viel mehr darauf an, daß man Freude bringt, als daß man selbst welche erfährt. Und Erika braucht wohl eine Freundir, wie mir scheint. Daß Du Deine Mutter liebhaben und ihr keinen Kummer machen wirst, nehme ich selbstverständlich an. Grüße sie, an Erika liegt ein Zettel bei. Aber vergiß auch nicht und behalte fest in Deinem Herzen Deinen alten Doktoronkel.“

      „Reni, was ist?“ fragte Erika scheu, als Reni sich gar nicht rührte. Sie hatte beide Hände in die Backen gestützt und die Ellenbogen aufgestemmt, so saß sie und starrte auf den Brief herunter. Schon viele Minuten ... Sie mußte doch fertig sein mit dem Lesen, oder?

      „Ja“, sagte sie jetzt auffahrend, und Erika konnte ihr Gesicht erkennen — Tränen waren das nicht. Oder noch nicht? Auf jeden Fall sah Reni ganz verändert und sehr ernst aus.

      „Geht es, ich meine, ist der Onkel Doktor vielleicht kränker geworden?“ fragte Erika, „oder hat er sonst was Trauriges geschrieben?“

      „Traurig — nein, doch, ja, seine Frau ist gestorben. Aber sie war schon lange von ihm fort“, sagte Reni verwirrt. Dann kniffte sie den Brief hastig wieder zusammen, schob ihn in den Umschlag zurück und steckte ihn ins Lesebuch. „Fräulein Sonneson muß doch gleich wieder kommen, Frühstück ist wohl längst vorbei, oder nicht?“

      „Aber du hast doch noch gar nichts gegessen“, sagte Erika ängstlich, „willst du nicht ...“

      „Nein, danke ich hab’ keinen Hunger“, sagte Reni und schob den Teller mit den Broten fort, „auch keinen Durst, nein, danke wirklich. Was haben wir jetzt? Erdkunde?“

      „Nein, Rechnen. Du weißt doch, die Aufgaben mit Prozent, die schweren ...“

      „Ach ja.“ Reni beugte sich neben Erika über das Heft, und Erika sagte auch nichts mehr.

      Am Nachmittag hatten sie die Erlaubnis bekommen, schwimmen zu gehen. Fräulein Sonneson wollte mitgehen — Mutter hatte keine Zeit. Es wäre natürlich viel schöner und lustiger gewesen, wenn Mutter mitgegangen wäre. Reni war ein bißchen verbockt, daß sie es nicht tat — sie sah nicht ein, daß Mutter sich nicht einmal eine Stunde für sie freimachen konnte. Schließlich saß sie doch abends nach Feierabend auch noch über den Gutsbüchern. Aus einem gewissen Trotz heraus hatte sie ihr deshalb auch noch nichts von dem Brief des Doktors erzählt ...

      Der Fluß machte an der Stelle, an der der Mühlgraben abgeleitet wurde, eine Wendung, dadurch war er dort breiter und tiefer und ganz ruhig — auf der einen Seite fiel er über das Wehr hinunter, auf der andern schoß der schmale und reißende Mühlgraben in sein Bett. Bis dahin durfte man natürlich nicht schwimmen, denn da war die Strömung zu stark, aber ein Stück oberhalb war es herrlich und auch ganz ungefährlich. Man konnte sogar hineinspringen, mit einem flachen Hecht, der Grund war so weich und schlammig, daß es scheußlich war, hineinzugehen. Reni war glücklich, daß sie endlich wieder einmal schwimmen konnte, und tobte und lachte und schrie, und Erika ließ sich von ihr anstecken. Fräulein Sonneson hatte sich in den Schatten der am Ufer stehenden Weidenbüsche gesetzt und ließ die Mädel nicht aus den Augen, aber sie schalt weder, noch war sie überängstlich. So richtig beruhigt waren die beiden aber erst, als sie sahen, daß sie eine weiße Häkelei auspackte. Nun war sie untergebracht.

      Weiter oberhalb lag ein Boot angekettet, das war natürlich eine willkommene Entdeckung. Es war alt, stand spannenhoch voll Wasser und man konnte es auch nicht losmachen, aber in dem Halbkreis, den die Kette zuließ, konnte man doch schön kahnfahren. Reni


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