Reni. Lise Gast
Читать онлайн книгу.— „... wir müssen mehr nach links und einfach bergab“, meinte Reni. Liselotte nickte, sie kämpften sich durch Brombeerranken und Unterholz und kamen dann auf eine ihnen völlig fremde Straße. Dann aber erkannte Reni eine Bank, die etwas unterhalb durch die Bäume schimmerte, und von neuem rannten sie los. Hopphopp — wirklich, sie hatten die richtige Richtung, und nach einer Viertelstunde trabten sie, schweißnaß und atemlos, im Heimhof ein, der noch — Gott Lob und Dank und Hurra! — leer war.
Erschöpft ließen sie sich auf eine der eingerammten Bänke fallen und schnappten erst mal nach Luft. Tante Mumme war nicht zu sehen, alles war noch friedlich und still. „Wir hopsen ins Planschbecken!“ schlug Liselotte vor, aber das fand nun Reni doch zu unvernünftig.
„Nein, weißt du, das darf man nicht, so erhitzt ins kalte Wasser, aber duschen gehen wir, lauwarm duschen, das erfrischt auch herrlich!“
Sie taten es. Es war wunderbar, im Duschraum nackt herumzuspringen und sich zu spritzen, soviel man wollte, dann zogen sie ihre Luftkittel an und sahen sich nach neuen Taten um. Es war so schön, das Feld einmal ganz für sich allein zu haben.
„Wir haben doch versprochen, die Tische zu decken“, erinnerte sich Reni. Liselotte machte ein saures Gesicht, gab aber dann nach. „Wir wollen nur erst mal sehen, ob es wirklich rote Grütze gibt“, meinte sie, „sonst decken wir womöglich falsche Teller.“ Sie liefen in die Wirtschaftsküche und riefen nach den Mädeln, aber durch irgend einen Zufall fanden sie niemanden.
„Komm, wir gucken selbst nach“, flüsterte Reni und zog Liselotte, die mit den Örtlichkeiten nicht so vertraut war, an der Hand mit sich. Ein großer, heller, luftiger Keller, der die „Verwaltung“ hieß, öffnete sich vor ihnen. Hier standen ganze Regale voller Weckgläser, Flaschen mit Obstsaft, die man kaum zählen konnte, und auf dem Fußboden, auf Stroh aufgestapelt, Unmengen von Blechbüchsen. Die Hurden, auf denen winters die Äpfel lagerten, waren leider leer.
„Aber siehst du, hier — es stimmt schon!“ jubelte Reni auf. Liselotte huschte hinter ihr her in den zweiten Keller: da standen auf einem Tisch im Dämmerlicht viele breite und große Schüsseln mit der dunkelroten, durchsichtigen Wabbelspeise, die niemand so herrlich und würzig kochte wie Tante Mumme. Und auf der Erde stand ein großer brauner Steintopf mit Vanillesoße. Die war gelb von Eiern und hatte oben eine wunderbare, runzlige, dicke, appetitliche Haut darauf. So schrecklich Milchhaut für die meisten Kinder ist, so gern mögen sie meistens Kakao- oder Vanillesoßenpelle. Liselotte jedenfalls sagte, sie äße sie schrecklich gern, und Reni nickte mit glänzenden Augen.
„Die Küchenmädel machen sie bloß immer kaputt, sie zerquirlen sie, ehe die Soße ausgegeben wird“, sagte sie bedauernd.
„Ja? Da essen wir sie runter!“ juchzte Liselotte leise. „Wenn sie doch nicht mit auf den Tisch kommt ...“ „Aber wie?“ Reni sah sie bedenklich an. Vielleicht fragte doch jemand danach, und ...
„Mit den Fingern!“ schlug Liselotte vor, dann aber sahen sie ihre Hände doch zögernd an. Beim Duschen war zwar manches abgegangen, aber das Blaubeersuchen den ganzen Tag über hatte sie doch so gefärbt, daß man unmöglich damit in den Topf langen konnte. Aber vielleicht war hier irgendwo ein Löffel?
Sie suchten umher, schoben ein paar Schubladen auf und zu und horchten immer wieder hinaus, ob auch niemand käme. Endlich rief Liselotte triumphierend: „Hier!“
Sie hatte auf dem Fensterbrett einen hölzernen Rührlöffel entdeckt. Eins zwei drei fuhr sie damit in den Topf und angelte nach der begehrten kühlen, süßen Haut, Reni drängte sich neben sie, und sie schleckten und leckten. Ah, wunderbar — dort schwamm noch ein Stück — da hörte man draußen einen Schritt. Erschrocken richteten sie sich auf, wollten fort, Liselotte blieb am Topfhenkel hängen — bauz! — ein großer gelber See auf der Erde, die ganze Soße lief davon. Die beiden Mädel standen wie erstarrt.
„Liselotte!“ — „Renil“
Die Schritte gingen vorbei. Aber damit war ja nichts geholfen ...
„Wir gehen gleich zu Tante Mumme“, sagte Reni dann zaghaft, ohne große Überzeugung, „oh, was wird sie sagen!“
„Wo sie doch auch noch krank ist!“ flüsterte Liselotte bedrückt. „Wir sagen lieber gar nichts — niemand hat uns doch gesehen!“
„Aber ausgegossen ist sie doch ...“
„Dann war es eben Mohrchen, wie neulich —.“ Vor zwei Tagen hatte der schwarze Kater, der im Heim lebte und von allen Kindern heiß geliebt wurde, etwas Wurst stibitzt. Tante Mumme hatte sehr gescholten, aber alle hatten flehentlich gebeten, Mohrchen nicht zu hauen. Sie wollten auch gern ihre Butterbrote „ohne“ essen. Reni war den Tränen nahe. „Ich mag nicht lügen!“
„Aber wir lügen doch nicht! Wir warten bloß ab — wenn uns jemand fragt, können wir immer noch die Wahrheit sagen!“
Sie horchten nach draußen. Liselotte faßte Renis Hand. „Los!“
Wirklich kamen sie ungesehen aus der Verwaltung und dem Wirtschaftsgebäude heraus. Reni dachte, das wäre vielleicht ein Zeichen, daß sie tatsächlich nichts sagen und Tante Mumme den Kummer ersparen sollten ... Die Soße war hin, so oder so, aber Tante Mumme war bestimmt viel ärgerlicher, wenn sie erfuhr, daß sie es gewesen war. Wenn Mohrchen es war, war es eben ein Küchenpech, weiter nichts. Bei ihnen aber war es eine richtige Ungezogenheit — sie bekamen so gutes Essen im Heim, daß Naschen wirklich häßlich war. Sie tat es sonst auch nie ...
Während sie noch, mit widerstrebendem Gefühl, neben Liselotte herlief, ertönte von der Liegewiese her „Huhu!“ und „Hallo!“ herunter, und die andern kamen im Rudel herabgerannt. Mit ihnen Tante Thea, lachend und fröhlich.
„Also habt ihr doch gewonnen! Aber lange könnt ihr noch nicht da sein!“ rief es durcheinander.
„Warum denn nicht?“ fragte Liselotte streitbar.
„Weil ihr noch keine Tische gedeckt habt, ätsch!“
„Ach, aber wir haben lange geduscht — und uns umgezogen ...“
„Aber Tischdecken gehörte auch mit zur Wette“, ereiferten sich die andern, die nicht zugeben wollten, daß sie verloren hatten. Es war ein lautes Hin und Her, das Tante Thea beendete, indem sie ihre Schützlinge in den Duschraum trieb. „Nun aber fix!“
Reni hatte im Augenblick ihr Unglück vergessen gehabt. Jetzt fiel es ihr wieder ein.
„Ich geh doch zu Tante Mumme“, dachte sie und sah sich nach Liselotte um. Die war nicht zu sehen ...
Da hörte sie hinter sich ihren Namen rufen. Sie fuhr herum —
„Reni! Hörst du denn nicht?“ Das war doch Mutters Stimme! Reni wirbelte herum, rannte, daß ihre Beine flogen, und gleich darauf hing sie an Mutters Hals.
Am Abend saßen sie bei Tante Mumme, Frau Jahnecke und Reni, und unterhielten sich. Tante Mumme war sehr betrübt, daß Reni fort sollte, aber sie sprach eigentlich nicht dagegen.
„Es ist zu viel, Frau Jahnecke, ich schaff’ es nicht mehr“, seufzte sie bekümmert, „ich werde alt! Am meisten merk’ ich es, wenn mein Bruder nicht da ist. Mit ihm zusammen, ja, da mag es noch gehen, aber allein ... Ich kann mich um das Kind nicht mehr richtig kümmern, neben dem ganzen Betrieb hier. Dabei täte ich es so gern! Ach, es ist hart, alt zu werden. Ich täte so gern noch ein paar Jahre mit! Aber ich versage, ganz und gar!“
„Aber Tante Mumme, Sie versagen doch nicht!“ tröstete Frau Jahnecke herzlich und legte ihre Hand liebkosend auf den Arm der alten Dame. „Es ist doch alles so schön in Schuß hier!“
„Nein, gar nicht“, widersprach Tante Mumme bedrückt, „ich bin nicht mehr die, die ich war. Heute erst — da hab’ ich doch gesagt, es sollte Vanillesoße geben, den Kindern hab’ ich’s versprochen und den Küchenmädeln hab’ ich es auch gesagt, bestimmt. Aber die — zu faul, welche zu kochen, oder hatten sie es verhört — bringen einfach Milch statt dessen auf den Tisch.